In der Automatenhalle der Bank steht eine junge Frau am Kontoauszugsdrucker. Offenbar hat sie eine Menge Konten, für die sie lange keine Auszüge abgeholt hat – immer wieder verschwindet eine neue Karte im Automaten, der surrend einen Bogen nach dem anderen aus dem Schlitz schiebt. Hinter ihr wartet ein älterer Herr. Die junge Frau, ein wenig schuldbewusst lächelnd, weist ihn darauf hin, dass er auch am Selbstbedienungsterminal, das zwei Meter weiter steht, Auszüge drucken könne – woraufhin der schon etwas gebeugte, grauhaarige Mann, der um die 75 Jahre alt sein mag, ihr antwortet, er habe Zeit.
Hat er Zeit? Gemessen an der jungen Frau und selbst verglichen mit dem Philosophen, der – ebenfalls an einem der famosen Selbstbedienungsgeräte stehend – den kurzen Dialog belauschte, verbleibt dem Mann, rein statistisch gesehen, nur noch wenig Zeit, die er in Automatenhallen von Banken, auf Parkbänken, auf dem Fernsehsofa bei seiner Frau oder auf der Spielplatzbank neben küssenden Kindern aus dem Wohnblock gegenüber verbringen kann. Warum sagt er, er habe Zeit, genug Zeit um die etwas aufwändigere Bedienung des Terminals zu scheuen und lieber einfach zu warten, bis der einfache Auszugsdrucker frei wird? Niemand steht gern in den Vorräumen von Banken herum und lauscht mit Freude dem Summen und Brummen der grauen Geräte – warum versucht der Mann nicht, diesem Ort so schnell wie möglich wieder zu entkommen?
Jung und rastlos
Natürlich gibt es eine einfache Antwort: Wahrscheinlich hat der alte Mann an diesem Tag, vielleicht sogar in dieser Woche, keine Verpflichtung, keine Verabredung, keinen Termin – kurz – keine Aufgabe mehr. Er muss die Zeit nur herumbringen, er wartet vielleicht darauf, abends einen Film zu sehen, vielleicht auch darauf, dass am Samstag die Enkel zu Besuch kommen – vielleicht wartet er auch nur noch auf den Tod. Vielleicht ist sein Leben, genau genommen, schon vorbei, er hat Zeit, weil seine Zeit längst abgelaufen ist.
Die anderen beiden hingegen, die mit ungeduldigen Blicken auf das Papier warten, das sich aus den Automaten schiebt, müssen oder wollen zurück an ihre Arbeitsplätze, wo die Pflicht ruft, die Arbeit wartet, Telefonate zu erledigen sind, Aufgaben abgeschlossen werden müssen, Termine anstehen. Sie, die noch Jahrzehnte vor sich haben, haben keine Zeit.
Offenbar haben wir nur gelernt unsere Zeit für die Dinge zu nutzen und zu verplanen, die andere uns auferlegen: der Job, die Familie, der Sportverein vielleicht. Sie bestimmen, was wir tun und worauf wir unsere Zeit verwenden. Das knappe Gut Zeit wird für die Verpflichtungen aufgebraucht, die die Gemeinschaft uns auferlegt. Das wäre auch gar nicht problematisch und ist keine Erfindung der modernen Gesellschaft. Man könnte sogar sagen, dass die Tatsache, dass nach all den Pflichten noch Zeit übrig ist, das Problematische ist: Vor Jahrzehnten noch waren die Menschen, wenn die Pflichten des Tages erledigt waren oder sie sonntags vom Kirchgang zurückgekehrt waren, einfach erschöpft und nutzten die verbleibenden paar Stunden zur Erholung, um weitere Pflichten erfüllen zu können – und wenn die Gemeinschaft ihre Kraft nicht mehr brauchte, wenn weder die Pflicht zum Broterwerb noch die zur Beaufsichtigung von Enkeln oder zum Schälen von Kartoffeln noch benötigt wurde, dann starben sie.
Das moderne Phänomen ist, dass die Gemeinschaft uns nur auf Zeit braucht: Montags bis Freitags, von 8:00 Uhr bis 18:00 Uhr, wenn wir Kinder haben, ein bisschen länger. Und spätestens, wenn wir 65 sind, ist Schluss. Der Rest der Zeit ist uns überlassen, und da haben wir sie dann, die Zeit, und wissen nicht wohin damit, lesen Kommentare in Online-Communities oder warten in Automatenhallen von Banken geduldig, dass der Drucker frei wird.
Eine Bekannte, die an fünf Tagen in der Woche von früh bis spät „auf Achse“ ist, gruselt sich vor dem Wochenende: sie schlendert zuerst samstags über den Markt und hofft, ein paar Freunde zu treffen, dann geht sie vielleicht ins Fitness-Studio, abends ins Kino oder zur Party. Die Stunden dazwischen, und der Sonntag sind lang, da hat auch sie Zeit. Niemand fordert dann etwas von ihr.
Was bleibt, ist die Flucht in die Kreativität. Wir können malen, töpfern, Blogartikel schreiben. Wir können auch auf Berge klettern, Marathon laufen. Für die Zeit, in der uns die Gemeinschaft keine Ziele setzt, müssen wir uns jeder selbst eines suchen. Wir schreiben Selbstverpflichtungen, schaffen uns Aufgaben. Wenn mich schon kein anderer braucht, dann braucht mich eben die Aufgabe, die ich mir selbst geschaffen habe.
Jörg Friedrich geht immer donnerstags in seiner Kolumne "Wundersamer Alltag" seinem ganz alltäglichen Staunen über die Welt nach. Denn alle Philosophie beginnt beim Staunen. Und alle Weltveränderung mit einem Wundern. Vergangene Woche empörte sich Friedrich über Spargel aus Peru
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