Für die, die es kennen, heißt das Land Ozistan, und es liegt, der Name sagt es schon, sehr weit weg. Es gibt Globen, die bilden es ganz oben auf der Kugel ab - die kommen aus Ozistan. Alle anderen zeigen es weit unten drunter, und die Ozistaner, die sich selbst Aussies nennen, fanden das lustig und nennen ihr Land daher auch Down under. Für alle, die es nicht kennen, heißt es Australien, und die haben es im Fernsehen gesehen: die süßen Koalas (die aussterben), die Känguruhs (die die Ozistaner auch als Steaks exportieren), die Sonne (Lichtschutzfaktor 60 aufwärts) und, natürlich, die Olympiade. Davor aber lebte man dort ganz normal, das heißt: according to Aussie standards - down under eben. Und wenn jemand aus Europa für längere Z
Es war schwer, in Bondi nicht zu Hause zu sein
PARADISE REMEMBERED Weihnachtsheimweh nach Ozistan
Exklusiv für Abonnent:innen
#252;r längere Zeit in ihr Land kam, freuten sich die Aussies: auf das, was sie culture shock nannten. Sie hatten Erfahrung damit, denn alle von ihnen, die weiß waren, waren einmal woanders her gekommen. Doch nun waren sie alle Aussies, das schloss ein Bekenntnis ein. Wer neu kam, hatte das zu lernen. Alles andere ergab sich von selbst.Isn't it paradise? sagten die Australier, kaum hatte man die Zollabfertigung passiert. Und schossen sofort die Frage hinterher: How do you like Australia? Über Europa sagten sie: Oh, it's so lovely! - But they don't have the beaches. Damit war auch das erledigt. Aber hatten sie denn nicht recht? Wo sonst konnte man schon beim Aufstehen sehen, wie ein Schwarm weißer Kakadus sich auf dem Balkon des Nachbarn erst über den Wäscheständer hermachte und dann die Blütenpracht in seinem Blumenkasten niederlegte? Wo sonst ging man nachts unter dem Schmatzen und Kreischen der Fledermäuse zu Bett, die sich um die Früchte im alten Feigenbaum zankten? Und wo sonst lebte man nach der Maxime Throw another prawn on the barbie - und »barbie« meinte nicht »Barbie«, sondern den Grill, der sich in größtmöglicher Nähe zu den beaches zu befinden hatte? Schon wahr, jemanden, der aus Berlin kam, wehte da ein Hauch von paradise an. Zum Beispiel, wenn man mit dem Bus von Bondi Junction zum Bondi Beach hinunterfuhr. »Jehnse weita, machnse hinne, wat heeßt, se ham keen Wechseljeld, bin ick die Bank?« Solche Nettigkeiten würzten das Leben in der damaligen Frontstadt. In Sydney dagegen: Der eine Busfahrer war stadtbekannt für seine Opernarien, der andere hielt den Bus für einen Schwatz an, wenn er einen Freund auf dem Gehsteig erblickte, und der dritte bremste, wenn er meinte, eine Omi am Straßenrand sehe so aus, als wolle sie vielleicht mitfahren. Und alle Fahrgäste hörten auf denselben Namen: darl, für darling. Für die Australier musste der liebe Gott Busfahrer sein.Allerdings hatte die allgemein gehobene Stimmung durchaus eine Art Heiterkeitszwang zur Folge. Alles hier war marvellous oder gorgious, mindestens aber great, und wer auf die freundliche Frage How are you today? nicht wenigstens ein fine parat hatte, hatte seine Aussichten auf die Erlangung eines Bankkredits oder auch nur seine Position bei der Buchausgabe der Bibliothek deutlich geschmälert. Isn't it a beautiful day today? Draußen schüttete es, wie man es sonst nur aus den Hollywoodfilmen der Schwarzen Serie kennt. Bit wet, isn't it? In leichtherzigem Tonfall und mit breit aufgelegtem Strahlen vorgetragen, war das so ziemlich das äußerste, was sich an Kritik einigermaßen gefahrlos äußern ließ. Denn Kritik implizierte ein verweigertes fantastic allemal: War vielleicht auch nur das Wetter schlecht, richtete sich die Feststellung auf jeden Fall gleich gegen das gesamte paradise in seiner irdischen Real-Existenz. Am besten, man scherte sich überhaupt nicht darum, was und wie alles in Wirklichkeit war und fand einfach alles rundheraus terrific. Dann konnten einem auch die kleinen Alltags-Unbilden fast nichts mehr anhaben.»Ah, Sie tragen einen Mantel«, hatte der Kollege leicht distanziert bemerkt, der mich vom Flughafen abholte. Es war Anfang März, halb sieben in der Früh, ich war 26 Stunden geflogen und kam von Frankfurt. In Sydney war Frühherbst, und ein Mantel kam mir angenehm vor. »Den werden Sie hier nun auch nicht mehr brauchen«, sagte der Kollege und half mir, die unnütze Hülle abzulegen: »In Australien wird es nie kalt!« Später, im Winter, in meiner Wohnung in besagtem Mantel vor einem Radiator hockend, dachte ich oft an diesen Satz. Immerhin wusste ich nun, weshalb es im ganzen Haus keine Heizung gab, und eine so exuberante Verweichlichung einzugestehen, die mich zur Anschaffung eines Heizgerätes getrieben hatte, war danach keinesfalls ratsam. Der echte Aussie legte die halblangen shorts - vorzugsweise zu weißen Kniestrümpfen getragen - auch im Winter nur unter Anwendung höherer Gewalt ab, die Mädels, gals genannt, schütteten sich kichernd das eisige Regenwasser aus den Riemchenschuhen. Tatsächlich wurden Temperaturen unter 10 Grad in Sydney auch Ende der achtziger Jahre nur selten erreicht, und doch beschlich mich an einem finsteren Spätnachmittag in meinem Betonbüro der Gedanke an einen Freund, der in Bukarest tätig war: dort war sogar die Kreide gefroren. Spontan gab ich einem inneren Drängen nach und erbat von der Sekretärin einen heater. Damit war ich als Angehörige einer freudlosen Minderheit ewiger Nörgler entlarvt, und aus meinem Büro drangen befremdliche Geräusche. Die minimale Maschine war ungefähr so alt wie ich, im Unterschied zu mir ratterte sie und verbrannte jahrzehntealten Staub, kein angenehmer Geruch. War ich ihn leid, konnte ich immerhin die elektrische Schreibmaschine wieder benutzen, denn in dem Raum gab es nur eine Steckdose, von Doppelsteckern wurde abgeraten.God's own country, isn't it?! fragte ernsthaft die Serviererin im Coffee Shop, während draußen der Sturm die Eukalypusbäume beugte. Oh, definitely! Eine Kollegin etwa, Sprachwissenschaftlerin ihres Zeichens, erlernte Schafzucht by correspondence, und ich stellte mich endgültig bloß, als ich wissen wollte, wie das denn gehe. Wie es wohl sonst gehen solle, schnappte Chloe, schließlich lebe sie ja nicht auf dem Land. Ich lächelte zaghaft und beschloss, künftig alles für fabulous zu halten. Und das half: Ich konnte mehr als das Fehlende sehen, was gerade in Bondi auch nicht so schwierig war. Von der Penkivil Street kommend, in der mein kühles Wohnhaus stand, einmal die Bondi Road herunter, passierte man ganz Europa jenseits aller EU-Schranken und kriegte Israel, halb Asien und Lateinamerika noch mit dazu. Mittendrin, als Anhaltspunkt: die Australia Post (»We deliver«), ein bottle shop sowie ein Restaurant mit Mother's Home-Cooking. Aber so viel Assimilation musste gar nicht sein - nicht in diesem jüdischen Viertel und ganz bestimmt nicht, nachdem meine Nachbarin Meryl Tankard, Australierin und vormals Tänzerin bei Pina Bausch, von Grauen geschüttelt gewispert hatte: »Spare ribs - they s u c k them!«Also links runter von der Penkivil, vorbei am »Fair Hair«-Friseursladen des Zyprioten Laz, immer den Bushaltestellen nach. An der Ecke der Snack Shop der schweizerischen Franzosen, den sie »Le Chateau« getauft hatten. Die stritten sich gerade Sonntagmorgens knapp vor der Ladenöffnungszeit so lange und hörbar, dass man in aller Ruhe weitergehen konnte zum Patissier und seinen Brioches, bis man auf dem Rückweg bei ihnen endlich die köstlichsten chicken sandwiches von ganz Australien bekam. Weiter bergab also zunächst und vorbei an der chinesischen Wäscherei, deren Waschautomaten vorzugsweise zierliche europäische Socken verschlangen, vorbei am Drugstore, dessen jüngste Errungenschaft ein Stoff namens Badeedass war, eine weitere ruchlose Manifestation europäischer Dekadenz: der Aussie nahm seinen shower ausschließlich mit Seife. Vielleicht aber noch einen echt österreichischen Meinl-Kaffee mitsamt homemade Paté beim ungarischen Supermarkt Kemeny's zum Frühstück gekauft und beim Russen Fischspezialitäten der undurchschaubaren Art, Mangos und Papayas beim maltekischen Gemüsehändler und weiter vorbei an der Eastern Noodle und einer spanischen Pizzeria, immer weiter auf das nationale Heiligtum Bondi Beach zu. Campbell Parade hieß die vierspurige Straße, an der es Inder, Franzosen, Italiener, einen Thai, einen dänischen Ice Cream Parlour und den tatsächlich fabulösen Bondi Fish Shop gab. Das Zentrum aber: die Gelato Bar. Wem es kalt (oder zu heiß) wurde in Ozistans berühmtestem Badebezirk, der konnte hier kosher essen und plötzlich zu Hause sein, zwischen enormen Torten, die das »Sacher« nicht besser hergerichtet hätte, und einem Wiener Gulasch mit Knödeln, das das Heimweh anheizte. Am beach tobten die Surfer durch die Wellen, die Strandläufer, die Schachspieler, die Familien waren da und immer auch der Glückssucher mit Augenschirm und Metalldetektor, der sich verlorene Münzen aus dem Sand fischte. Gegen den culture shock hatten die Ozistaner alle Vorkehrungen getroffen: Es war schwer, in Bondi nicht zu Hause zu sein.Aber Weihnachten, natürlich, war die Anfechtung für alle, die das Aussie-Bekenntnis noch nicht ganz und gar abgelegt hatten. Denn Weihnachten fand im Hochsommer statt, und während in Europa der Schnee rieselte, knallte hier eine erbarmungslose Sonne herunter, bei ungünstigen Winden dümpelten Tampons und Präservative zwischen den Schwimmern, die farbenfrohen Drinks im Lemrock Café stimmten unweigerlich trübsinnig. Man mußte, wie alle anderen, aufs Land: Sommerferien! Das Fahrzeug war ein silbergrauer Mazda stationwagon, in zehn Jahren 100.000 Kilometer, einmal quer über den Kontinent, und wenn er nicht mehr anspringen wollte, musste man den Hammer nehmen: immer ruff uff'n Verteiler. Aus der Nachbarhütte im einsamen bush allerdings tönte zur Ankunftszeit die Muslim Prayer Hour, und zwei nur leicht angetrunkene Herren bestanden darauf, den Damen die Kartons ins Häuschen zu tragen. Die Damen der Herren sprachen gefasst ihren White Ladies zu: Christmas in the bush! Aber noch nicht ganz. Die zutiefst europäische Installation eines Tannenbaums war über die Lokalzeitung Mallacoota Mouth zu bestellen, eine frisch geschossene Ente mit viel Charme beim örtlichen Pub, champagne vom bottle shop. Die Dekorationen kamen aus dem Laden für Fischerbedarf, der außerdem bezaubernde tea-towels mit ungefähr 7 Papageiensorten für die Lieben back home bereithielt.Und alles klappte! Der Mazda, nach gezieltem Hammerschlag, transportierte den Weihnachtsbaum und die Ente. Aus dem Transistorradio ertönte ein Konzert der Wiener Philharmoniker, die Küche brodelte, das tannenbaumähnliche Gewächs wurde aufgerichtet. Tannenbaumfüße hielt natürlich auch das Fischereigeschäft nicht vorrätig, aber eine Konstruktion mittels vielfach verschlungener Bindfäden hielt das Gebilde zwischen Tür und Küchentresen immerhin etwa aufrecht, ein Weihnachtsmann aus Pappe und Filz konnte die Spitze einnehmen. Im Öfchen die Ente brodelte nicht, gab aber schon Duft ab. Der rechte Zeitpunkt für einen weihnachtlichen overseas call - ein Einfall, den allerdings schon viele Sommerurlaubern zuvor gehabt hatten. Die Münzspeicher der Telefonautomaten erbrachen sich, aber der Motel-Besitzer hatte ein Einsehen: Frohe Weihnachten, migrants!Dass das Hütten-Öfchen nur auf maximal 60 Grad heizte, machte die Ente reichlich nach Mitternacht angenehm fettarm, das zugehörige Gemüse hatte nicht mehr mitgehalten. Der champagne wiederum hatte im überstark kühlenden fridge die Konsistenz eines ice drinks angenommen. Die Tannenbaumvortäuschung duftete traulich, während die Wiener Philharmoniker live immer noch weiterfiedelten: Merry Christmas everyone! Am nächsten Morgen entluden sich aus dem Grüngewächs enorme Falter, die in der heimeligen Wärme ganz gegen die Jahreszeit taumelnd zum Leben erwacht waren. Draußen regnete es leise, und die notorisch dümmsten der australischen Papageien, die völlig zu Unrecht geschmähten Galahs, duschten genüßlich, indem sie kopfüber an den Überlandleitungen pendelten. Die Europäerinnen hingegen entsorgten die Entenreste und brachen in Tränen aus - Weihnachten!Doch alles kam, wie es, den Rechtgläubigen zufolge, im fernen Ozistan immer ist: Die Sonne erschien, der nasse Strand wurde warm, der Papagei vom Campingplatz gab den letzten Streit seiner Besitzer Wort für Wort, Stimme für Stimme wieder, und die Menschen versammelten sich - barbecue! Da trat aus dem Gelände zwischen bush und Meer einer, den hatten sie gedungen für eine Handvoll Dollar und eine eher größere Menge Fosters Lager. Er hatte den langen roten Mantel mit weißer Borte an, die Kapuze ordnungsgemäß übergestülpt und den weißen Bart umgelegt. Er schleppte einen Sack auf dem Rücken, und er schwitzte sehr, die Kinder am Strand waren außer sich: Father Christmas! »Wart Ihr auch alle brav?« - »Jaaaa!« - »Seid Ihr sicher?« - »Jaaaa!« Eilends riss er die Geschenke aus dem Sack und schleppte sich glühend von hinnen. Die Erwachsenen aber warfen another prawn on the barbie und another drink hinterdrein, während die Kinder sich um die Sachen keilten. Hunde sprangen umher.Isn't it paradise? fragten die Australier. Was sollte man sagen? We don't have the beaches.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken. Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos. Mehr Infos erhalten Sie hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt. Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.