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Parteien Woher rühren die politischen Turbulenzen der Gegenwart? Und wohin werden sie das hiesige Parteienspektrum führen?
Ausgabe 47/2017

Beginnen wir mit den Petitessen, die jetzt so hektisch diskutiert werden. Aus Schwarz-Grün-Gelb ist nichts geworden. Es gibt eine Regierung, wenngleich nur eine geschäftsführende. Wie kann eine reguläre daraus werden?

Da wäre der Vorwurf der Union, die SPD lasse „staatspolitische Verantwortung“ vermissen. Die nannte auch Cem Özdemir zur Begründung dafür, dass er die Grünen fast um jeden Preis nach Jamaika führen wollte.Gehen wir davon aus, dass es eher um die Interessen von Parteien geht. Das ist auch in Ordnung so, denn laut Artikel 21 des Grundgesetzes wirken die Parteien an der politischen Willensbildung mit und müssen deshalb sehen, wo sie bleiben. Im Fall der SPD deckt sich beides. Wer von ihr „staatspolitische Verantwortung“ verlangt, kann nicht gleichzeitig wünschen, dass sie sich durch eine Kehrtwende hin zu einer neuen Großen Koalition pulverisiert.

Was könnte in Anbetracht der verfassungsrechtlich vorgesehenen Formalien also aus der gegenwärtigen Situation folgen? Nach Artikel 63 des Grundgesetzes wird der Bundespräsident dem Parlament jemanden als Kanzler oder Kanzlerin vorschlagen. Dies wird wohl wieder Angela Merkel sein. Ohne Koalition wird sie keine Mehrheit erhalten. Damit erlischt das Vorschlagsrecht des Präsidenten. Innerhalb von 14 Tagen kann im Bundestag selbst eine Kandidatin oder ein Kandidat aufgestellt werden. Nehmen wir einmal an, dies sei erneut Merkel. Bekommt sie die absolute Mehrheit, ist sie gewählt, dann muss der Bundespräsident sie ernennen. Wahrscheinlicher ist, dass sie im zusätzlichen Wahlgang zwar nicht die absolute, wohl aber die relative Majorität erhielte. Dann kann Frank-Walter Steinmeier sie ernennen, muss dies aber nicht tun, sondern kann stattdessen den Bundestag auflösen.

Im ersten Fall könnte Merkel eine Minderheitsregierung bilden. In anderen, durchaus stabilen Demokratien, zum Beispiel in Skandinavien, geschieht das immer wieder, und es bekommt ihnen offenbar gut. Die Regierung holt sich dann je nach Thema die Stimmen mal rechts oder mal links. In Deutschland mit seiner Ideologie innenpolitischer Stabilität ist das schwer denkbar. Hinzu kommt die merkwürdige Panik, was denn aus „Europa“ werden würde, wenn die Regierung derart – angeblich – schwach wäre. Der Gedanke von der unvermeidlichen Führungsrolle der Bundesrepublik hat sich im In- und Ausland stark festgesetzt. Zwar wäre es gut, die anderen Länder emanzipierten sich ein wenig davon, aber daraus wird wohl auch nichts.

Die Figur an der Spitze einer Minderheitsregierung müsste zwei Voraussetzungen mitbringen: erstens Bereitschaft und Fähigkeit zum Lavieren, zweitens unbegrenzte Loyalität der Parteibasis. Das Erste hat Merkel, das Zweite wurde am Tag nach dem Scheitern demonstriert. Ungewiss ist, ob es so bleibt.

Ein Minderheitskabinett wäre aber aus einem anderen Grund keine gute Idee: wenn es von Fall zu Fall Unterstützung durch die AfD annähme oder wenn die SPD, um dies zu verhindern, sich von ihm erpressen ließe. So war es in der Weimarer Republik, nachdem 1930 die NSDAP im Reichstag stark geworden war – diese Art von „Tolerierungspolitik“ ist eine ungemütliche Vorstellung.

Solange Merkel nur geschäftsführend im Amt ist, kann sie nicht – wie Brandt 1972, Kohl im Dezember 1982 und Schröder 2005 – die Vertrauensfrage nach Artikel 68 stellen und sich durchfallen lassen. Ist sie aber gewählte Minderheitskanzlerin, geht das; der Bundestag könnte aufgelöst werden.

Beim gegenwärtigen Stand der Umfragen käme in einer Neuwahl ziemlich das Gleiche heraus wie im September 2017. Das muss nicht so bleiben. Ein dynamischer Wahlkampf mag neue Konstellationen ergeben – fragt sich nur: welche? Zum Beispiel könnte es zu einem Aufwuchs der AfD und der FDP kommen und zu einem noch stärkeren Desaster von Union und SPD, bei dem es vielleicht nicht einmal mehr zu einer schwarz-roten Koalition reicht.

Jetzt aber Schluss mit dem Stammtisch und dem Konjunktiv. Werden wir stattdessen grundsätzlicher, und zwar in historischer Perspektive.

Vertane linke Chancen

Im Wahlkampf 1972 prägte Brandt den Begriff der „linken Mitte“. Sie bestand aus SPD und FDP. Ihre Agenda: neue Ostpolitik und Reformen der Infrastruktur mit äußerst vorsichtiger Tendenz zu einer Umverteilung von oben nach unten. Als die FDP 1982 die Seiten wechselte, regierte 16 Jahre lang die „rechte Mitte“ aus Liberalen und Union. Ihr gesellschaftspolitisches Programm schrieb ihr der FDP-Politiker Otto Graf Lambsdorff: Marktradikalismus. Helmut Kohl, ein kluger Mann, wollte keine Wahlen verlieren, also den Marktradikalismus nicht ausbuchstabieren und so seine Partei zugrunde richten. Er überließ diese Arbeit lieber einer linken Mitte aus SPD und Grünen. Die wurde zum Jungbrunnen für die zwischenzeitlich von manchen schon totgesagte PDS, die mit Oskar Lafontaine west- und gesamtdeutschen Anbau fand.

So entstand eine neue Konstellation: das Nebeneinander einer „strukturellen“ und einer „gouvernementalen“ Linken. Die Erste besteht aus der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Linkspartei. Das ist zunächst nur die Addition von drei Parteien. Mehr hätte daraus werden können durch gemeinsame Politik: Stopp der Marktradikalisierung und der Privatisierungen, stattdessen Ausbau der öffentlichen sozialen Sicherungssysteme, Umverteilung durch Vermögens- und wirksame Erbschaftssteuer sowie Verkleinerung des ökologischen Fußabdrucks Deutschlands.

2005 und 2009 hatten Grüne, Linke und SPD im Bundestag eine numerische Mehrheit. Sie nutzten sie nicht, weil sie eine inhaltliche Verständigung vermieden. Da es nicht zu einer Regierung der „strukturellen Linken“ reichte, begab sich die SPD 2005 und 2013 in Große Koalitionen, die erst ihr, dann auch der Union schadeten.

Werden historische Chancen nicht erkannt, verschwinden sie und kommen zumindest lange Zeit nicht wieder. Auf der Linken scheint sowohl Rot-Grün als auch Rot-Rot-Grün verspielt. Mittlerweile gibt es nun auch eine „gouvernementale“ (CDU/CSU + FDP) und eine „strukturelle“, die AfD einschließende Rechte. Darüber ist nun sogar eine Mitte unmöglich geworden, wie das Scheitern von Schwarz-Gelb-Grün zeigt. Dieses Projekt beruhte auf dem Aberglauben, es gebe keine gesellschaftliche Spaltung in Oben und Unten und keine daraus resultierende, zumindest latente politische Scheidung von Links und Rechts. Demselben Irrtum verdanken sich Große Koalitionen, die nun auf beiden Seiten große Außenbereiche freigesetzt haben.

Die Möglichkeit, dass zwar nicht schon Merkel, aber ihre Nachfolger eine Vereinheitlichung der „strukturellen“ und der „gouvermentalen“ Rechten durch Einschluss der AfD versuchen werden, scheint heute größer als ein ähnlicher Versuch auf der anderen Flanke des Parteienspektrums.

Indessen ist Horst Seehofer fein heraus. Er muss in München keinen Kompromiss verkaufen. Es ist ihm gelungen, in der Frage der Zuwanderung nicht nur Merkel auf seine Position in der Einwanderungspolitik zu ziehen, sondern auch die Grünen. Diese sind demontiert. Die AfD hat angeblich ein Thema weniger, weil eine ihrer Positionen adoptiert wurde – dies bedeutet eine inhaltliche Erweiterung der gouvernementalen Rechten zur strukturellen.

Die Ursache all dieser gegenwärtigen parteipolitischen Verwerfungen ist die soziale Ungleichheit. Und deren Beseitigung ist nicht Sache „staatspolitischer“, sondern gesellschaftspolitischer Verantwortung.

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