Ziemlich hoch hergegangen sein muss es bei der Gruppe 47 der frühen Jahre: Die literarische Elite des postnazistischen Deutschland, aus Österreich und der Schweiz, feierte sich selbst. Vor allem aber feierte sie ihre Freiheit zu schreiben, zu sagen und zu leben, was und wie sie wollte. Da konnte es dann auch schon mal geschehen, dass das Nachtgewand des Frl. Dr. phil. Ingeborg Bachmann in einem Zimmer zurückblieb, das nicht das ihre war. Aber machte das irgendwem irgendwas? Kaum. Denn es war eine gute Zeit, trotz allen Miefs rundum, all des Schiebens, Verdrängens und hektischen, sogenannten Wiederaufbaus - eine gute Zeit wenigstens der Literatur: Aufbruch, Jugend, eine neue Sprache für eine endlich anders gewordene Wirklichkeit. Und Ingeborg Bachmann, konträr zum »Kahlschlag« ihrer männlichen Kollegen, konnte einer vom völkischen Pathos und Gebrüll ruinierten Sprache mit ihren Gedichten sogar den hohen Ton zurückgeben - 1952 las sie zum ersten Mal vor der Gruppe 47, im folgenden Jahr erhielt sie, 27 Jahre alt, deren Preis. Das war der Beginn einer viel versprechenden Dichterinnen-Karriere.
Am 16. Oktober 1973 starb sie in Rom an den Folgen eines in seinen Umständen mysteriös gebliebenen Brandunfalls. Und mysteriös für die meisten blieb auch, was in den zwanzig Jahren Zwischenzeit, die sie mal in Rom, mal in München, dann in Rom und Zürich, kurzzeitig in Berlin und dann wieder in Rom zugebracht hatte, mit der Hohepriesterin der Nachkriegslyrik vor sich gegangen war. Nach den zwei Gedichtbänden der fünfziger Jahre waren in den Sechzigern Gedichte nur noch verstreut erschienen, das letzte, Keine Delikatessen, im November 1968 in Hans Magnus Enzensbergers berühmtem Kursbuch. Warum dieser Abbruch einer beispiellosen Erfolgslinie? Warum der Wechsel zur Prosa, die spätestens seit dem Erscheinen des Romans Malina 1971 von der Kritik durchaus nicht mehr überschwänglich geliebt und gelobt wurde - was umso weniger verwundert, wenn Bachmann im Interview etwa kundgab: »Der Faschismus ist immer das erste in den Beziehungen von Männern und Frauen. Wissen Sie das nicht?«
In einer enormen Sichtungs- und Editionsarbeit haben Robert Pichl, Monika Albrecht und Dirk Götsche vor einigen Jahren den Nachweis geführt, dass Ingeborg Bachmann schon seit den frühen Fünfzigern an einem Prosa-Komplex arbeitete, der 1995 dann unter dem Titel Todesarten-Projekt in fünf dickleibigen Bänden mit bis dato unbekannten Texten aus dem Nachlaß veröffentlicht wurde. Das zog eine ganz neue, eindrucksvolle Linie ins Bachmann-Oeuvre: Es zeigte die gefeierte Lyrikerin als Prosa-Autorin von Anfang an und in akribisch verfolgter, konsequenter Werk-Entwicklung bis zu ihrem Verbrennungs-Tod. Weshalb allerdings die Lyrik-Kurve, steil aufsteigend mit dem 1953 zuerst veröffentlichten Band Die gestundete Zeit, zehn Jahre später ebenso jäh endete, wurde dadurch nicht erklärt. Allein die Tatsache, dass nicht unerhebliche Teile des Nachlasses sogleich nach Bachmanns Tod von den Erben für die Öffentlichkeit rigoros gesperrt wurden, hatte freilich schon ahnen lassen, dass sich hier Anfang der sechziger Jahre eine private Katastrophe ereignet haben musste. Ein existentieller Einbruch, der Bachmann zwar auf Dauer nicht das Schreiben überhaupt, jedenfalls aber das lyrische Schreiben unmöglich machte. Die Geheimniskrämerei um die nachgelassenen Texte, in deren dunkler Mitte, wie man wusste, Bachmanns zeitweiliger Lebensgefährte Max Frisch stand, ließ dabei den biografisch-literarischen Doppelbruch nur umso rätselhafter erscheinen.
Mit dem Band Ich weiß keine bessere Welt, der Ingeborg Bachmanns unveröffentlichte Gedichte enthält, kommt nun in dieses Dunkel endlich Licht - auf eine Weise, wie auch sie selbst es sich wohl nicht angemessener: diskreter und literarischer nämlich, hätte wünschen können. Auf fast 180 Seiten erkennt man hier nämlich aus dem vorgefundenen Material, wie ein Mensch die Sprache verliert, weil er den Kontakt zu sich selbst eingebüßt hat. Und man kann auch sehen, wie er mit dem dennoch für ihn einzig probaten Mittel, wiederum der Sprache also, ein Bewusstsein für seinen Zustand zurückzugewinnen versucht. Es ist ein doppelter Kampf, der da in immer neuen Text-Anläufen und -Abbrüchen geführt wird: ein Kampf ums eigene Ich, dessen Existenz und Würde, dessen Selbst-Bewusstsein vor allem seine Sprache verbürgt. Ohne ihre Sprache existiert für Ingeborg Bachmann keine Welt, existiert sie selbst nicht mehr, und als der Überlebenskampf beginnt, ist vollkommen offen, ob ihr Ich sich selbst überhaupt wird wiedergewinnen können. Datierungen sind hier nicht gegeben, aber im Fortgang der Versuche über Jahre hin zeichnet sich doch, erst schwach, dann immer deutlicher, eine Entwicklung ab. Sie führt von Elementargefühlen des Schmerzes, der Gewalt, des Hasses und der Rache über wiederkehrende Bilder aus den Bereichen der Natur, der Religion und der Politik schließlich zu einer neuen Selbst-Ermächtigung in komplexen Gedichten. Deren wenigste nur hatte Bachmann, letzte Absagen, gegen Ende der sechziger Jahre noch an die Öffentlichkeit gegeben. Was dazwischen lag - und was sich nun plötzlich ganz direkt vernetzt sowohl mit der wahnwitzigen Berlin-Vision Ein Ort für Zufälle, ihrer Büchnerpreis-Rede von 1965, wie mit dem Gedanken- und Erfahrungsmaterial des Todesarten-Komplexes - wird in diesen Gedichten nun ungeschützt sichtbar.
Aufzeichnungen aus Krankenzimmern sind das, auch nachdem Ingeborg Bachmann die Krankenanstalten als Aufenthaltsort längst verlassen hat, und sie geben Fetzen von Einblicken immer wieder in ein von existenziellen Abhängigkeiten verzweifelt geprägtes Dasein: Medikamente, Alkohol, Morphium, Sex - darin als düsteres, auch verdunkelt bleibendes Zentrum »der Ohnewas«, der Mann aus »Stein«. Man kann sich schon vorstellen, weshalb Bachmanns Geschwister lange dachten, sie sollten ihre Schwester und diese Texte vor einer schnüffel- und klatschsüchtigen Nachwelt schützen. Fast dreißig Jahre nach Bachmanns Tod aber kann man diese Anläufe, in der Sprache wenigstens ein Existieren wiederzugewinnen, nun ohne alle schmierigen biografischen Rückkopplungen (gab es da eine Fehlgeburt? Abtreibung? Bekam sie Elektroschocks? Holte sie sich hübsche Knaben von der Straße?) zur Kenntnis nehmen. In einer sehr anrührenden Geschichte, die die Wortkohorten in ihrer Abfolge erzählen, erlebt man vielmehr, wie jemand mit funkelnden Fetzen und Felgen/ mit ausgerissenen Nähten und/ einer Wahnkraft, für deren/ Durchschlag der Himmel immer zu weich/ und die Erde zu hart ist, die Macht über die Sprache tatsächlich zurückgewinnt: Auf den Paradeplätzen der Weihnachtsstadt/ hab ich geschrien, gejohlt, daß die/ Polizei rot wurde und die Karpfen zu glotzen/ aufhörten.
Hätte man an den Originalen Papier- und Schriftakribiker vom Schlage der HerausgeberInnen des Todesarten-Projekts zu Werke gehen lassen, bestimmt wäre auch hier eine genauere Datierung der Blätter möglich geworden als die vage Angabe, sie seien »in Zürich, Berlin und Rom (...) in der Zeit zwischen 1962 und 1964« entstanden, »einige auch später«. Doch hat der Verlag im Übrigen für eine wunderbar sorgfältige Ausgabe mit einem die Text-Besonderheiten präzise darstellenden Anhang gesorgt und vor allem auch an der aufschlussreichen Faksimilierung etlicher Seiten nicht gespart. Hier ist zu erkennen, wie die meisten dieser obsessiven Vorstellungen und Wendungen durchaus mit klarer Handschrift, gegen Ende offenbar aber immer auch mit zunehmender Beschleunigung geschrieben sind - als setze sich selbsttätig eine Schreib-Wut, ein wilder Wortzwang in äußerlich noch eben geordneten Formen durch. Was für eine Grausamkeit, heißt es am vorläufigen Ende dieser Selbstfindungs-Reise durchs Entsetzen, mich an der Haut zu ritzen,/ ins Herz zu treffen/ bin ich nicht mehr./ Ich spreche und lache und spreche./ Zu treffen nicht mehr. Da endet, nachvollziehbar, auch die Funktion der Lyrik für Ingeborg Bachmann: größere Entwicklungs-, Erklärungszusammenhänge werden gebraucht - Prosa eben. Wie den LeserInnen nun umso mehr eine sensible, kluge Bachmann-Biografie fehlt.
Ingeborg Bachmann: Ich weiß keine bessere Welt. Unveröffentlichte Gedichte. Piper Verlag, München 2000, 195 S., 38,- DM
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