Oh, Tibet! Klöster, Mönche, Besinnung, Einkehr! Die höchsten Berge der Welt und die friedfertigste Religion! Farben, Farben! Und ein hartes, karges Leben, während im Gebirgswind die Mandalas verwehen. Da kommt, in seiner Vorstellungswelt, der spirituell verödete Westeuropäer wieder zu sich selbst. Was man von den Tibetern selbst so leider nicht sagen kann. Denn Tibet ist besetztes Land, nun schon seit einem halben Jahrhundert, und mehr als hunderttausend seiner 2 _ Millionen Einwohner sind vor dem chinesische Regime ins Exil geflohen. Wer blieb, hat einerseits all das über sich ergehen lassen müssen, was auch in China vor sich gegangen ist: die "Vier Säuberungen" der fünfziger Jahre und wiederkehrende Kampagnen gegen sogenannte ideologische Abweichungen, Kollektivierung, Industrialisierung, die Kulturrevolution, die Modernisierung und zuletzt die Politik der rücksichtslosen persönlichen Bereicherung unter der Schirmherrschaft der Staats- und Einheitspartei. Dies alles in Tibet allerdings unter der zusätzlichen, ja vorrangigen Bedingung der Vernichtung der eigenen Kultur, der physischen Bedrohung des eigenen Lebens. Davon erzählen die Geschichten des von Alice Grünfelder herausgegebenen Bandes An den Lederriemen geknotete Seele. Erzähler aus Tibet. Viel mehr noch aber weisen diese Erzählungen selbst alle Spuren der kulturellen Enteignung auf, die nun schon seit zwei Generationen das Leben auf dem "Dach der Welt" bestimmt.
Um mit einer scheinbaren Äußerlichkeit zu beginnen: Die Erzähler Tashi Dawa, Alai und Sebo, alle drei Ende der fünfziger Jahre geboren, haben ihre Geschichten nicht auf Tibetisch verfasst, sondern auf Chinesisch. Das hat zum einen seinen Grund darin, dass sie nur so überhaupt publiziert werden konnten - denn natürlich liegt es zunächst in der Logik der Besatzungspolitik, dass tibetische Schrift und Sprache an den Schulen nicht mehr gelehrt werden und Druckerzeugnisse ausschließlich auf Chinesisch in den Handel kommen. Die weitere Folge dieser Politik ist daher fast unvermeidlich: nur einer der drei Autoren könnte überhaupt noch auf Tibetisch schreiben, die anderen müssen sich die Sprache ihrer Vorfahren erst mehr oder weniger mühselig wieder aneignen. Dass sie dennoch Tibet als Sujet gewählt haben, darf, wie dann erst recht die Veröffentlichung in chinesischen Literaturzeitschriften, schon als kleine Sensation gelten. Und dies um so mehr, als die tibetische Literatur bis zur "Befreiung" im Jahr 1950 fast ausschließlich sakralen Charakters war und es also weder im Hinblick auf die Themen und Gegenstände des Erzählens, noch im Hinblick auf die literarische Sprache für moderne Erzähler direkte Anknüpfungspunkte an eine Tradition gab. Denn diese sieben Geschichten handeln, so sehr sie auch immer wieder ins Phantastische entweichen, grundsätzlich erst einmal vom Alltag.
So muss man einerseits also nicht befürchten, hier werde mit Märchen-, Sagen- und Heiligengestalten harmlos Folklore zelebriert. Andererseits aber ist aufgrund der politischen Bedingungen auch ebensowenig zu erwarten, dass hier etwa Akte des Widerstands thematisiert würden. Vielmehr ist der Alltag in diesen Erzählungen davon gekennzeichnet, dass wie selbstverständlich von der Zerstörung des Klosters und der Selbstverbrennung des alten Lama in der Mitte eines kleinen Bergortes die Rede ist, von der Verfolgung der buddhistischen Mönche wie der Enteignung, Verhöhnung und Abstrafung der früheren Adelsschicht - das nämlich ist Vergangenheit, passé. Zugleich aber ist es auch Teil der Lebensgeschichte der Figuren und insofern immer noch präsent, ganz besonders, da die Erzähler zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Traum hin und her manövrieren, dass einem beim Lesen mitunter ganz schwindlig werden kann: Alles ist hier im jeweiligen Augenblick immer da, die Gründung des Volkskrankenhauses in den fünfziger Jahren, die Hubschrauber, der Walkman und die persönliche Gewinnsucht nicht anders als die Geschichte der Mönche, die jetzt Lastenträger sind, die Geschichte des alten Paares, das von einem schönen und erfolgreichen Sohn fabuliert, dessen Gestalt wiederum sich mit den Jahren mit derjenigen des Helden aus dem tibetischen Epos vermischt hat, schließlich der Postbeamte, der davon träumt, Lyrik wie Walt Whitman zu schreiben und währenddessen Zeitungen in entlegene Bergdörfer trägt, die dort keiner lesen kann.
Die Herausgeberin führt die (in den letzten beiden Erzählungen nur noch abgedrehten) Entirrungen in schwer zugängliche Phantasiewelten auf Einflüsse des "magischen Realismus" lateinamerikanischer Autoren zurück, nennt außer García Marquez aber auch Faulkner und Calvino als literarische Bezugspunkte. Man könnte die Zuflucht des jungen Postboten zu Walt Whitman aber auch anders sehen: Deutlich wird ein realer Geschichts- und Kulturverlust, der die Autoren zu einem nur noch eklektischen Kunst-Welt-Bezug verleitet und so etwa das "einfache, getragene peruanische Volkslied 'El condor pasa'" von den Anden ins tibetische Hochland transferiert oder einem erzählenden Ich die Einsicht eingibt, "dass das wunderschöne Pabu Naigang meiner Erinnerung nur ein Landschaftsgemälde von Constable aus dem 19. Jahrhundert war".
Ganz bestimmt lassen sich diese Geschichten als - in jedem Sinne merkwürdige - Neu-Anfänge einer Literatur aus Tibet lesen. Vor allem aber erzählen sie doch, gewissermaßen auf ihrer Kehrseite, die Geschichte eines großen Verlusts. "Womöglich konnte man die Vergangenheit gegen drei Worte austauschen: nichts wert sein", heißt es am Ende der Begegnung der beiden ehemaligen Mönche mit dem dichtenden Briefträger. "Dem Mönch war bei diesem Gedanken nicht ganz wohl." So dezent musste es unter der Bedingung von Zensur und Verfolgung wahrscheinlich gesagt werden.
Alice Grünefelder (Hg.): An den Lederriemen geknotete Seele. Erzähler aus Tibet. Aus dem Chinesischen von Alice Grünefelder und Beate Rusch. Unionsverlag, Zürich 2000, 197 S., 16,90 DM
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