An der Haltelinie

Wundersamer Alltag Unser Kolumnist fragt sich, warum wir rote Ampeln als Fußgänger oft ignorieren, als Autofahrer eigentlich nie. Zeigt sich da zu großer Respekt vor staatlicher Autorität?

Ein Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, Sie kommen an eine Ampel, die Rot zeigt. Die Verkehrssituation ist vollkommen übersichtlich, weit und breit ist kein Auto, kein Fußgänger, kein Radfahrer zu sehen. Nichts. Sie halten an, und warten, dass es Grün wird – aber es wird nicht Grün. Nun stellen Sie sich diese Situation in drei verschiedenen Varianten vor, einmal sitzen Sie im Auto, einmal auf dem Fahrrad, einmal kommen Sie zu Fuß. Wie lange würden Sie jeweils warten, bevor Sie die Nerven verlieren und das Rot einfach missachten?

Einer nicht-repräsentativen Umfrage zufolge würden die meisten Menschen als Fußgänger sehr schnell die Geduld verlieren, rasch nach links und rechts schauen und dann losrennen. Als Fahrradfahrer würden viele auch nicht deutlich länger warten – im Auto allerdings würden die meisten Menschen ewig warten. Das deckt sich mit meinen Erfahrungen und Beobachtungen. Irgendetwas zwingt uns als Autofahrer, vor der roten Ampel zu verharren, während wir als Fußgänger das Gebot nach kurzer Ungeduld mutig missachten.

Den Grund für dieses Verhalten konnte mir noch niemand nennen – und was an Gründen angeboten wurde, klingt eher wie eine nachträgliche Konstruktion eines spontanen Verhaltens, eine Methode, die wir oft verwenden um unserem Tun im Nachhinein einen Anschein von Rationalität zu verleihen. Irgendwo tief in uns muss es ein Tabu geben, das dazu führt, mit dem Auto nicht bei Rot zu fahren. Naturgegeben kann es kaum sein, denn während der biologischen Evolution gab es vielleicht schon mal hin und wieder ein rotes Licht, aber keine schnellen Autos.

Wie haben wir es gelernt?

Wo ist der Unterschied zwischen der Situation des Autofahrers und des Fußgängers? Zwei Dinge kommen in Frage: Das eine ist, wie wir die Dinge gelernt haben: Von unseren Eltern haben wir gelernt: "Bei Rot musst du warten, bei Grün darfst du starten." Sie haben uns an die Hand genommen und uns dieses Verhalten antrainiert. Autofahren hat uns zumeist ein Fremder beigebracht, nach einem staatlich vorgeschriebenen Verfahren, und am Ende haben wir eine Prüfung abgelegt, nach der wir ein behördliches Zertifikat in den Händen hielten, auf das wir stolz waren und das uns – nebenbei gesagt – eine Menge Geld gekostet hat. Das Fahrradfahren liegt irgendwo dazwischen – zwar haben wir es meist von Eltern gelernt, aber viele haben auch in der Grundschule unter polizeilicher Aufsicht einen „Fahrrad-Führerschein“ erworben.

Der zweite Unterschied zwischen Fußgänger und Autofahrer ist, dass sich der Fußgänger bei seiner Ordnungswidrigkeit nur auf sich selbst und seine körperlichen Fähigkeiten verlassen muss, während der Autofahrer einer Technik vertrauen muss, die er nicht restlos durchschaut. Vielleicht misstrauen wir dem Auto, befürchten eher, dass es irgendwie schief gehen könnte, dass das Auto uns im Stich lassen könnte? Das würde dann tatsächlich ein tief sitzendes Tabu widerspiegeln, die Tatsache, dass wir trotz gegenteiliger Erfahrungen den eigenen Fähigkeiten und den überschaubaren Techniken mehr trauen als komplizierten Verfahren und komplexen Technologien. Auch bei diesem Erklärungsversuch liegt das Fahrradfahren wieder in der Mitte: Wir verstehen halbwegs, wie es funktioniert und die Zahl der technischen Defekte, die beim Überfahren des Rotlichtes passieren können, ist begrenzt.

Dieser zweite Erklärungsversuch hat allerdings seine Schwächen, da er nicht universell gilt. Ich traue zum Beispiel dem Ergebnis eines Taschenrechners bei der Ausführung einer Divisionsaufgabe viel mehr als meinen eigenen Fähigkeiten, egal, ob ich die Division auf einem Blatt Papier nach einem Verfahren durchführe, das ich in der Schule gelernt habe, oder ob ich die Aufgabe im Kopf löse – obwohl ich doch überhaupt keine Vorstellung davon habe, wie der Taschenrechner das macht mit der Division.

Natürlich gibt es Unterschiede zwischen dem Vertrauen in meine körperlichen und meine geistigen Fähigkeiten, genauso wie es Unterschiede zwischen meinen Erfahrungen hinsichtlich der Zuverlässigkeit von Autos und von Taschenrechnern gibt. Aber das macht die Sache schon wieder zu kompliziert, denn ich denke ja nicht über die Wahrscheinlichkeit des Versagens des Motors nach, während ich da so ungeduldig aber doch wie hypnotisiert auf das rote Ampellicht starre.

Die Autorität des Staates

Bleibt also die Erklärung, dass wir staatlichen Vorschriften und Autoritäten einfach viel stärker und zwanghafter gehorchen als der Mutter und dem Vater. Was der Staat zum Gesetz erhoben und mir in vorgeschriebenen Verfahren beigebracht hat, sitzt weit tiefer als die guten Ratschläge und Anweisungen der Eltern. Sicherlich muss man nicht ausgerechnet im Straßenverkehr anfangen, das zu ändern, aber es tut gut, mal darüber nachzudenken, was mich letztlich eigentlich dazu zwingt, an den Haltelinien des Lebens stehenzubleiben.

Jörg Friedrich geht immer donnerstags in seiner Kolumne "Wundersamer Alltag" seinem ganz alltäglichen Staunen über die Welt nach. Denn alle Philosophie beginnt beim Staunen. Und alle Weltveränderung mit einem Wundern. Vergangene Woche wunderte sich Friedrich über Schriftbotschaften auf seinem Fernsehschirm.

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Geschrieben von

Jörg Friedrich

Naturwissenschaftler, IT-Unternehmer, Philosoph

Jörg Friedrich

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