1998: Werber an die Macht

Zeitgeschichte Mit Gerhard Schröder als Kanzlerkandidat gewinnt die SPD die Bundestagswahl und beendet die Ära Kohl. Die neue rotgrüne Regierung ist trotzdem keine „der 68er“
Ausgabe 39/2018
Schröder und Fischer hatten bald schon den Kosovo-Krieg im Blick
Schröder und Fischer hatten bald schon den Kosovo-Krieg im Blick

Foto: Rainer Unkel/Imago

Spätestens mit der Bundestagswahl 1994 begann der Abstieg Helmut Kohls. Die Union verlor 2,3, die mit ihr koalierende FDP 4,1 Prozent. Die SPD gewann 2,9, Bündnis 90/Die Grünen 2,2, die PDS 2,0 Prozent hinzu. Dies ließ sich als Linksverschiebung interpretieren, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass 1990, unmittelbar nach dem Anschluss der DDR, Kohl einen Triumph eingefahren hatte, dessen Wiederholung ohnehin nicht zu erwarten war. Dennoch galt der Kanzler fortan als Auslaufmodell. Die Wirtschaftseliten und die dominierenden Medien wiederholten die Vorwürfe, die sie schon in den 1980er Jahren erhoben hatten: Er sitze Probleme aus. Insbesondere mache er – trotz einer Einschränkung des Streikrechts durch Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes 1986 – zu wenig Anstalten, das marktradikale Programm, mit dem der FDP-Politiker Otto Graf Lambsdorff 1982 den Regierungswechsel eingeleitet hatte, umzusetzen. Kohl fürchtete Stimmenverluste.

Im September 1989 hatte in Bremen sein Sturz auf einem CDU-Parteitag gedroht, wurde aber verhindert durch die Öffnung der ungarischen Grenze für DDR-Flüchtlinge. 1990 war die Wiedervereinigung Kohl zugutegekommen, 1994 schon nicht mehr. Als sein böser Geist galt der Arbeitsminister Norbert Blüm. Die Einführung der Pflegeversicherung 1995 bestätigte das Urteil, dass Kohl den von seinen Kritikern für falsch gehaltenen Weg – Schonung, in diesem Fall sogar Ausbau des Sozialstaats – fortzusetzen gedenke.

In der Union schwoll das Missbehagen wieder an. Mit Kohl schien man keine Wahlen mehr gewinnen zu können. „Die wollen den nicht mehr“, meinte der grüne Oppositionspolitiker Joseph Fischer Signale aus der CDU/CSU-Fraktion deuten zu können. Zwar war die Konjunktur nach dem Krisenjahr 1993 gerade noch rechtzeitig wieder angesprungen, sodass die Verluste 1994 nicht noch höher ausfielen, aber die Wachstumsraten der folgenden Jahre wurden als enttäuschend eingeschätzt, zumal die Arbeitslosigkeit 1997 einen Stand von 12,7 Prozent erreichte.

Nach wie vor war herrschende Lehre, dass Entlastungen für die Unternehmen ihre Investitionsbereitschaft und damit auch die Beschäftigung heben würden. Immerhin versuchte Kohl dem jetzt Rechnung zu tragen: die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurde gekürzt, die Vermögenssteuer nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ausgesetzt. Es gab eine Rentensenkung, aber da eine Wende nicht sofort eintrat, blieb der Daumen gesenkt: zu wenig, zu spät.

Als Hoffnungsträger wurde in der Union der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble gehandelt. Kohl, um den Erhalt persönlicher Macht bemüht, rief sich 1997 als Kanzlerkandidat für 1998 aus und bezeichnete den Konkurrenten als potenziellen Nachfolger für später. Der Kraftakt war keiner, sondern eher ein autoritäres Aufbäumen aus Schwäche.

Bei der SPD sah es besser aus. 1995 hatte Oskar Lafontaine den glücklosen Rudolf Scharping vom Parteivorsitz verdrängt. Obwohl er nicht im Bundestag war, wurde er zum Oppositionsführer: Als saarländischer Ministerpräsident dirigierte er im Bundesrat die Stimmen der sozialdemokratischen Länder und blockierte Vorhaben der Regierung. FDP und Union warfen ihm vor, er sorge damit für Stagnation, aber letztlich wurde auch das Kohl angelastet: Unter ihm gelinge eben nichts mehr.

Während die Union an ihrem Frontmann zweifelte, hatte die SPD einen unangefochtenen Star. Nachdem Gerhard Schröder bei der Landtagswahl in Niedersachsen am 1. März 1998 die absolute Mehrheit der Mandate erreicht hatte, überließ ihm Lafontaine die Kanzlerkandidatur. Eine bis dahin bestehende Rivalität war damit vorerst taktisch bereinigt, die SPD wirkte geschlossener als CDU und CSU. Schröder ließ sich mit dem VW-Chef Ferdinand Piëch beim Wiener Opernball fotografieren und bestellte den Start-up-Millionär Jost Stollmann zum „Schattenwirtschaftsminister“. Dieser verkündete marktliberale Thesen. Den Titel „Genosse der Bosse“ trug Schröder mit Stolz und weckte, ohne es auszusprechen, in Unternehmerkreisen die Hoffnung, dass er liefern könne, was Kohl versprochen, aber nicht gehalten hatte. Zugleich warb Lafontaine auf dem linken Flügel mit dem Thema soziale Gerechtigkeit: Die von der Regierung nach längerem Zögern nun doch vorgenommenen und angekündigten Einschnitte ins soziale Netz müssten unterlassen oder zurückgenommen werden. Diese Arbeitsteilung zwischen den beiden führenden Sozialdemokraten sollte eine möglichst große Breite der Wählerschaft abdecken, zumal der DGB für eine „neue Politik“ mobilisierte. An einem „Erfurter Appell“, der zur Bündelung sozialpolitischer Reformkräfte aufrief, beteiligten sich auch PDS-Politiker. Im Sommer 1998 fanden Demonstrationen gegen die Verschärfung des sozialpolitischen Kurses der schwarz-gelben Koalition statt: Da dieser erst nach der Wahl richtig umgesetzt werden sollte, korrigierte er nicht die längst eingetretene Enttäuschung der Unternehmer, gab aber Stoff für die Proteste der – auch außerparlamentarischen – Opposition.

Die Grünen legten sich auf ein gemeinsames Regierungsprojekt mit der SPD fest. Auch sie trugen auf beiden Schultern. Der Realo Joseph Fischer bestimmte ihren Kurs, neben dem aber der Parteilinke Jürgen Trittin sichtbar blieb. Wähler, die durch Forderungen nach einem auf fünf DM erhöhten Benzinpreis verschreckt werden mochten, landeten bei der SPD, gingen also einem rot-grünen Bündnis nicht verloren. Zugleich verhinderte diese Art der Radikalität etwaige Verluste auf der linken Seite. Dass Lafontaines und Trittins Auftritte keinen Bürgerschreck auslösten, zeigte sich daran, dass die SPD 1998 – anders als früher – über einen höheren Wahlkampf-Etat verfügen konnte als die Union. Damit finanzierte sie ein aufwendiges Team „Kampa“, das weitgehend unabhängig von der Parteibürokratie agieren konnte. Auch dies ein Signal für nicht ideologisch, sondern eher betriebswirtschaftlich trainiertes effizientes Werbemanagement. Beim Besuch von Industriemessen wirkte der Kanzler unbeholfen, fragte höchstens einmal, was ein Hightech-Exponat koste, während Schröder – unabhängig davon, ob er wirklich mehr davon verstand – versiert auftrat. Kohl, verunsichert, spottete über die „Pee Err“ – die Technik der Public Relations, bei der sein Gegner ihm überlegen war. Von der Bank im Bundesrat aus trat Schröder gegen ihn auf. Kohl beklagte sich, er lasse sich nicht packen. Schröder neckte ihn: Er solle es doch versuchen. Als Maxime seines künftigen Handelns gab er bekannt, er wolle nicht alles anders, aber vieles besser machen als der noch amtierende Kanzler.

Bei der Bundestagswahl vom 27. September 1998 gewann die SPD 4,5 Prozent hinzu und wurde stärkste Partei, während die Union 6,3 Punkte verlor. Einbußen hatten auch die FDP (–0,7) und die Grünen (–0,6), während die PDS (+0,7) erstmals die Fünfprozenthürde überwand. Offenbar hatte die sozialdemokratische Partei mehr Stimmen in der Mitte gewonnen als links, die Verluste der Grünen erschienen als Absage an die Reste ihres ökoradikalen Flügels. Die Vorsitzenden von CDU und CSU, Kohl und Waigel, traten zurück. Am 27. Oktober wurde Schröder zum Kanzler gewählt. Fischer wurde Außen-, Lafontaine Finanzminister. Dieser unterstand somit der Richtlinienkompetenz des Kanzlers, verhinderte andererseits die Aufnahme Stollmanns ins Kabinett und legte sich bald mit dem Sparkurs der Bundesbank an.

Zunächst hatte nur ein Regierungs-, kein Politikwechsel stattgefunden. Noch schien unentschieden, ob die Richtungsvorgaben von Lafontaine oder Schröder sich durchsetzen würden. Für die journalistische Behauptung, 1998 seien „die 68er“ an die Macht gekommen, gibt es keinen Anhalt. Lafontaine und Schröder waren nie in der APO, Fischer hatte sich von seinen früheren Positionen entfernt. Noch vor der Regierungsbildung loteten im Oktober in Washington US-Präsident Clinton, der künftige Bundeskanzler und der Außenminister Gemeinsamkeiten beim Vorgehen gegen Jugoslawien aus.

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