Dieser erste Auslandseinsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebietes wird von den Zeitgenossen als Zäsur empfunden. Im Rückblick nach 25 Jahren und darüber hinaus bis in die frühe Bundesrepublik ist der Kambodscha-Einsatz fast vergessen und kaum noch wahrnehmbar als Teil eines Prozesses, bei dem Schritt für Schritt das Militär zum Mittel der Politik wurde. Das Grundgesetz von 1949 sah keine westdeutsche Armee vor. Als die Bundesrepublik 1954 dem Militärpakt Westeuropäische Union (WEU) und 1955 der NATO beitrat, hatte sie hierfür zunächst weder eine Truppe noch eine verfassungsrechtliche Grundlage. Beides musste in der Folgezeit nachgeliefert werden, juristisch 1956 durch die Einfügung einer „Wehrverfassung“ in das Grundgesetz. Hier wurde bestimmt, dass die Bundesrepublik Streitkräfte zu Verteidigungszwecken aufstelle (Art. 87a), und dass sie sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit sowie internationalen Bündnissen und Organisationen beitreten dürfe (Art. 24).
Prinzipiell waren damit Einsätze im Bereich von NATO und WEU denkbar. Mit der Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen seit 1973 erweiterten sich dem Prinzip nach die Einsatzmöglichkeiten, doch wurde davon zunächst kein Gebrauch gemacht: Die Entsendung von Truppen „out of area“ (außerhalb der Bundesrepublik und der NATO) schien mit der strikten Zweckbestimmung Landesverteidigung nicht vereinbar. Die Teilnahme von Bundeswehr-Einheiten an Hilfsaktionen bei Erdbeben in Marokko 1960 und Algerien 1965 überschritt nicht den Rahmen, den auch zivile Hilfsaktionen hatten, galt also nicht als militärische, sondern humanitäre Aktion.
Mit dem Ende des Kalten Kriegs ab 1989 entfiel die Gründungsursache der Bundeswehr. Ähnliches galt für die NATO. Für beide war der Gegner, der von einem Angriff abgehalten werden sollte, verschwunden. Es begannen Jahre einer Neudefinition des Atlantikpaktes, die ab der NATO-Ratstagung 1999, während bereits ein Angriffskrieg auf Jugoslawien geführt wurde, in das Konzept einer „präventiven Allianz“ mündete. Die Bundesrepublik ging diesen Weg mit, musste sich aber noch mit verfassungsrechtlichen Fesseln befassen, die sie sich früher angelegt hatte.
1990/91 beteiligte sie sich nicht am Krieg eines von den USA geführten Bündnisses gegen den Irak, da er out of area stattfand, wohl aber mit ihrer Marine an einer „Aktion Südflanke“ zur Abwehr einer etwaigen Bedrohung für die NATO-Partner Griechenland und Türkei. Der zweite Teil dieses Einsatzes – Minenräumung im Persischen Golf – führte de facto schon über das Gebiet des Nordatlantikpaktes hinaus und wurde daher wiederum als humanitäre Aktion legitimiert – immerhin aber schon im Kontext eines von Bündnispartnern geführten Krieges.
Damit operierte die Bundeswehr bereits dicht an der Grenze ihres in der Verfassung festgeschriebenen ursprünglichen Auftrags. Unverkennbar befand sie sich in einem Rechtfertigungsnotstand. Nach wie vor war sie eine Wehrpflichtigen-Armee. Ihren Rekruten konnte der Zweck des Dienstes bei einem etwaigen Auslandseinsatz nicht als klassische „Vaterlandsverteidigung“ erklärt werden.
Nicht nur bei ihnen, sondern für die Bevölkerung insgesamt musste mit dem gerechnet werden, was damals der Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) als die „gewachsenen Instinkte der Menschen in Deutschland“ bezeichnete. Nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg hatte für die Bürger der Bundesrepublik der Erhalt des Friedens – neben der Wahrung des Wohlstands – oberste Priorität. Jede Aufrüstungsmaßnahme musste gegen diese Mentalität und unter ihrer Berücksichtigung durchgesetzt werden. Der Stationierung atomar bestückter Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper durch die NATO im Jahr 1983 war eine riesige Friedensbewegung vorangegangen, die das zu verhindern suchte.
Nach dem Fall der Mauer 1989 entstand die Hoffnung auf eine „Friedensdividende“. Es sollten bisher militärisch gebundene Ressourcen in den zivilen Bereich umgeleitet werden. Verunsicherung über die künftige Rolle der Streitkräfte machte sich offenbar auch im Führungskorps der Bundeswehr bemerkbar. Generalinspekteur Klaus Naumann warf den Admiralen und Generälen vor: „Ein Fisch beginnt am Kopf zu stinken.“ Beide Äußerungen – die des Ministers und die seines obersten Soldaten – fielen ins Jahr 1992. Es begann eine Offensive, um einen von ihnen als nicht länger hinnehmbar angesehenen Zustand zu überwinden. Rühes Ministerium erarbeitete „Verteidigungspolitische Richtlinien“, die erst am 26. November 1992 fertiggestellt wurden, aber schon den Hintergrund sich anbahnender operativer Entscheidungen bildeten. Hier wurde ein Konzept der „erweiterten“ Sicherheit vorgestellt. In diesem Zusammenhang griff die Bundesregierung eine Bitte der UNO auf, ihr innerhalb einer Friedensmission in Kambodscha ein Sanitätskontingent zur Verfügung zu stellen. Tatsächlich befanden sich schon seit November 1991 zunächst sechs, dann 18 solcher Soldaten in diesem Land.
Karlsruhe genehmigt die Out-of-Area-Einsätze
Nun wurde diskutiert, ob dieser Einsatz verfassungskonform sein werde. Artikel 24 des Grundgesetzes bestimmte als einzigen Zweck der Armee die Verteidigung. Darum handelte es sich eindeutig nicht. Es bestand jetzt auch kein Interesse mehr daran, die Entsendung als ausschließlich humanitäre Aktion auszugeben. Wie 1954 beim WEU- und 1955 beim NATO-Beitritt ging auch hier wieder die politische Entscheidung der verfassungsrechtlichen Klärung voraus: Die Regierung von CDU/CSU und FDP beschloss die Entsendung der Sanitätssoldaten. Auch die SPD stimmte zu. Auf ihrem Bremer Parteitag 1991 hatte sie entschieden, dass durch eine Verfassungsänderung die Teilnahme deutscher Soldaten an friedenserhaltenden Missionen – aber nur an diesen! – der UNO möglich sein sollte. Unmittelbar danach standen, von der Regierung forciert, zwei weitere Entscheidungen an: die Beteiligung der Bundeswehr an der „Operation Sharp Guard“ der NATO und der WEU zur Absicherung eines Embargos gegen Jugoslawien und an einer UN-Stabilisierungsmission in Somalia.
Diesmal verweigerte sich die SPD, nicht aus politischen, sondern aus prozeduralen Gründen. Im August 1992 hatten ihre Spitzengremien in der sogenannten Petersberger Wende (benannt nach dem Tagungsort bei Bonn) beschlossen, eine Änderung des Grundgesetzes zugunsten von Kampfeinsätzen mit UN-Mandat anzustreben. Die SPD klagte vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die beiden Einsätze, da das Parlament nicht damit befasst worden war. Auch die FDP, obwohl Regierungspartei, unternahm diesen Schritt, allerdings nur gegen eine Beteiligung an NATO-Überwachungsflügen über Bosnien-Herzegowina.
Am 12. Juli 1994 wurden die Klagen abgewiesen. Karlsruhe hielt die Out-of-Area-Einsätze für verfassungskonform. Die Kläger erzielten insofern einen Teilerfolg, als das Gericht entschied, dass der Bundestag über solche Missionen abstimmen müsse. In der Sache selbst bedeutete das nicht viel, denn üblicherweise hat die Regierung eine Mehrheit im Parlament, also auch bei Abstimmungen über Out-of-Area-Missionen. Mit der Interpretation des Bundesverfassungsgerichts zugunsten der strittigen Einsätze – einer Art Rechtsfortbildung – war eine Änderung des Grundgesetzes in diesem Sinn überflüssig.
1993 kam der 26-jährige Sanitätssoldat Alexander Arndt in Kambodscha bei einem Anschlag ums Leben, das erste von mittlerweile über 100 Todesopfern der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen. Die genaue Zahl der durch solche Missionen getöteten nichtdeutschen Bewaffneten und Zivilisten dürfte nicht bekannt sein. Auf einer Kommandeurstagung 2008 stellte der damalige Generalinspekteur Schneiderhan fest, die Bundeswehr sei mittlerweile von einer Verteidigungsarmee zu einer Armee im Einsatz geworden. Die Ereignisse der Jahre 1992 bis 1994 bildeten eine Etappe auf diesem Weg.
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