Eine Frau steht am offenen Fenster, auf dem Fensterbrett. Sie hat vor, sich auf die leere, stille Straße hinab zu stürzen. Sie leidet an einem "ganz gewöhnlich gebrochenen Herzen" und, womöglich noch schlimmer, sie ist "eine Autorin, die nicht mehr schreibt". "In mir ist nichts mehr von Wert", denkt sie, auf die Straße hinunter blickend. "Warum also soll ich noch hier bleiben, wenn ich keinen Nutzen mehr habe." Doch aus dem Selbstmord wird nichts. Plötzlich ertönt eine Melodie, und das gebrochene Herz zeigt unvermutet Regung - Hass nämlich, Abscheu. Keine schönen Gefühle, aber sie reichen aus, die Frau vom Fensterbrett herunter und ins Leben zurück zu bringen. "Mhairis Wedding" heißt das wutzeugende Lied. In der Schule hat es die
ie Frau singen müssen, wieder und wieder, dieses "ganz besonders mißlungene Beispiel pseudo-keltischer Kitschkost", voller "hinterwäldlerischer Versatzstücke, die für das edle, ländliche, volkstanzende gälische Leben unabdingbar sind". Nein, unter diesen abscheulichen Klängen kann sie sich unmöglich umbringen. Sie wird also etwas anderes tun: Sie wird nach Spanien reisen und sich Stierkämpfe anschauen. Und sie wird über das Torero-Sein und das Stier-Sein und darüber, was passiert, wenn beide in einer Arena voller aficionados zusammentreffen, ein Buch schreiben. Einfach so. Das heißt, weil sie einen Auftrag hat. Und weil sie sehen will, ob sie nicht wenigstens noch über etwas nicht Selbstgewähltes schreiben kann. Und weil sie "auf der Suche nach Glauben" ist.Wie das? Wo, um Himmels willen, ist da die Verbindung? fragt man sich, nun doch wirklich etwas besorgt, auf Seite 16 in A.L. Kennedys Stierkampf. "Vielleicht haben die Toreros und ich etwas gemeinsam, weil wir beide Kontrolle über den Tod ausüben wollen. Wir haben das Unmögliche versucht, gegen den Lauf der Natur", lautet die Antwort. Wir ahnen: Von jetzt an stecken wir im Schlamassel.Denn was für eine formidable Eröffnung war das! Wieviel Selbstironie wurde da einer Person zugetraut, die vom hässlichen, dünnen Scheppern eines verlogenen Volkslieds an der Selbstentleibung gehindert wird. Und wie gern wüsste man danach wirklich, wie eine derart verwirrte und gleichzeitig mit einem schrägen Blick auf sich selbst begabte Seele dazu kommt, sich ausgerechnet auf den Stierkampf einzulassen. Und wie sie den mitsamt seinen blutigen, prächtigen und erbärmlichen Ritualen mit genau diesem schrägen Blick ansieht, was ihr da auffällt, da wäre man gern dabei, das sähe man auch gern. Aber, man muss es leider sagen: Sowenig wie aus dem Selbstmord wird daraus etwas werden. Diese Frau hat einen Auftrag, es geht ihr gesundheitlich mies, und sie fährt los, basta. Und wird im folgenden eine ganze Menge Lesestoff referieren, den sie sich als immerhin zuverlässige Berichterstatterin angeeignet hat. Und sie wird in unterschiedlichen Arenen sitzen, gelungene und (für Torero und Stier) eher trübselige Stierkämpfe betrachten. Die Fiktion endet bereits nach 16 Seiten. Der Rest ist Referat, Augenzeugenbericht, Reportage und - wenn's gut geht - auch mal ein Stückchen Essay. O je, denken wir da, ojeoje! Womöglich war also die hinreißend verkrachte Exposition auch nicht fiktiv? Und kommen uns, fast indiskret vor, dabei gewesen zu sein.Indiskretionen dieser Art muss man auf den folgenden 140 Seiten nicht mehr fürchten. Im Jahre 1999 reist die zur assoziativen Sprunghaftigkeit neigende Ich-Erzählerin nach Granada, Sevilla und Madrid, und sie ist geplagt von einem Bandscheibenleiden, das sie nötigt, viele, manchmal auch zu viele Schmerztabletten zu sich zu nehmen. Sie leidet, und wir merken wohl, dass der Bereich in ihrem Rückgrat, der da schmerzt, sich etwa an dem Punkt befindet, in den die Banderilleros dem armen Stier die mit bunten Bändern umwickelten, mit Widerhaken, mitunter sogar mit Schwarzpulver gespickten Banderillas jagen. Aber wir merken auch, dass wir uns dazu denken dürfen, was wir mögen - A.L. Kennedy will daraus weiter nichts machen. Wie letztlich auch aus all ihren wohlinformierten Überlegungen zu Stieren und Toreros, zu Hemingway, auch zu Tschechow, vor allem aber immer wieder zu Federico García Lorca, dem Dichter, dem Liebhaber des Stierkampfes und des Flamenco, dem Schwulen und Sympathisanten der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg, der von Rechten ermordet wurde. Nichts daraus machen heißt hier: nicht erzählen, keinen Zusammenhang schaffen, sondern projizieren, immer wieder wild drauf los und bei Lorca besonders reichlich: "Bei manchen Fotos könnte man annehmen, daß er sich der drohenden Dunkelheit fast bewußt ist, daß er sich beinahe fragt, wann sie wohl kommen wird, wann der Mann, der sein Land liebt, von anderen Männern umgebracht werden wird, die es auf andere Weise lieben. Nur auf den Bühnenfotos scheint er völlig frei von seinem dunklen Geist..."Zweifellos erfährt man in diesem Buch eine ganze Menge über den Stierkampf, seine Tradition, seine gegenwärtige Ausübung, ja, sogar, wie ein Torero eingekleidet wird, weiß man am Ende, und ein "Glossar" zu alledem bekommt man auch noch. Vor allem aber ist man schließlich genau unterrichtet über die Projektions-Zwänge des reisenden weiblichen Ich. Sie kreisen um die Liebe, die sich auch im Töten ausdrücken kann, um den Glauben, die Religion, die Kunst und, natürlich, immer wieder um den Tod - genau die Themen also, die auch Kennedys furiosen, kuriosen Erstling, die lobumwundene Hassliebesgeschichte Gleissendes Glück gerade so raffiniert machten. Was der Erzählerin in Stierkampf dazu durch den Kopf geht, das sieht sie nun in die verschiedenen Objekte, auf die sie trifft, ziemlich umstandslos hinein. Doch weil sie auch darin wieder nicht entschieden ist, ebensowenig wie darin, einfach eine Reportage, einen Essay oder auch eine Bestandsaufnahme ihrer schmerzhaften Ich-Zustände zu schreiben, kommt am Ende aus all der Mühsal nichts Halbes und nichts Ganzes heraus. Oder, um im Bilde zu bleiben: Da wird der Stier im Leser immer wieder gereizt, immer wieder wird ihm etwas vorgehalten und ein bisschen herumgeschwenkt - aber der Torero, der endlich beherzt, elegant und erlösend zustäche, bleibt aus. Woraufhin der Stier den Kopf schüttelt, noch ein bisschen schnaubt und die Wort-Arena schließlich verlässt. Was sollte das sein? A.L. Kennedy scheint es auch nicht zu wissen. Zurückgekehrt in die Wohnung, aus deren Fenster sie eingangs springen wollte, versucht die Erzählerin, "nicht daran zu denken, dass ich so viele Stunden meines Lebens hier verbracht habe, dass ich in dem Raum gearbeitet habe, den meine Arbeit mir geschaffen hat, in jener Berufung, die sich jetzt vor mir verschlossen hat. Ich weiß nicht, was ich tun soll." Auch ihr hat all der innere und äußere Aufwand also nichts genützt. Und das tut einem dann wirklich leid. Der Unterschied zwischen Gleissendes Glück und Stierkampf ist der zwischen einem literarischen Text und einem Text. Am Anfang - wir waren dabei - konnte sie doch noch erzählen.A.L. Kennedy: Stierkampf. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 2001, 156 S., 32,-DM
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