Vielschichtige unter sich: Vlady, Torte, Peter van Eyck, Jean Gavin
Foto: Alex Quinio/Gamma-Rapho/Getty Images
Vergegenwärtigt man sich den Lebensweg von Marina Vlady, kommen einem vor fast 100 Jahren von Emmy Hennings geschriebene Verse in den Sinn: „Und öffnen sich mir alle Pforten, / Bin ich nicht da, bin ich nicht dorten? / Bin ich entstiegen einem Märchenbuch?“ Allein Vladys familiärer Hintergrund könnte die Erfindung eines fabulierfreudigen Romans sein: die Eltern russische Emigranten, die nach der Oktoberrevolution in Frankreich Zuflucht fanden; der Vater Flugpionier und Opernsänger, die Mutter Tänzerin. Gemeinsam hatten sie fünf Kinder, davon vier Mädchen, von denen drei Schauspielerinnen wurden, als jüngste Catherine Marina de Poliakoff-Baïdaroff (so Vladys klangvoller Geburtsname); einmal standen alle drei zusammen auf der
der Bühne: als Tschechows Drei Schwestern.Vladys Karriere begann vor über 70 Jahren in französischen Radio- und Synchronstudios, von wo aus ihre damals bereits markant vibrierende Stimme in dem Land gehört wurde, in dem sie immer eine heimische Fremde blieb. Wenige Jahre später, da war sie keine 15 Jahre alt, spielte Vlady Botticelli-hafte Schönheiten in italienischen Abenteuer- und Liebesfilmen aus der goldenen Ära des Cinecittà, an der Seite von Marcello Mastroianni und Alberto Sordi. Sogar in einer deutschen Produktion, Sie (1954), trat Vlady damals als Hauptdarstellerin auf, inszeniert von Rolf Thiele, in der zu Tränen rührenden Rolle einer französischen Sekretärin, die eine bewegte Liebe zu einem ungarischen Studenten durchmacht. (Über 30 Jahre später, 1989, sollte Vlady nochmals in einem deutschen Film spielen, in Follow Me von Maria Knilli.)Marina Vlady eroberte das Kino zu einer Zeit, als es eine naive, abenteuerlustige Kunstform war: als es seine Geschichten und Protagonisten, dank intensiver Schwarz-Weiß-Kontraste oder der Bonbonbuntheit seiner Farben, fern des Alltags in unerreichbaren Schauplätzen ansiedelte; als lange, gefühlvoll ausgeleuchtete Großaufnahmen der Schauspieler den Zuschauern zu Projektionsflächen wurden.Eine entwaffnende Lieblichkeit, verletzliche, markant hinter den hohen Wangenknochen strahlende Augen prägen das für die große Leinwand geschaffene Teenagergesicht Vladys. Die filmische Sublimierung dieser Merkmale folgte am Ende ihrer ersten Karrierephase. Ihre Darbietung in der französisch-schwedischen Co-Produktion Die blonde Hexe von 1956 machte sie weltberühmt: Vlady spielt eine junge Waldbewohnerin in Schweden, die sich in einen ausländischen Ingenieur verliebt und dafür von der Bevölkerung des nahe gelegenen Dorfes in den Tod getrieben wird.Feenhaft, fürs ErsteDas Weltentrückte, Feenhafte ihrer Erscheinung vermittelt sich in jeder ihrer scheuen Gesten und Blicke, ebenso wie das platinblond fluoreszierende Haar vom ersten Augenblick an ihre Andersartigkeit unterstreicht – Wolf Rilla sollte mit diesem Stilmittel 1960 in Das Dorf der Verdammten eine ganze Gruppe von Kindern zur Bedrohung einer Kleinstadt machen. Faszinierenderweise machte Die blonde Hexe gerade auf das Kinopublikum in der Sowjetunion, dem der Ausbruch der Tauwetterphase der eigenen Kinematografie noch bevorstand, immensen Eindruck. Als Vlady viel später dem legendären Schauspieler und Sänger Wladimir Wyssozki (1938 – 1980) begegnete, ihrem künftigen Mann, war er schon zwölf Jahre in sie verliebt – nachdem er als Jugendlicher diesen Film gesehen hatte.Mit dem Ende der 1950er Jahre begann die zweite Phase von Vladys Karriere, geprägt von der Arbeit mit Autorenfilmern: allen voran Robert Hossein, dem damaligen Ehemann und Vater ihrer Kinder, unter dessen Regie sie sich zum erwachsenen blonden „Vamp“ wandelte, etwa in Nachts fällt der Schleier (1958), eine der virtuosesten französischen Einverleibungen des Film noir. Dann Hauptrollen bei Luciano Emmer, Orson Welles, Sergej Jutkewitsch, Miklós Jancsó – und Marco Ferreri, dessen erster in Italien gedrehter Film Die Bienenkönigin (1963) Vlady die Auszeichnung als beste Schauspielerin in Cannes einbrachte.Spätestens jetzt konnte man regelmäßig ihre Fähigkeit bezeugen, intellektuelle und ambivalente Rollen zu meistern: „dirigiert“ von Jean-Luc Godard als sich prostituierende und damit der Logik des Kapitalismus folgende Hausfrau in 2 oder 3 Dinge, die ich von ihr weiß (1967), bei Ferreri als mit Ugo Tognazzi jungvermählte Frau aus hochkatholischem Hause, die alle Manneskraft ihres Gatten aussaugt, bis sich ihre Ehe legitimiert – nämlich durch die Geburt eines Kindes, die mit dem Dahinscheiden des nunmehr nutzlosen Ehemannes zusammenfällt. Ihr enigmatischer Blick auf diesen satirischen Zusammenfall der Ereignisse am Ende des Films ist eine der ikonischen Einstellungen der Kinogeschichte.Marina Vladys Verdienst als Künstlerin liegt auch darin, dass sie ihre Berühmtheit früh für gesellschaftliche und politische Zwecke einsetzte. Sie war ausgesprochene Gegnerin des Algerienkrieges, Feministin erster Stunde – eine jener Frauen, die sich 1971 öffentlich dazu bekannten, abgetrieben zu haben, und setzt sich bis heute für Obdachlose und sans-papiers ein.Liebe ist ein großes, scheues Wort. Vladys verdienstvolle Eintragung ins Geschichtsbuch des Begriffes bleibt die Beziehung zu Wyssozki, dem wohl letzten Volksdichter Russlands. Vor seinem Tod pries er, alkohol- und seelenkrank, Vlady in einem Gedicht für ihre Hingabe, die ihm sein Leben um zwölf Jahre (so lange waren sie ein Paar) verlängert habe.Für die Liebe zwischen zwei Welten (so der deutsche Titel ihres literarischen Debüts Wladimir oder Der unterbrochene Flug von 1987), das ständige Pendeln zwischen Paris und Sowjet-Moskau, gab sie einige der besten Jahre ihrer Kinokarriere hin – und fand, nach dem frühen Tod Wyssozkis dank ihm zu einer neuen, fruchtbaren Karriere als Schriftstellerin. Die begann mit dem Erfolg des Buchs über ihn und zog zehn weitere Werke nach sich, verfasst in klarem, gefühlvollem Stil, darunter ihre Kino-Erinnerungen 24 Images/Seconde (die noch eine Übersetzung ins Deutsche verlangen). Am 10. Mai wird Marina Vlady 80 Jahre alt.
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