Es ist schon ein Kreuz mit der Vergangenheit, besonders mit der gerade erst Vergangenen. Was soll man mit ihr tun? Ruhen lassen? Preisen? Oder sie (selbst-)kritisch noch einmal anschauen? Das betrifft naturgemäß ebenso die Literatur-Geschichte, und hier wie dort gilt: Wer das Gefühl hat, in ihrem Fortgang etwas eingebüßt zu haben, sieht Vergangenes leicht überlebensgroß. Sieht ein anderer dieselbe Sache anders, wird es schwierig.
Ein historischer Stoff, an dem die Geister sich gut scheiden können, ist etwa die "Literatur vom Prenzlauer Berg". Während der achtziger Jahre bunt schillerndes Symptom einer Lebensstil-Revolte in den Abbruchhäusern der Hauptstadt der DDR, wurde sie Anfang der neunziger zum Fokus der sogenannten Stasi-Debatten in der frisch vereinigten Gesamtrepublik. Dazwischen ereignete sich, seit Mitte der achtziger Jahre, der allmähliche innere Niedergang der Künstlerbewegung, die mit der "Wende" dann auch äußerlich ihr Ende fand. "Spätdadaistische Gartenzwerge mit Bleistift und Pinsel" hat Wolf Biermann die damals jungen Wilden hämisch genannt, nachdem unleugbar geworden war, dass da in Gestalt von Sascha Anderson und Rainer Schedlinski auch eine äußerst aktive Stasi-connection mitgespielt hatte. Wenige Jahre zuvor aber waren die sinnzertrümmernden DDR-Dichter noch der dernier cri im Westen gewesen.
1985 war in der Bundesrepublik eine Anthologie unter dem Titel Berührung ist nur eine Randerscheinung erschienen, Elke Erb und Sascha Anderson waren die Herausgeber. Sie präsentierten Arbeiten von so unterschiedlichen AutorInnen wie Lutz Rathenow und Uwe Kolbe, Peter Brasch und Detlef Opitz, Jan Faktor und Bert Papenfuß-Gorek, Gabriele Kachold und Katja Lange-Müller. Unter westdeutschen Literaturbewegten wurde das Buch schnell zum Geheimtip. Denn hier war sie doch endlich, die andere Sprache über eine andere Welt! Wo offiziell erwünschte Literatur schier Milch und Honig durchs Arbeiter- und Bauernland fließen ließ und dessen Deformationen bei den reformsozialistischen AutorInnen in menschheitsgeschichtlichen Entwürfen diffundierten, schlugen die jungen Halblegalen eine ganz andere Tonart an: ohne Respekt und Rückversicherung.
Für BRD-LeserInnen nicht anders als für die, die in der DDR an klandestinen Lesungen der losen Gruppierung teilnahmen oder eine ihrer Untergrund-Zeitschriften in die Hand bekamen, waren dies das sichere Zeichen einer Kulturrevolte, und auf beiden Seiten der Mauer avancierte der "Prenzlauer Berg" zum Mythos - ideale Projektionsfläche für überschießende eigene Wünsche aller Art. Im einzelnen brauchte man dabei gar nicht so genau hinzuschauen, beispielsweise nicht darauf, wie unterschiedlich ernst die AutorInnen ihr Schreib-Handwerk nahmen oder darauf, ob es sich im Einzelfall eher um ein Zeugnis anderer Lebens-Kunst oder primär dasjenige eines anderen Kunst-Verständnisses handelte: Die Richtung paßte in jedem Fall.
Das kann heute, fünfzehn Jahre nach dem Beginn des inneren Zerfalls der "Prenzlauer-Berg-Connection", zehn Jahre nach der deutschen Vereinigung und acht nach der Stasi-Debatte, so nicht mehr gelten. Für beide Deutsch-Länder haben die politischen Verhältnisse sich gravierend verändert, die literarische Entwicklung hat sich beschleunigt, und wer damals jung war, kommt ohnedies jetzt in die Jahre. Gründe genug, die Prenzlauer Berg-Werke noch einmal in Augenschein zu nehmen, wie dies am vergangenen Wochenende mit der Tagung "Ankunft ist nur eine Randerscheinung" im Literaturforum im Brechthaus geschah. Denn eine "Randerscheinung" ist die "Ankunft" weiland bekannter Prenzlauer-Berg-AutorInnen im gesamtdeutschen Literaturbetrieb ja geblieben. Doch fragt sich, ob dies für eine Jugend-Bewegung nicht auch ganz normal ist: Kunst ist immerhin etwas Seltenes, und nicht alle, die einmal mit künstlerischen Experimenten beginnen, halten dies auch in späteren Jahren noch für ihre adäquate Lebens- und Ausdrucksform. Da aber scheiden sich nun die Geister: Handelte es sich wirklich um individuelle Entwicklungsphasen oder etwa um einen literarisch-politischen Ausschluß Andersdenkender? Oder resultiert das Außen-Bleiben am Ende doch aus einer grundsätzlichen Haltung derer, die sich ihren Ort auch früher nur am "Rand" denken konnten?
Immer noch ist das nicht objektiv zu entscheiden. Denn immer werden die Dabeigewesenen die Vergangenheit anders sehen als solche, die sie nur von außen betrachten. Der Projektionen ist da lange noch kein Ende, und ebenso lange bleibt auch die Geschichte noch: dunkel.
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