Wie wunderschön das war. Die weißen Handschuhe, die Schwäne mit ihren weißen Hälsen, die Frauen, die die Augen gesenkt hielten über einem Roman oder einem Band poetry. Von Zeit zu Zeit hoben sie die Schleier an - die waren oben mit kleinen zarten Tupfen bestickt und unten mit großen Phantasiemustern -, schlugen sie über die Hutkrempen und blätterten um. Die Schleier sanken allmählich herab, die Frauen blätterten wieder um, hoben die Schleier wieder an und schlugen sie wieder über die Krempen. Wie wunderschön das war.«
Und wie wunderschön das erzählt ist! Es ist so gut wie unmöglich, sich Hanna Kralls Kunst zu entziehen, mit der sie Gesehenes, Gehörtes, Gewußtes und Vorgestelltes in ganz kleinen, v
kleinen, verknappten Szenen vergegenwärtigt. Und völlig unmöglich scheint es danach, das, was sie so erzählt hat, wieder zu vergessen. Beides hängt natürlich mit einander zusammen, und es hängt auch zusammen mit dem Stoff, an dem sie arbeitet, den sie auf ihre ganz eigene Weise, in teils schnellen Schritten und Sprüngen, ausbreitet. Denn Hanna Krall ist eine Erzählerin und Sammlerin, sie sammelt jüdische Geschichte, deren Ursprung in Polen liegt.In ihrem neuen Band Da ist kein Fluß mehr verfolgt sie vor allem die Wege der »Kinder des Holocaust«, und sie beobachtet, recherchiert und registriert, wohin sie zurückführen: in jüdisches Leben vor dem Krieg zuerst, dann ins Ghetto, dann nach Treblinka, nach Auschwitz. Und von dort mit einem schrecklichen Glück, das über den Verstand geht, gelangen einzelne schließlich nach Amerika, Kanada, Brasilien, Israel. Oder sie kehren wieder dorthin zurück, wo einmal das Vorkriegs-, das Vor-Auschwitz-Zuhause war. Es ist vor allem Hanna Kralls Lakonie, die das, was sie beschreibt, im Gedächtnis haften läßt. Ob man es nun behalten will oder lieber nicht so genau, man wird es doch nicht wieder los: die Bilder bleiben, in denen sie ihre Totenklage auf die polnischen Juden aufgehoben hat.Wie in der Geschichte von der Puppe. Der Vater hat sie der Tochter mitgebracht, gefertigt aus Sägespänen und Ton: »Aus den Oberarmen spießten dicke, schief abgeschnittene Drähte. Der Mann, der sie geformt hatte, hatte in seinem Vorkriegsleben wohl nichts mit Spielsachen zu tun gehabt. Er hatte das Gesicht mit Ölfarbe bemalt, blond das Haar, die Augen blau. In seinem früheren Leben hatte er mit Spielsachen nichts zu tun gehabt, aber er wußte, welche Farben er benutzen mußte. Arische Farben. Kein Schmaltzownik hätte erkannt, daß die Puppe im Ghetto zur Welt gekommen war.« Mit dem Mädchen gelangt sie auf die andere, »die arische Seite«. Das Mädchen überlebt, studiert, heiratet, »trennte sich nicht von ihrer aus Sägespänen und Ton geformten Beschützerin« - und als sie sie endlich doch hergibt, weil israelische Historiker sie in Jerusalem im Museum ausstellen wollen, hilft ihr auch das Photo der Puppe nicht mehr: sie wird krank, geht ein. Die Geschichte der Puppe enthält so die Geschichte der Frau, die sie als Kind geschenkt bekam, und in der Geschichte der Frau ist wieder enthalten die Geschichte ihrer Familie, der Toten und der Überlebenden. »Inventarverzeichnis« heißt der kurze Text, und anhand dieses Inventars zeigt sich auch, wie die, die überlebte, sich durch ihre Verbindung zu Gegenständen an dem, was für andere einfach nur »Leben« ist, festzumachen versucht: der Geist dessen und derer, die sie verloren hat, lebt in ihnen gegenständlich weiter.Wie etwa in der Geschichte von der Wohnung in der Walowa-Straße, in der die Seelen einer jüdischen Großfamilie spuken und alle Handlungen eines viel später dort eingezogenen nicht-jüdischen Ehepaars mit einem Fluch belegen. Bis es den Rabbi holt, der den Psalm von dem Hirten spricht, »bei dem uns nichts mangelt. Der uns weidet auf grünen Weiden und uns labt am stillen Wasser. Mit dem wir uns nicht fürchten im finstren Tal des Todes. Dessen Stab uns leitet. In dessen Haus wir wohnen werden lange Tage...« Der Rabbi stammt aus New York, seine Großmutter aber wurde in Baligród geboren. Und als er im Bittgesang für die Toten an die Stelle gelangt, an der deren Namen genannt werden müssen, fügen er und die neuen Bewohner die Namen der Straßen ein, in denen die verzweigte Familie gewohnt hat: ihre Namen sind unbekannt. »Der getragene, klagende jüdische Gesang erfüllte die Wohnung. Alle Nachbarn vernahmen ihn. Sie dachten wahrscheinlich, im Fernsehen laufe wieder etwas über die Juden.«»Weißt du, was mir passiert?«, fragt da eines Tages der polnische Filmemacher Krzyzstof Kieslowski seine Freundin Hanna Krall. »Ich nehme ein Buch zur Hand, schlage es auf, und es geht um Juden. Ich nehme das nächste - um Juden. Was immer ich aufschlage...« »Sag nicht in einer Tour 'um Juden'. Sags kürzer: 'um J...'. Ich errate dann schon, was du meinst«, erwidert die Freundin. Ein bißchen so könnte es mit der Zeit aber auch den Lesern ihrer Geschichten ergehen. Nun natürlich nicht, weil es hier »um J...« geht - sie sind sein Zentrum und sein Ziel, und darum schließlich hat man es ja auch gewählt. Nein, wenn man sich in diesem Buch eine Abkürzung, eine andere Verknappung wünscht, dann dort, wo die Texte gewissermaßen »K...« exponieren: Hanna Krall selbst. »'Erzählen Sie mir was«, bat ich. (Jede Lesung beende ich so: ÂErzählen Sie mir eine Geschichte. Eine wahre... Wichtige... Eine fremde oder etwas über sich selbst...Â). Ich schaltete das Mikrofon aus. Stille trat ein.« So fängt hier nicht nur die Geschichte des Bandes an. Fast wortwörtlich wiederholt sich dieser Beginn auch später noch einmal, während »K...« in anderen durch die innigen Gesundheits-Wünsche eines Rabbi ohne den vermuteten Krebsbefund wieder aus der Klink kommt, über ihre jüdisch-christliche Freundschaft mit Kieslowski berichtet oder mit einem anderen Regisseur, dann mit einem berühmten Bildhauer in Erscheinung tritt. Diese wiederholten Selbstinszenierungen der Erzählerin in verschiedenen Weltgegenden stören zunehmend die Komposition des Ganzen. Denn unterwandert wird der Eindruck des Nüchternen, Distanzierten, ja, Über-Individuellen, das den Geschichten sonst ihren unverwechselbaren Ton gibt und ganz allmählich das Bild eines Volkes entstehen läßt - ein Bild aus vielen Gesichtern und Lebensläufen, deren individuelle Besonderheit in ihrer Summe gerade das Gemeinsame sichtbar macht. Ein bekanntes Gesicht darunter aber durchbricht diese kunsvolle Fügung mit einer autobiographischen Gegenwart, die zum Gesamtbild nichts beiträgt. Denn Hanna Krall erzählt hier eben nicht eine Geschichte, sondern erinnert ein Treffen, ein Telephonat, ein Ereignis.Dieses Störungsmoment haftet zuletzt auch denjenigen Erzählungen an, die Daniel Goldhagens Untersuchungen zum Hamburger Polizisten-Bataillon 101 mit wahren Szenen zu den Mordtaten versehen - plötzlich verlieren sie ihre singuläre Bedeutung, ihre literarische Bildkraft und erscheinen nun, instrumentalisiert, vor allem illustrativ. An nichts weniger aber kann doch einer Erzählerin von den Graden Hanna Kralls, der im übrigen so souverän verfahrenden Bewahrerin des polnisch-jüdischen Lebens, gelegen sein. »Erzählen Sie uns was«, möchten wir sie da nun selber bitten. »Eine Geschichte. Eine wahre... Wichtige... Eine fremde.«Hanna Krall: Da ist kein Fluß mehr. Verlag Neue Kritik. Frankfurt am Main 1999, 200 S., 38,- DM
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