Einigkeit und Export

Koalition Jamaika ist kein erzwungenes Bündnis. Es wächst vielmehr zusammen, was zusammengehört. Die AfD kann sich freuen
Ausgabe 41/2017
Wahlorakel?
Wahlorakel?

Foto: Sean Gallup/Getty Images

In der Weimarer Republik war von „Bürgerblock-Regierungen“ die Rede, wenn die SPD an einem Kabinett nicht beteiligt war. Und das war meistens der Fall. Die Koalitionen bildeten dann die Zentrumspartei, die anfänglich noch linksliberale Deutsche Demokratische Partei sowie die Großindustriellen der Deutschen Volkspartei. Zuweilen kamen dazu noch die monarchistischen Deutschnationalen.

Wenn später in der Bundesrepublik vom „Bürgerblock“ gesprochen wurde, dann in ihren ersten Jahren meist polemisch von der SPD. Sie verschlief bis Ende der 1950er einen gesellschaftlichen Wandel. Proletariat und Bourgeoisie sortierten sich neu. Schließlich musste sich die SPD im Godesberger Programm 1959 als auch für das Bürgertum offene Volkspartei definieren. Dieser Prozess war eben keine Intrige von machtgierigen Apparatschiks wie – angeblich – Herbert Wehner.

Daran sollte man denken, bevor man der Versuchung nachgibt, die sich anbahnende schwarz-gelb-grüne Koalition als das Ergebnis eines Coups misszuverstehen, der Martin Schulz noch in der Wahlnacht gelungen sei. Durch die Ansage, die SPD werde Opposition sein und nichts als Opposition, schien er CDU, CSU, FDP und Grüne zu einer Notgemeinschaft zu zwingen, um dann deren Widersprüche und Krach, vielleicht sogar deren Scheitern schadenfroh von außen verfolgen zu können.

In Wirklichkeit wächst jetzt zusammen, was schon lange zusammengehört und zueinanderstrebt. Das hat nichts mit Selbstverleugnung der Partner, Machtstreben und Machterhalt allein zu tun, sondern mit dem weiteren Wandel des Bürgerlichen und der Sozialstruktur Deutschlands.

Als die FDP 2013 aus dem Bundestag flog, war klar, dass das noch aus der AdenauerZeit stammende und von Kohl fortgesetzte Modell der rechten Mitte – Schwarz-Gelb – zu schmalbrüstig geworden war. Das, was man nach wie vor Bürgertum nennen darf, hatte sich mittlerweile durch neues Personal angereichert, welches politisch mit FDP und CDU/CSU nicht mehr ausreichend repräsentiert ist. Nicht nur das Proletariat hat sich verändert, auch die untere und mittlere Ebene der Bourgeoisie: es ist eine Millionen zählende Massenschicht der Intelligenz entstanden, gespeist aus Aufsteigern, die schon in den 1960ern die SPD transformierten und sich bis heute in deren Politik spiegeln, die sich aber zudem längst eine eigene Partei geschaffen haben: die Grünen.

Wie alle Neuankömmlinge legitimierten die Grünen ihren Anspruch zunächst mit progressiven, von der alteingesessenen Konkurrenz vernachlässigten Anliegen wie Umweltschutz, zwangen den anderen Aufmerksamkeit für ihre Anliegen und für deren Vertreterinnen ab und akzeptierten schließlich die von ihnen vorgefundenen Verhältnisse in dem Maße, in dem ihre Themen und sie selbst dort ankommen konnten. So trugen sie zu jener Veränderung der CDU bei, die gängigerweise zwar als „Sozialdemokratisierung“ bezeichnet wird, tatsächlich aber mehr ist als das, etwa auch Ergrünung. Die CSU steht noch ein wenig knurrend beiseite, die FDP aber kann da gut mitmachen. Unter Christian Lindner lässt sie – man ist ja liberal, auch in Fragen des Lebensstils – alles gelten, soweit es den Markenkern nicht tangiert: Entfesselung des freien Spiels der ökonomischen Kräfte. Für Angela Merkel, Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir kein Problem.

Damit sind die leicht zu erfüllenden Bedingungen für das Zustandekommen einer Jamaika-Koalition benannt. In den Verhandlungen wird es zu üblichen rituellen Betriebsgeräuschen kommen, bis hin zur Drohung mit dem Platzen. Man kann sich die Langeweile damit vertreiben, die angeblichen Unvereinbarkeiten zwischen den vier Parteien aufzuzählen: Immigration, Haltung zu Russland, Euro, Diesel – alles wird sich mit Formelkompromissen regeln lassen, denn in der unausgesprochenen Hauptsache ist man sich einig. Deutschland muss Exportweltmeister bleiben, damit der so angesaugte Reichtum weiter Spielräume im Inneren erlaubt – dies aber auf Basis jener bereits von Rot-Grün zwischen 1998 und 2005 praktizierten Maxime: keine Umverteilung von oben nach unten, sondern unverändert umgekehrt.

Äußerungen der Kanzlerin und der grünen Spitzenkandidatin im Wahlkampf ließen Veränderungen in der Pflege erwarten. Mit Lindner ist das zu machen, etwa durch private, von Geringverdienern nicht bezahlbare Zusatzversicherungen à la Riester und durch Senkung von Personalmindeststandards, wie sie Heimbetreiber fordern.

Der AfD kann dies alles gefallen. Sie teilt die von Lindner forcierten und von Union und Grünen vertretenen marktradikalen Prinzipien. Zugleich ist sie Opposition auf dem Feld sogenannter weicher Themen, agitiert etwa gegen den Feminismus. Solange die Grünen in der Regierung sind und diese den bisherigen Kurs der sozialen Spaltung fortsetzt, kann die AfD auf Zulauf von kulturell Konservativen und materiell Benachteiligten hoffen. Das Reservoir ist noch nicht ausgeschöpft. Die Grünen sind zur Scharnierpartei geworden wie einst die FDP. Ob künftig die Union oder – nach einer etwaigen Erholung – die SPD eine Regierung anführt, hängt von ihnen ab. Auch das ist eine Chance für die AfD. Um sie könnte in einer ferneren Zukunft, falls etwa die Grünen nicht mehr gebraucht werden oder nicht mehr wollen sollten, der Bürgerblock nach rechts hin erweitert werden.

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