Ablenkung mit Programm

Kommentar Die Volksparteien üben sich in Selbstdefinition

Das diesjährige Sommerloch will einfach nicht enden. Begonnen hat es im Juni mit der Fußballweltmeisterschaft, und als Ende August der Moment herankam, in dem es üblicherweise abgepfiffen wird, ging Kurt Beck in die Verlängerung mit seiner Ansicht, die Sozialdemokratie müsse sich wieder mehr den Leistungsträgern zuwenden.

Der Parteienforscher Franz Walter hat zutreffend darauf hingewiesen, derlei habe seit Willy Brandt so ziemlich jeder Vorsitzende der SPD einmal gesagt, und außerdem sei diese ohnehin eine Partei der Aufsteiger. Sie kann also kaum noch werden, was sie schon ist.

Damit hätte es sein Bewenden haben können, aber da immer noch kein anderes innenpolitisches Thema in Sicht war, ging das Geschnatter jetzt erst richtig los. Irgendjemand mutmaßte, der Vorsitzende rechne gewiss Busfahrer und Krankenschwestern zu den Leistungsträgern. Sie werden den Meinungsaustausch vielleicht gar nicht mitbekommen haben, denn sie haben derzeit anderen Ärger. Die öffentlichen Verkehrsbetriebe, oft schon als GmbHs verfasst, legen sich nämlich Pools von teilzeitbeschäftigten Fahrern zu, aus denen sie sich nach Bedarf bedienen. Festanstellungen werden da immer weniger. Anlässlich des Ärztestreiks haben die Krankenschwestern gerade wieder gelernt, was Hierarchie ist: Die Ärzte bekommen bis zu 14 Prozent mehr, das Pflegepersonal verdient so schlecht wie eh und je und fürchtet um seine Arbeitsplätze. Als dann noch ein sozialdemokratischer Deuter erklärte, auch Dauerarbeitslose, die sich unverdrossen um einen Job bemühen, seien Leistungsträger, glitt das Sommerloch allmählich in die Mainzer Fastnacht hinüber.

Vielleicht haben wir es mit einem Nebenwirbel der SPD-Programmdiskussion zu tun. Der Koordinator der zuständigen Kommission, ein Professor Meyer in Dortmund, wirkt inzwischen schon ziemlich angefressen. Es ist nämlich ein Langzeitprojekt wie der Demokratische Sozialismus selber, der ja bekanntlich eine nie abzuschließende Aufgabe darstellt. Manchmal sagt er: es gebe circa fünfzehn Gebiete, die im Programm abgehandelt werden müssten, und über zwölf sei man sich ja schon einig. Mag sein, dass die verbleibenden drei immer mal wechseln.

Auch die Union vertreibt sich die Zeit mit Grundsatzüberlegungen. Jürgen Rüttgers hat herausgefunden, dass sie an einer Lebenslüge leidet. Diese bestehe in der Ansicht, dass Steuersenkungen automatisch zu mehr Wachstum führen. Mit dieser Kritik hat er zwar Recht, aber er sagt uns nicht, weshalb er das jetzt erst gemerkt hat und nicht damals, als auf einer CDU-Regionalkonferenz ausgerechnet in Nordrhein-Westfalen Norbert Blüm wie ein Ewiggestriger vorgeführt wurde. So dient seine Stellungnahme wohl am ehesten noch der unionsinternen Eigenreklame, ebenso wie Stoibers Warnung, wenn man nicht aufpasse, sei man eines Tages keine Volkspartei mehr. Wenn der Kanzlerin Führungsschwäche vorgeworfen wird, ist das auch so ein ewiges Sommerthema seit Kohl.

Dass die Volksparteien zur Zeit eine so ausgeprägte Neigung zur Selbstdefinition haben, hat viel damit zu tun, dass sie in einer Großen Koalition miteinander verbunden sind und nicht mit dieser verwechselt werden wollen. Dort herrsche ein Sachzwang, der aber doch nicht alles sein dürfe. Der Flucht in die Programm- und Profildebatte sind allerdings Grenzen gesetzt. Entfernt sich die Partei zu weit von dem, was ihre Minister im Kabinett beschließen, hat sie ein Glaubwürdigkeitsproblem.

Nur scheinbar brauchen die Grünen diese Sorge nicht zu haben. Sie sind in der Opposition und haben gerade einen Zukunftskongress abgehalten. Angeblich sind sie da wieder ein bisschen nach links gerückt. Sie sind zwar nicht an einer aktuellen eigenen Regierungspraxis zu messen, wohl aber an ihrer vergangenen. Die haben sie offenbar verdrängt. Ihr Reden über Visionen scheint mit etwaigen schwarzgrünen Bündnissen unvereinbar. Allerdings werden die in den Kommunen immer zahlreicher. Auch hier könnte das Programmgefuchtel objektiv der Ablenkung dienen. Die scheinbar unschuldige Linkspartei kennt dieses Problem seit Cottbus und Dresden ebenfalls schon.

Dass der FDP-Vorsitzende in solcher Umgebung an Statur gewinnt, lässt sich so erklären: Er vertritt keine Klasse, der er nicht angehört, sondern ganz unverfroren und geradlinig die Besserverdienenden. Auch war er noch in keiner Regierung. So muss er sich nicht verbiegen und profitiert nebenbei von einer Müdigkeit, in der selbst Zwanzigjährige den Eindruck haben, irgendwie sei alles schon einmal da gewesen.


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