„Wenn einer wie Zidane so reagiert, muss etwas Außergewöhnliches geschehen sein“, wird Jacques Chirac auf der Umschlagsrückseite eines Buches zitiert, das 249 Antworten liefern soll, was Marco Materazzi alles hätte sagen können, um Zidane zum Kopfstoß zu provozierte. Che cosa ho veramente detto a Zidane (dt. Titel: Was ich Zidane wirklich gesagt habe) heißt es und wurde kurz nach jener weltberühmten 109. Spielminute von Materazzi höchstpersönlich – natürlich – in einem der Berlusconi-Verlage veröffentlicht (Edition Mondadori, 2006). Der Italiener kokettiert darin mit harmlosen bis peinlichen Sprüchen wie: „Mein Ferrari ist schöner als deiner“, „Du stinkst nach Roquefort“ oder: „Also bist du eine Schwuchtel wie Roland Barthes“. Er zeigt damit: Die Provokation ist auf dem Rasen auch nur eine Taktik. Gina Bucher
Einmal wie Zidane sein: Bits und Bytes machen es möglich. Weil diverse PC-Fußballmanager zu zeitraubend und aufwändig sind, entpuppte sich ausgerechnet der Kopfstoß-Simulator zum globalen Online-Spiel-Renner. Nach dem WM-Finale 2006 wurde das Browsergame in unzähligen Büros der Welt begeistert gespielt, und das nicht nur in der Pause. Neben dem plausiblen Plot mag das auch an der einfachen Handhabung gelegen haben. Per Maus steuert man einen zweidimensionalen Zidane, der ein Heer von Materazzis mit dem Kopf in Schach halten muss, was ein bisschen an den Abwehr-Klassiker Space Invaders erinnert. Eine Weile haut Zidane einen nach dem anderen der Blauhemden unter martialischen Zack-Effekten um. Dann ist das Ziel des Spiels erreicht: Der Schiri zieht die rote Karte und der WM-Pokal ist futsch. Schnell erfuhr die Spielidee noch einen Spin-Off und man konnte auch einen Comic-Zidane steuern, der zur kammgeblasenen Marseillaise sein foules Tagwerk verrichtet. Der Titel des Spiels? „Hit it like Zindane“. Tobias Prüwer
Immer wieder wird betont, dass Frauen die faireren Fußballer seien. Ausnahmen sollen auch diese Regel bestätigen. Etwa der Fall der 20-jährigen Amerikanerin Elizabeth Lambert (New Mexico), die durch ihre Übergriffe während eines US-Ligaspiels weltweite Medienaufmerksamkeit bekam. Nach bösartigen Tritten zu Beginn des Spiels setzte sie mit dem hinterlistigen Zopfreißer noch eins drauf – welcher, ohne Frage, Zidanes Kopfstoß in nichts nachsteht. Ihre Gegnerin ging nach dem ruckartigen Ziehen an ihren Haaren zu Boden und blieb vor Schmerzen gekrümmt liegen. Später entschuldigte sich Lambert. Trotzdem wurde sie sofort suspendiert.
Diskutiert wird mittlerweile in den USA, ob Lambert selbst ein Medienopfer (➝ Opfer) sei. Immerhin fielen alle News Sites wie ausgehungerte Hyänen über die Videobilder des Zopfreißers her, bei Youtube wurde der Clip Millionen Mal angeklickt. Fest steht: Der Zopfreißer war schon zu Grundschulzeiten eine ganz fiese Angelegenheit. Wenn man keinen Ärger will, sollte man lieber die Finger vom Haupthaar anderer lassen. Sophia Hoffmann
Wie ein wilder Stier heißt Martin Scorseses Film über den Boxer Jake LaMotta. Gibt es eine passendere Überschrift für Zidanes Kopfstoß? Der Franzose verhielt sich wie ein entfesselter Stier, der nur ein Ziel kannte: das rote Tuch und die Vernichtung seines Trägers. In diesem Sinne ist Zidane ein würdiger Nachfolger von Jake LaMotta, der den Beinamen „Bulle aus der Bronx“ nicht umsonst trug. LaMotta war im Ring unberechenbar, jederzeit bereit loszuwüten. Mit seinem tiefhängenden Kopf – darin imitierte ihn Zidane geradezu – war er permanent im Angriffsmodus, verdrosch Gegner bis zur Bewusstlosigkeit. Doch er konnte auch selbst einstecken wie kein anderer. Darin ähnelt ihm Zidane ebenfalls: Er verließ das Feld zwar geschlagen, aber gefasst in der Niederlage. Mark Stöhr
Lange noch nach der Kopfstoß-Affäre bekam Marco Materazzi von gegnerischen Fans vor allem eine Beschimpfung zu hören: „Sohn einer Hure“. Sie ist bei einem so kontroversen Spieler wie dem heute 37-Jährigen sicher nicht selten. Die Anhänger aber wussten: Ihn trafen sie damit ins Mark. Materazzis Mutter starb, als er 15 war. Er hat sie mit zwei Tattoos auf seinem Körper verewigt. Einmal auf dem Nacken mit dem Schriftzug ihres Namens, Anna. Zum anderen sind auf seinem Rücken zwei Flügel eines Schutzengels aufgeklappt. Niemals würde er die Mutter eines anderen beleidigen, versicherte er, nachdem Vorwürfe laut geworden waren, er habe Zidane als „Sohn einer terroristischen Hure“ bezeichnet (➝ Antworten). Das hatte nicht einmal Zidane behauptet. Der erklärte vielmehr seinen Ausraster auch damit, dass seine Mutter, Malika, gesundheitlich angeschlagen gewesen sei und er sich Sorgen um sie gemacht habe. Malika jedoch befand sich offenbar rasch auf dem Weg der Besserung. Bezogen auf Materazzis vermeintliche Verunglimpfung wird sie mit folgender Replik zitiert: „Wenn er das gesagt hat, dann schneidet ihm die Eier ab und serviert sie mir auf einem Tablett.“ MS
Es ist komisch: Eigentlich will keiner Opfer sein – trotzdem finden sich nach einer Auseinandersetzung oft alle Beteiligten als solche wieder. Beobachten ließ sich das nach dem WM-Finale 2006. Materazzi avancierte zum unsympathischsten Sieger der WM-Geschichte. Das Posieren mit Pokal ließ nicht vergessen, dass der Makel des unfairen Provokateurs (➝ Antworten) an ihm klebte.
Und Zidane? In den Medien und in Netz-Kommentaren tauchte schnell die Rechtfertigung auf, er sei als Täter selbst Opfer, denn aufgrund seiner Sozialisation (➝ Zone) habe er nicht anders reagieren können. Dass er selbst diese Rolle ablehnte (➝ Rjäng), tat nichts zur Sache. Die Selbsteinschätzung ist für die Erteilung des Opferstatus vernachlässigbar. Eine der übelsten Beschimpfungen auf deutschen Schulhöfen hat Materazzi übrigens Zidane gar nicht zugemutet. Er nannte ihn nie: Opfer. Jan Pfaff
Es war eine sinfonische Vorahnung: der Soundtrack zu Zidane, un Portrait du XXIème Siècle. Man sagt, die schottische Band Mogwai habe seinerzeit wegen Termindrucks viel improvisieren müssen. Aber was macht das schon, wenn die Wahrheit eines Werks erst nach seinem Erscheinen vollendet wird? Am 24. Mai 2006 kam der ebenso puristische wie pathetische Dokkunst-Streifen in die Kinos, der die Partie Real Madrid gegen Villareal hinter der Überfigur Zidane zum Verschwinden bringt.
Gegen Ende des Spiels fliegt Zizou nach einer Rangelei vom Platz des Estadio Santiago Bernabeu – im Film von einer sphärisch-dunklen Hymne verabschiedet. Anderthalb Monate später folgen erst das WM-Finale von Berlin und der Kopfstoß, letzter Akt des Gesamtschauspiels Zidane. Mogwai hatte es geahnt: It would have happened anyway. Tom Strohschneider
„Anwender greift unter Einsatz seines Lebens mit einem Kopfstoß an und nimmt dabei selbst jede Menge Schaden“ – auch die okkulte Pokémon-Welt kennt den gemeingefährlichen Kopfstoß. Treten sich die Taschenmonster in der Arena Auge in Auge gegenüber, dann gehört dieser „Angriffsmove“ zu den gefürchtetsten, weil offensivsten aller Attacken. Zusammen mit dem Steinwerfer stellt der Kopfstoß den stärksten verfügbaren Angriff dar. Nur ganze 14 der 500 sich duellierenden Biester können den Kopfstoß überhaupt einsetzen und ihre Pokémon-Rübe mit einer Genauigkeit von 80 Prozent ins Ziel abfeuern. In der Psycho-Dimension aber gibt es noch den Zen-Kopfstoß, bei dem der Angreifer seinen Willen bündelt und dem Gegner mental in die Magengrube rammt. Exakt 55 Pokémons können diesen Gedankentrick erlernen. Der knuffigste Zen-Kopfstößler ist wohl Brutalanda: Der blaue Drache mit Silberblick setzt gern mal ganze Wälder in Flammen, wenn er nicht gerade das Kopfstoßen übt. TP
Er stand im Schwimmbad eines Hotels in Montreal. Er trug Shorts, und eine Trillerpfeife um den Hals: Zidane, der Bademeister. Ich stellte ihm Fragen zu seinem zweiten Leben, schwarze Löcher, nach dem Finale. „Vater sein“, sagte Zidane lässig und zeigte auf seine Söhne im Schwimmbecken, „das ist jetzt meine schwierigste Rolle“. Er plauderte über die Werte, die ihm sein Vater mitgegeben hatte. „Er brachte mir Respekt bei.“ Den wolle er nun auch seinen Kindern vermitteln. Worin der sich äußern konnte, das bestimmte Zizou irgendwie instinktiv.
An diesem Tag wirkte er sehr friedlich, aber ich suchte das Ungezähmte und arbeitete mich vor. Was er davon halte, wenn man – gerade ihm – dem Einwanderer-Sohn, mangelnden Respekt auf dem Platz vorwerfe. Zidane schwieg, sein Blick wurde reserviert. Dann wandte er sich seinem Sohn im Schwimmbecken zu. „Hey, Enzo, attengsjeng!“ Es klang wie ein Befehl. Er schaute auf die Uhr. Noch zwei Minuten. „Monsieur Zidane, gibt es etwas, das Sie bereuen?“, fragte ich. „Rjäng“, sagte er mit algerischem Dialekt. „Absolümeng rjäng“. Er lächelte wie befreit. Mong Dieu, da war er wieder. Sein Stolz. Respekt! Maxi Leinkauf
So ein Kopfstoß kann ein Markenzeichen sein. Für Zidane ein sicher ungeliebtes, für einen Chinesen ein vermeintlich lukratives. Der PR-Unternehmer hatte 2006 relativ fix eine stilisierte Darstellung des Fouls aus der Taufe gehoben und plante, sie als Logo für verschiedene Sportartikelhersteller zu Geld zu machen. Was daraus geworden ist: Man weiß es nicht. Vermutlich aber nichts.
Auch dem italienischen Modedesigner Alessandro Ferrari wurde seine Kollektion mit dem Zidane-Köpfer nicht gerade aus den Händen gerissen. Vielleicht lag das an der Botschaft, die er damit transportieren wollte, nämlich diese „widerliche Handlung“ abzulehnen. Viel cleverer stellten es da drei Musiker an, die mit „Coup de Boule“ (Kopfstoß) einen echten Sommerhit landeten. Refrain: „Achtung! Das ist der Kopfstoß-Tanz. Kopfstoß nach links, Kopfstoß nach rechts.“ Ganz in Schwarz, der Farbe der Selbstmordattentäter, präsentierte sich die Adaption durch radikale Islamisten. Sie brachten T-Shirts mit dem Kopfstoß-Symbol in Umlauf und feierten den arabischstämmigen Zidane als Märtyrer, der den Ungläubigen die Stirn geboten habe. MS
Zinédine Zidane wurde 2006 zum Zonenkind erklärt. Als er zum Stirnstoß ansetzte, hieß es damals im Feuilleton, habe er sich so verhalten, wie er es auf der Straße gelernt habe, „wahrscheinlich als Junge in Marseille, im Problemviertel La Castellane“. Das Problem an dieser Erklärung liegt in ihrer Denkrichtung. Zidane wird hier zum ➝ Opfer seiner Pränormierung, zum passiven Empfänger verbindlicher Verhaltensregeln: Wenn jemand deine Schwester beleidigt, verpasse ihm einen Kopfstoß. So wurde er, nachdem er längst ein Mann von Welt geworden war, degradiert zu einem „Geprägten“. Dabei konnte er die Beleidigung seines Gegners nur verstehen, weil er lange genug außerhalb von Marseille gelebt hatte – in Italien nämlich. Ein Zonenkind? Eben nicht. Ein Weltmann! Es wird dem großen Zidane gerechter, wenn man sagt: Hier hat ein impulsiver Kosmopolit die dümmstmögliche Entscheidung getroffen. Klaus Raab
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