Wie wird ein Land eigentlich zum Schuldnerland? Die Frage erscheint auf den ersten Blick banal. Indem es über seine Verhältnisse lebt, lautet eine populäre Antwort. Oder – in der kritisch-aufgeklärten Variante: Indem es eine spekulative Blase nährt, sei es im Immobilien- oder Finanzsektor, die eines Tages zerplatzt, eine Krise auslöst und die Staatsschulden hochtreibt. Am Ende stehen klar messbare ökonomische Größen: Schuldenquote, Haushaltsdefizit, Wirtschaftsentwicklung. Wie ist es dann aber möglich, dass Spanien als Krisenstaat gehandelt wird, während sich Großbritannien problemlos an den Kapitalmärkten refinanzieren kann? Die Schuldenquote Spaniens liegt bei 80 – die Großbritanniens bei 88 Prozent. Die jährliche Neuverschuldung der Briten ist höher als die der Iberer. Beide Länder kämpfen mit einer Krise im Bankensektor und auf dem Immobilienmarkt. Beide sind in einer Rezession. Aber die Spanier müssen für ihre zehnjährigen Anleihen über fünf Prozent mehr bezahlen als die Briten.
Der entscheidende Unterschied findet sich – jenseits der ökonomischen Daten – im institutionellen System. Während die Bank of England unbegrenzt Geld drucken kann, um die Kurse der britischen Anleihen zu verteidigen, ist die spanische Notenbank als Teil des Eurosystems dazu nicht mehr in der Lage. Auch die USA und Japan mit ihren Schuldenquoten von über 100 beziehungsweise 235 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung können sich – gestützt auf die Schlagkraft ihrer Notenbanken – bequem refinanzieren, ohne als „Schuldnerländer“ von fremden Hilfen abhängig zu werden.
Seit Beginn der Finanzkrise 2008/09 nehmen solche Diskrepanzen jedoch auch innerhalb der Eurozone zu. Belgien, mit seiner Schuldenquote von über 100 Prozent und einem ebenfalls gebeutelten Bankensektor, zahlt vier Prozent weniger Zinsen als Spanien. Deutschland kann kurzlaufende Anleihen sogar zu Negativzinsen platzieren, bekommt also dafür, dass es sich Geld leiht, von den Anlegern noch eine Prämie geschenkt – trotz einer Schuldenquote von über 80 Prozent. Allein mit der Exportstärke der deutschen Wirtschaft ist das kaum zu rechtfertigen. Offenbar hängt die „Solidität“ eines Staates entscheidend von seiner Fähigkeit ab, die Finanzmärkte in seinem Interesse zu beeinflussen. Innerhalb der Eurozone ist es die wirtschaftliche und politische Machtverteilung, die zu ungleichen Entwicklungschancen führt und das Auseinander-Driften von „Schuldner-Ländern“ und „soliden Ländern“ bewirkt. Ein Beispiel ist die erstaunlich gegenläufige Entwicklung Spaniens und Deutschlands.
Doppelbödige Moral
Es war im Frühjahr 2007, als der damalige spanische Premier José Luis Zapatero ambitioniert verkündete, in zwei oder drei Jahren werde man die Deutschen beim Pro-Kopf-Einkommen überholen. Spanien, das noch im Jahr seines EU-Beitritts 1986, zu den ärmsten Ländern der EU gehörte, galt zu diesem Zeitpunkt als Aufsteiger Europas – mit einem jährlichen Wachstum von über drei Prozent, einem boomenden Tourismus und steigenden Exporten. Niemand in der EU hatte am spanischen Wachstumsmodell etwas auszusetzen. 2007 erwirtschaftete der spanische Staat einen Überschuss von mehr als 20 Milliarden Euro. 2008 lag die Schuldenquote unter 40 Prozent. Geradezu vorbildlich hatte Zapateros Regierung den Wirtschaftsboom genutzt, um Schulden abzubauen.
Im Vergleich dazu war Deutschland eher ein Hort der finanziellen Disziplinlosigkeit. Von 2002 bis 2005 brach Berlin vier Jahre lang den Stabilitätspakt, mit Haushaltsdefiziten von mehr als drei Prozent. Das fällige Strafverfahren der EU wurde jedoch nach einer Intervention der Regierung Schröder auf Eis gelegt. Eine Entscheidung, die der Schröders Reformen begeisterten EU-Kommission nicht schwer gefallen sein dürfte. Ausgerechnet Deutschland – dessen früherer Finanzminister Theo Waigel hatte die Grenze von maximal drei Prozent Neuverschuldung gegen heftigen Widerstand anderer EU-Länder durchgesetzt – konnte diese Grenze nun folgenlos überschreiten. Die doppelbödige Moral gab den Deutschen die Chance, ihre schwächelnde Konjunktur durch klassisches deficit spending anzukurbeln. Als zusätzlicher Stimulus wirkten die Vorteile des Euro. Die Ausfuhren der exportorientierten deutschen Ökonomie in die Euroländer stiegen von 2003 bis 2007 um jährlich neun Prozent an.
Von der Finanzkrise ab 2008 wurde die spanische Wirtschaft besonders heftig getroffen. Der Immobilienboom, der alle Kennzeichen einer Blase trug, fiel in sich zusammen. Zapatero startete umfangreiche Konjunkturprogramme, in deren Folge das Staatsdefizit 2009 auf über zehn Prozent stieg – allerdings bei einer nach wie vor niedrigen Gesamtverschuldung. Spanien hatte im Boom gespart und wollte nun zur Krisenbekämpfung Geld ausgeben – deficit spending, ähnlich wie die deutsche Regierung ein paar Jahre zuvor. Doch noch 2009 leitete die EU-Kommission ein Defizitverfahren ein und verlangte von der Regierung in Madrid, ihre Konjunkturprogramme sofort zu beenden. Premier Zapatero fügte sich. Während in Deutschland mit milliardenschweren Konjunkturpaketen, der Abwrackprämie und verlängertem Kurzarbeitergeld gegen die Rezession angekämpft wurde, schwenkte Spanien gezwungenermaßen auf einen harten Konsolidierungskurs ein.
Die deutsche Regierung hingegen brach 2010 den Stabilitätspakt erneut, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie gab – vernünftigerweise – der Rettung der eigenen Exportindustrien Vorrang vor jener Spardoktrin, die sie bald ganz Europa oktroyierte. Erneut war das deutsche deficit spending erfolgreich. Das Haushaltsdefizit verringerte sich ab 2011 durch steigende Steuereinnahmen quasi im Alleingang.
Sicherer Hafen
Zweifellos hat der Zusammenbruch des spekulativen Baubooms in Spanien ein gigantisches Strukturproblem hinterlassen. Die erzwungene Konsolidierung mitten in der Krise ließ die Wirtschaft jedoch auf breiter Front einbrechen. Zunehmend geriet auch die Mittelschicht in Finanznöte und konnte ihre Kredite nicht mehr bedienen. Massenarbeitslosigkeit und eine anhaltende Krise brachten die spanischen Banken schließlich in eine bedrohliche Schieflage. Im Jahr 2011 war in deutschen Zeitungen vom „hoch verschuldeten Spanien“ und einem „Euro-Schuldensünder“ die Rede. Die spanische Schuldenquote lag zu diesem Zeitpunkt bei gerade einmal 68 Prozent des Bruttoinlandsproduktes – im „soliden“ Deutschland bei 80 Prozent.
Dieselben Medien feiern nun die zügige Erholung der deutschen Wirtschaft. Die Deutschen hätten „ihre Hausaufgaben“ gemacht, hart gearbeitet und nicht über ihre Verhältnisse gelebt – im Unterschied zum „Club Med“ und den „Verschwendern aus Madrid und Rom“. Immer häufiger wird gegenüber den Südeuropäern ein pauschaler Verschwendungsvorwurf erhoben, der allenfalls auf Griechenland zutrifft. Er liefert den geistigen Unterbau für ein zunehmendes Nord-Süd-Gefälle, in dem die deutsche Wirtschaft auf vielfältige Weise zum Krisengewinner avanciert: Seit Beginn der Finanzkrise kann sie mit ihrem exportseitigen Geschäftsmodell von der Konjunkturförderung anderer Länder profitieren. Zusätzlich begünstigt der schwächelnde Euro die deutschen Exporte. Und je mehr sich die Finanzmarktakteure auf die kriselnden Südländer einschießen, desto billiger kann sich Deutschland refinanzieren, weil seine Anleihen zum sicheren Hafen werden. Auch deutsche Unternehmen bekommen dadurch Kredite zu günstigeren Konditionen. Selbst mit der gigantischen Kapitalflucht aus Griechenland, Spanien und Italien machen deutsche Großbanken gute Geschäfte. Die masssenhafte Abwanderung qualifizierter junger Leute aus Griechenland und Spanien ist für die unter Fachkräftemangel leidende deutsche Wirtschaft ein Segen.
Dieselbe Krise, die Spanien in eine Abwärtsspirale aus Rezession, Zinsdruck, einem hohen Haushaltsdefizit, Kapitalflucht und sinkenden Ausfuhren stürzt, beschert Deutschland niedrige Zinsen, eine entspannte Haushaltslage, Exportstärke und Wachstum. Dabei ist die Mehrheit der Deutschen davon überzeugt, dass die Krisenländer auf ihre Kosten leben. Selbst in seriösen Medien ist immer wieder von deutschen „Milliardengeschenken“ an die Südeuropäer die Rede. Tatsächlich hat die Bundesregierung bis jetzt nur Bürgschaften und Kredite gewährt, ähnlich wie auch Frankreich, Italien, Spanien und die meisten anderen Euroländer. Zugleich hat Deutschland in gigantischer Größenordnung „von den Schmerzen des restlichen Europa profitiert“, wie es der US-Ökonom Robert Kuttner ausdrückt. Aus ihrer hegemonialen Position heraus konnte die Bundesregierung das europäische Nord-Süd-Gefälle nutzen, um Deutschland erhebliche Vorteile zu bescheren.
Neue Front
Inzwischen hat sich das Nord-Süd-Gefälle, wie Italiens Premier Mario Monti am vergangenen Wochenende feststellte, in eine „Frontstellung zwischen Nord und Süd“ verwandelt. Für Italien und Spanien ist es nicht mehr tragbar, der Spekulation schutzlos ausgeliefert zu sein. So fordern die Südeuropäer immer lauter einen Kurswechsel in der Krisenpolitik, um vor spekulativen Angriffen der Finanzmärkte wirksam geschützt zu sein.
Doch Bundeskanzlerin Angela Merkels Strategie des Durchwurschtelns am Rande des Abgrunds, ihre Weigerung, die Länder der Eurozone effektiv vor der Spekulation zu schützen, scheint Teil des neuen deutschen Geschäftsmodells. Nur solange die südeuropäischen Länder im Feuer der Spekulation stehen, ist Deutschland der sichere Hafen, der sich kostenlos refinanzieren kann. Die Bundesregierung verteidigt für sie vorteilhafte hegemoniale Strukturen, wenn sie finanzielle Hilfen nur unter Auflagen gestatten will. In der Konsequenz bedeutet das: Wer die Auflagen nicht erfüllen kann, aus welchem Grund auch immer, steht vor dem Bankrott, so wie heute Griechenland.
Nur ein wirksamer und nachhaltiger Schutz vor Spekulation – sei es durch Eurobonds, durch eine Banklizenz für den künftigen Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM oder zumindest ein klares Bekenntnis der EZB zur bedingungslosen Verteidigung der Staatsanleihen der Eurostaaten – kann den Krisenländern helfen. Es wäre damit in Euroland auch ein Schritt in Richtung Gleichberechtigung und Chancengleichheit getan.
Gabriela Simon hat zum Thema Eurokrise zuletzt über die Flucht der Griechen aus der Stadt aufs Land geschrieben
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