Beginnen wir mit den Petitessen, die jetzt so hektisch diskutiert werden. Aus Schwarz-Grün-Gelb ist nichts geworden. Es gibt eine Regierung, wenngleich nur eine geschäftsführende. Wie kann eine reguläre daraus werden?
Da wäre der Vorwurf der Union, die SPD lasse „staatspolitische Verantwortung“ vermissen. Die nannte auch Cem Özdemir zur Begründung dafür, dass er die Grünen fast um jeden Preis nach Jamaika führen wollte.Gehen wir davon aus, dass es eher um die Interessen von Parteien geht. Das ist auch in Ordnung so, denn laut Artikel 21 des Grundgesetzes wirken die Parteien an der politischen Willensbildung mit und müssen deshalb sehen, wo sie bleiben. Im Fall der SPD deckt sich beides. Wer von ihr „staatspolitische Verantwortung“ verlangt, kann nicht gleichzeitig wünschen, dass sie sich durch eine Kehrtwende hin zu einer neuen Großen Koalition pulverisiert.
Was könnte in Anbetracht der verfassungsrechtlich vorgesehenen Formalien also aus der gegenwärtigen Situation folgen? Nach Artikel 63 des Grundgesetzes wird der Bundespräsident dem Parlament jemanden als Kanzler oder Kanzlerin vorschlagen. Dies wird wohl wieder Angela Merkel sein. Ohne Koalition wird sie keine Mehrheit erhalten. Damit erlischt das Vorschlagsrecht des Präsidenten. Innerhalb von 14 Tagen kann im Bundestag selbst eine Kandidatin oder ein Kandidat aufgestellt werden. Nehmen wir einmal an, dies sei erneut Merkel. Bekommt sie die absolute Mehrheit, ist sie gewählt, dann muss der Bundespräsident sie ernennen. Wahrscheinlicher ist, dass sie im zusätzlichen Wahlgang zwar nicht die absolute, wohl aber die relative Majorität erhielte. Dann kann Frank-Walter Steinmeier sie ernennen, muss dies aber nicht tun, sondern kann stattdessen den Bundestag auflösen.
Im ersten Fall könnte Merkel eine Minderheitsregierung bilden. In anderen, durchaus stabilen Demokratien, zum Beispiel in Skandinavien, geschieht das immer wieder, und es bekommt ihnen offenbar gut. Die Regierung holt sich dann je nach Thema die Stimmen mal rechts oder mal links. In Deutschland mit seiner Ideologie innenpolitischer Stabilität ist das schwer denkbar. Hinzu kommt die merkwürdige Panik, was denn aus „Europa“ werden würde, wenn die Regierung derart – angeblich – schwach wäre. Der Gedanke von der unvermeidlichen Führungsrolle der Bundesrepublik hat sich im In- und Ausland stark festgesetzt. Zwar wäre es gut, die anderen Länder emanzipierten sich ein wenig davon, aber daraus wird wohl auch nichts.
Die Figur an der Spitze einer Minderheitsregierung müsste zwei Voraussetzungen mitbringen: erstens Bereitschaft und Fähigkeit zum Lavieren, zweitens unbegrenzte Loyalität der Parteibasis. Das Erste hat Merkel, das Zweite wurde am Tag nach dem Scheitern demonstriert. Ungewiss ist, ob es so bleibt.
Ein Minderheitskabinett wäre aber aus einem anderen Grund keine gute Idee: wenn es von Fall zu Fall Unterstützung durch die AfD annähme oder wenn die SPD, um dies zu verhindern, sich von ihm erpressen ließe. So war es in der Weimarer Republik, nachdem 1930 die NSDAP im Reichstag stark geworden war – diese Art von „Tolerierungspolitik“ ist eine ungemütliche Vorstellung.
Solange Merkel nur geschäftsführend im Amt ist, kann sie nicht – wie Brandt 1972, Kohl im Dezember 1982 und Schröder 2005 – die Vertrauensfrage nach Artikel 68 stellen und sich durchfallen lassen. Ist sie aber gewählte Minderheitskanzlerin, geht das; der Bundestag könnte aufgelöst werden.
Beim gegenwärtigen Stand der Umfragen käme in einer Neuwahl ziemlich das Gleiche heraus wie im September 2017. Das muss nicht so bleiben. Ein dynamischer Wahlkampf mag neue Konstellationen ergeben – fragt sich nur: welche? Zum Beispiel könnte es zu einem Aufwuchs der AfD und der FDP kommen und zu einem noch stärkeren Desaster von Union und SPD, bei dem es vielleicht nicht einmal mehr zu einer schwarz-roten Koalition reicht.
Jetzt aber Schluss mit dem Stammtisch und dem Konjunktiv. Werden wir stattdessen grundsätzlicher, und zwar in historischer Perspektive.
Vertane linke Chancen
Im Wahlkampf 1972 prägte Brandt den Begriff der „linken Mitte“. Sie bestand aus SPD und FDP. Ihre Agenda: neue Ostpolitik und Reformen der Infrastruktur mit äußerst vorsichtiger Tendenz zu einer Umverteilung von oben nach unten. Als die FDP 1982 die Seiten wechselte, regierte 16 Jahre lang die „rechte Mitte“ aus Liberalen und Union. Ihr gesellschaftspolitisches Programm schrieb ihr der FDP-Politiker Otto Graf Lambsdorff: Marktradikalismus. Helmut Kohl, ein kluger Mann, wollte keine Wahlen verlieren, also den Marktradikalismus nicht ausbuchstabieren und so seine Partei zugrunde richten. Er überließ diese Arbeit lieber einer linken Mitte aus SPD und Grünen. Die wurde zum Jungbrunnen für die zwischenzeitlich von manchen schon totgesagte PDS, die mit Oskar Lafontaine west- und gesamtdeutschen Anbau fand.
So entstand eine neue Konstellation: das Nebeneinander einer „strukturellen“ und einer „gouvernementalen“ Linken. Die Erste besteht aus der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Linkspartei. Das ist zunächst nur die Addition von drei Parteien. Mehr hätte daraus werden können durch gemeinsame Politik: Stopp der Marktradikalisierung und der Privatisierungen, stattdessen Ausbau der öffentlichen sozialen Sicherungssysteme, Umverteilung durch Vermögens- und wirksame Erbschaftssteuer sowie Verkleinerung des ökologischen Fußabdrucks Deutschlands.
2005 und 2009 hatten Grüne, Linke und SPD im Bundestag eine numerische Mehrheit. Sie nutzten sie nicht, weil sie eine inhaltliche Verständigung vermieden. Da es nicht zu einer Regierung der „strukturellen Linken“ reichte, begab sich die SPD 2005 und 2013 in Große Koalitionen, die erst ihr, dann auch der Union schadeten.
Werden historische Chancen nicht erkannt, verschwinden sie und kommen zumindest lange Zeit nicht wieder. Auf der Linken scheint sowohl Rot-Grün als auch Rot-Rot-Grün verspielt. Mittlerweile gibt es nun auch eine „gouvernementale“ (CDU/CSU + FDP) und eine „strukturelle“, die AfD einschließende Rechte. Darüber ist nun sogar eine Mitte unmöglich geworden, wie das Scheitern von Schwarz-Gelb-Grün zeigt. Dieses Projekt beruhte auf dem Aberglauben, es gebe keine gesellschaftliche Spaltung in Oben und Unten und keine daraus resultierende, zumindest latente politische Scheidung von Links und Rechts. Demselben Irrtum verdanken sich Große Koalitionen, die nun auf beiden Seiten große Außenbereiche freigesetzt haben.
Die Möglichkeit, dass zwar nicht schon Merkel, aber ihre Nachfolger eine Vereinheitlichung der „strukturellen“ und der „gouvermentalen“ Rechten durch Einschluss der AfD versuchen werden, scheint heute größer als ein ähnlicher Versuch auf der anderen Flanke des Parteienspektrums.
Indessen ist Horst Seehofer fein heraus. Er muss in München keinen Kompromiss verkaufen. Es ist ihm gelungen, in der Frage der Zuwanderung nicht nur Merkel auf seine Position in der Einwanderungspolitik zu ziehen, sondern auch die Grünen. Diese sind demontiert. Die AfD hat angeblich ein Thema weniger, weil eine ihrer Positionen adoptiert wurde – dies bedeutet eine inhaltliche Erweiterung der gouvernementalen Rechten zur strukturellen.
Die Ursache all dieser gegenwärtigen parteipolitischen Verwerfungen ist die soziale Ungleichheit. Und deren Beseitigung ist nicht Sache „staatspolitischer“, sondern gesellschaftspolitischer Verantwortung.
Kommentare 12
Die Krise scheint die Qualität der Diskussion zu befördern. Das ist hier die zweite sehr interessante Analyse in zwei Tagen.
"Umverteilung von oben nach unten"
Ich denke, das ist ein Argument "von oben". Das Wirtschaftssystem hat eine eingebaute Tendenz zum Fluss der Gewinne von unten nach oben. Zwar ist es formell eine Umverteilung, wenn man das korrigiert, aber das Wort hat heutzutage den Beiklang von "gebt den Faulen und Dummen, was die Fleissigen und Klugen erwirtschaftet haben". Dem ist nicht so. Eine gewisse Korrektur der Gewinnflusstendenz ist unabdingbar, nicht (nur) aus Gerechtigkeitsgründen, sondern weil das System sonst gar nicht funktioniert.
-die sozio- ökonomische krise, die noch viel potenzial hat,
besteht in den ungleichen chancen,
in verschärfter global-konkurrenz einkommens-plätze zu behalten,
die den lebens-standard der jetzigen und der kommenden generation
erhalten.
-die politische krise besteht darin, daß das bisherige zentrum (groko)
von noch markt-radikaleren(fdp und afd)
unter populistischen irr-parolen angegriffen wird
(pro-modernisierung oder nationalist.politik).
dabei fällt eine politik des sozialen zusammenhalts,
die spürbaren chancen-ausgleich auf nationalem oder europäischem feld
betreibt würde, noch weiter zurück.
oda?
Das kann man so sehen: die Politik auf die Alternative links-rechts festlegen und zuspitzen. Es ist aber die Frage, ob das in zweifacher Hinsicht realistisch ist; sind 1. die Parteipolitiker und die Wähler willens, sich in diesem Dualismus zu engagieren und muß man 2. realpolitisch den Horizont auf diese Perspektive verengen? Meine Antwort für die Linke ist dementsprechend zweigeteilt: Man muß auch diese Sicht einnehmen (können), aber sie ist eine untergeordnete Perspektive. Wenn sich die Linke darauf beschränkte, gäbe sie sich als Linke auf. Denn diese Alternative von rechter und linker Mitte begnügt sich mit der Alternativlosigkeit des Systems – entweder läßt man sich das System nach seiner eigenen Dynamik entwickeln, wozu man den Staat nur noch für die gesetzlichen Rahmenbedingungen braucht, die das Funktionieren des Systems möglichst reibungsfrei gestalten, oder man betrachtet den Staat als notwendige Korrekturinstanz, die die Härten und Gemeinheiten der Systementwicklung abmildert, durch Minimalstandards und Umverteilung von oben nach unten. Kapitalismus der reinen Lehre oder Reformkapitalismus. Würde die Alternative von rechter und linker Mitte sich mit der Systemfrage verbinden, wäre die eine Seite die der Systemerhaltung, die andere die des Systemwechsels. Diese Alternative gibt es aber derzeit nicht, weder bei den Wählern noch bei den Mitte-Politikern. Die linke Mitte ist Mitte, also systemkonform. Die Linke muß aber eine systemtranszendierende Perspektive haben, sonst verdient sie ihren Namen nicht. Es macht allerdings keinen Sinn, diese linkskonstitutive Haltung einer überwältigenden Bevölkerungsmehrheit entgegenzusetzen, die ideologisch in der Denklogik des Systems befangen ist. Um das, was real abläuft, zu verstehen, ist es sinnvoller, von einer Tripolarität auszugehen, die ja im Sprechen von rechter und linker Mitte impliziert ist: es gibt eine Mitte und es gibt ein rechtes und ein linkes Extrem, also eine rechte und linke Alternative zur Mitte.
Bei genauerer Analyse der gegebenen Verhältnisse zeigt sich, daß die Rechte noch schwächer, noch realitätsferner als die Linke ist bzw agiert. Der Kapitalismus hat sich so gründlich durchgesetzt, daß eine antikapitalistische Konterrevolution nur noch als faschistische Entartung der Gesellschaft gedacht werden kann. Die halte ich für wenig wahrscheinlich. Eher läuft es, wenn der Neoliberalismus nicht durchzuhalten ist, auf einen linken oder rechten Reformkapitalismus hinaus, also eine Dreiteilung des kapitalistischen Lagers in Vertreter des autoritären, neoliberalen oder sozialdemokratischen Kapitalismus. Vielleicht ist China die Referenz für die weltgeschichtliche Entwicklung, die Systemfrage wird entschieden an der Alternative autoritärer Ordokapitalismus oder Kommunismus; wenn es in China noch substantielles linkes Denken gibt – einen Rest (konfuzianischen) Maoismus.
Der Rechtspopulismus jedenfalls zielt auf einen solchen Ordokapitalismus, wobei es kaum auf die Inhalte der autoritären Ordnung ankommt, sondern nur auf die Funktion der Komplexitätsreduktion (und Realitätsverschleierung). Die AfD ist wie alle populistischen Parteien Europas und Amerikas eine solche der rechtsnationalistisch kapitalistischen Mitte, sie vereint Neoliberalismus, nationalistische Innen-/Interessensperspektive und gesellschaftliche Gleichrichtung. Im Sinne dieser Perspektive könnte sich also eine systemrelevante Alternative entwickeln. Aber das hängt von einem Erstarken einer radikal linken Partei ab, die in der Bevölkerung verankert ist. Die Linke muß diese langfristige Perspektive haben.
Kann die SPD Bündnispartner sein? Ja, so lange nicht die Systemfrage gestellt wird und die SPD von der Linken keine Ergebenheitserklärung zur Systemerhaltung fordert. Das gilt auch für eine Koalition mit den Grünen. Also RRG als Zweckbündnis gegen Schlimmeres. Aber an eine Koalition mit einer linken SPD oder linken Grünen zu glauben, ist realitätsverleugnendes Wunschdenken. Eine solche Koalition ist eine linke-Mitte-Koalition, nicht links. Mehr ist derzeit nicht möglich, mehr setzt voraus, daß die Linke stärkste Kraft in einem solchen Bündnis wird.
In der näheren Zukunft geht es also darum, wie sich die Mitte organisiert. Die Linke spielt dabei nur die Rolle des Ideengebers, Provokateurs, des Einforderers emanzipatorischer Vorstellungen, kann die anderen zwingen, erkenntlich zu werden; das Selberdenken der Bevölkerung kann man fördern, aber nicht erzwingen.
Der Artikel wie auch die ersten drei mir derzeit bekannten Kommentare sind in der Tat wirklich erhellend.
Zum Artikel:
Der Vollzug des Artikels 63 GG verlangt in der ersten Phase zur wirksamen Kanzlerwahl die absolute Mehrheit, sog. Kanzlermehrheit, also mindestens 355 Stimmen. Eine solche Zustimmung wird nach Aufruf durch den Bundespräsidenten auch Frau Merkel nicht bekommen; das sollte unstreitig sein.
Dann folgt die zweite Phase des Artikels 63, die nicht ausgiebig genug abgehandelt erscheint: Es geht hier nicht nur darum, dass ein zweites Mal Frau Merkel sich zur Wahl stellen kann. Vielmehr ist es so, dass aus der Mitte des Bundestags, wofür ich sehr werbe, um die Gunst der Stunde für die vom GG vorgesehenen Alternativen auszuloten, beliebig viele Wahlvorgänge zur Kanzler-Wahl anderer Kandidaten zulässig und möglich sind und auch praktiziert werden sollten, auch wenn insoweit ebenso zur erfolgreichen Wahl 355 Stimmen notwendig wären.
Im Sinne der "Systemerhaltung" bzw. des "Systemwechsels" (wie von w. endemann erörtert) sollten, davon bin überzeugt, die Akteure der "Tripolarität" je ihren Kandidaten zur Wahl aufrufen. Für die Partei Die Linke wäre das zweifelsfrei Frau Dr. Wagenknecht, die seit Jahr und Tag dem Neoliberalismus den Kampf angesagt und für die zwingend erforderliche Wiederherstellung des Sozialstaats (Artikel 20 und 28 GG) mit Macht streitet. In der Tat gibt es um diesen ehrenwerten, vom GG getragenen Einsatz von Wagenknecht ein landesweites defizitäres Wissen gerade bei jenen, die w. endemann zum "Selberdenken" auffordert.
Ein Wahlversuch in dieser zweiten Phase des Artikels 63 mit der Kandidatin Wagenknecht, auch wenn er hier noch an der Kanzlermehrheit scheitern würde, wäre ein "PAUKENSCHLAG", der den Blick von Millionen Wählern auf die "systemtranszendierende Perspektive", auf eine denk- und machbare emanzipatorische Regierung Mitte-links lenken würde. Ein gedanklicher "Ruck" (Herzog) würde durchs Land gehen.
Andere Kandidaten aus der "Tripolarität" mögen es ebenso halten; aber man sähe aus der Anzahl der jeweiligen Zustimmung, auch wenn alle in dieser Phase an der Erfordernis der 355 Stimmen scheitern würden, eine Tendenz der Meinungsfindung im Parlament sich herausschälen.
Für all diese Wahlgänge steht eine Frist von 14 Tagen zur Verfügung; so bestimmt es das Grundgesetz. Mit der letzten – erfolglosen – Wahl käme es dann zum Show-Down, zur dritten Wahlphase, den Absatz 4 des Art. 63 wie folgt festlegt:
"Kommt eine Wahl innerhalb dieser Frist nicht zustande, so findet unverzüglich ein neuer Wahlgang statt, in dem gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält."
An dieser Stelle, wir holen Luft, sehen ich und potentiell alle Gegner des Neoliberalismus und der "marktkonformen Demokrtie" antreten:
Frau Merkel und Frau Wagenknecht. Es kommt zur Abstimmung.
Definitiv gewählt von den beiden Damen wäre, wer "die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereint", also 355 Stimmen, was nach Lage der Dinge für beide Kandidatinnen nicht der Fall sein dürfte.
Was dann? Es hilft ein Blick ins Gesetz, wo es im Absatz 4, Satz 1 ja am Ende heißt:
" .... gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält." Danach reicht also für diese Wahl bereits die relative Mehrheit. Wer würde mehr Stimmen bekommen, Frau Merkel oder Frau Wagenknecht ("Systemerhaltung" die Erste, "Systemwechsel" die Zweite)?
Und ja, eine lebendige Demokratie verlangte nach so einem Wahlvorgang, der für das Millionenherr von Bürgern deutlich machte: Demokratie bedeutet(e), eine Wahl zu haben.
Unabhängig davon, wer von den beiden Ladies gewählt würde, schlüge dann erneut die Stunde des Bundespräsidenten, denn es heißt im Gesetz, Absatz 4, Satz 3:
"Erreicht der Gewählte diese Mehrheit nicht, so hat der Bundespräsident binnen sieben Tagen entweder ihn zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen." ("Diese Mehrheit" meint die Kanzlermehrheit von 355 Stimmen.)
Es obläge danach dem Bundespräsidenten, die Kandidatin zur Bundeskanzlerin zu ernennen, die "die meisten Stimmen erhielt" oder aber Neuwahlen auszurufen.
Sollte er Neuwahlen ausrufen z.B. bei einer mit relativer Mehrheit gewählten Sahra Wagenknecht, welche Millionen Bürger bewegende Dynamik wäre für das sich vertiefend im Wahlkampf zu findende Mitte-links-Bündnis allein durch dieses vorstehend aufgezeigte und jederzeit dem Grunde nach machbare Wahlprozedere entstanden!
Nur Mut. Wann, wenn nicht jetzt!
Angenommen, Frau Wagenknecht würde tatsächlich durch eine Art Abstimmungsunfall die meisten Stimmen erhalten. Dann würde Folgendes geschehen: Der Bundespräsident würde den Bundestag auflösen. Das darf er, wenn sie nicht mit absoluter Mehrheit gewählt wurde.
Aber Ja. Das habe ich am Ende meines Beitrags doch als Möglichkeit, die in der alleinigen Verantwortung des Bundespräsidenten liegt, beschrieben.
Bedenken Sie den nächsten Schritt:
Nach Entscheidung für Neuwahlen müssen diese binnen "60 Tagen" (Art.39 GG) abgehalten werden. Zeit für alle Parteien, allein oder im Bündnis je einen dynamischen Wahlkampf der Alternativen mit konkreter Machtoption zu führen, der wirbt
a) für die breite Mitte, also ein Merkelsches Weiter-so
b) für eine Koalition Mitte-rechts, ggf. mit Einbindung von FDP oder/und AfD
c) für eine Koalition Mitte-links, und das kann nur RRG sein.
Ich bin überzeugt: Die Wahlbeteiligung vom Herbst dieses Jahres von 76,2 Prozent würde noch mal erheblich übertroffen, da die Bürger je nach ihrer Vorstellung/Überzeugung je konkrete Machtoptionen auswählen könnten, nachdem das Scheitern von Jamaika und dann auch das Nichtzustandekom-menen einer GroKo die Beliebigkeit der letzten Wahl, also das damalige Nichtwissen des Wählers, welche Parteien denn in einer Koalition zusammengingen, beendet hat. Der Wähler hätte echte – drei – Varianten.
Der Wettstreit um die besten Lösungsansätze der im Lande und in Europa aufgestauten Probleme wäre eröffnet.
Fänden Sie das nicht auch gut?
Ich teile nicht die Auffassung, dass bei Neuwahlen einfach ein paar kleine Parteien (AfD, FDP, Grüne) noch mehr zulegen würden. Es ist auch im Interesse der Bürger, eine stabile Regierung zu haben. Statt wirklungslose Selbstdarsteller zu wählen, wird der Wähler eher wieder regierungserfahrene Parteien bevorzugen. Die SPD wird sicher zu den Gewinnern gehören und das würde dem Land gut tun.
Nach all den klugen Spekulationen und Denkmodellen, bei denen so häufig das Wort "Mitte" benutzt wird, scheint es mir notwendig darauf hinzuweisen, dass dieses Wort "Mitte" auch und nicht gerade selten ein politischer Kampfbegriff ist. Man denke nur an Merkels merk-würdige Worte als Spitzenkandidatin der Partei der Mitte: "In der Mitte sind wir und nur wir. Wir sind die Mitte. Wo wir sind, ist die Mitte." oder an Sigmar Gabriel, der sich um die "hart arbeitende Mitte" kümmern wollte. Dabei nutzen alle die positiven Gefühle, die mit der "goldenen Mitte" oder auch dem "goldenen Mittelweg" verbunden sind, denn man nur ungern mit Randgruppen oder Extremen identifiziert werden. Gesellschaftlich ist es gut, wenn es eine breite und solide Mittelschicht gibt, und eine gute Ökonomie zeichnet sich durch einen breiten und soliden Mittelstand aus.
Bedenkt man solche sprachlichen Manöver, dann muss doch immer wieder die Frage nach den politischen, sozialen und ökonomischen Inhalten gestellt werden. Nicht an schönen Worten, an den Taten müssen wir sie erkennen und unterscheiden!
Völlig richtig, Gunnar Jeschke: "Umverteilung (oder "Umfairteilung") von oben nach unten" greift zu kurz - erst recht für die Linkspartei. Sie lässt die Regelungen der Wirtschaftsordnung, die genau dafür sorgen, dass der Reichtum systematisch von unten nach oben fließt, unangetastet, sondern würde lediglich das System etwas reparieren bzw. dessen Niedergang durch Polarisierung verzögern. Eigentlich gebräuchten wir die folgende Konstellation einer "strukturellen Linken" (Fülberth) in Form einer Arbeitsteilung: A) Die SPD setzt sich für "Umfairteilung von oben nach unten" ein (wird also wieder sozialdemokratisch), B) die Linkspartei kümmert sich insb. um den notwendigen Umbau der Wirtschaftsordnung (insb. Reform des überbordenden Eigentumsrechts und der Unternehmensformen - siehe Vorschläge Wagenknecht hierzu), und C) die Grünen können sich beim Kampf um eine Ökowende zwischen beidem frei entscheiden oder aufteilen.
Ihr gelungener Hinweis auf die "sprachlichen Manöver" mit dem Wort ´Mitte` meint zurecht, dass der "Existenz einer über alle Zweifel erhabenen Mitte" (TAZ) mit Zweifeln und Skepsis zu begegnen ist.
Denn die Politik dieser Mitte war ja nun in den letzten bis zu drei Jahrzehnten geprägt von dem Mantra TINA, der "Religion" des vermeintlich alternativlos daher kommenden Neoliberalismus.
Auf der Seite der Bundeszentrale für politische Bildung findet sich diese doch sehr hilfreiche Passage:
"Der Begriff Extremismus stammt von den lateinischen Wörtern 'extremus' und 'extremitas': das erste bedeutet: äußerst, entferntest, aber auch: der ärgste, gefährlichste, schlechteste, verächtlichste; das zweite der äußerste Punkt, Rand [2]. Mit dem oben zitierten Begriff des politischen Extremismus werden quasi Orte in einem - der Komplexität der Gesellschaft wird das nicht gerecht - eindimensionalen politischen Spektrum, der Rechts-Links-Achse, bestimmt: er bezeichnet Positionen an den Rändern "rechts und links des politischen Spektrums" [3]. Dass die Mitte, die als Gegenpol zu "extremus" als nah, harmlos, gut oder respektiert verstanden wird, kann bezweifelt werden, wenn man sich daran erinnert, dass aus der Mitte der deutschen Gesellschaft heraus seinerzeit der Faschismus groß geworden ist.
Der amtliche Extremismusbegriff, definiert die Bewegung weg von den Rändern hin zur "normalen" politischen Mitte [4] als Bestrebungen, die sie in ihrer Substanz bedrohen. Deshalb bestehen die Aufgaben des Verfassungsschutzes darin, solche Bestrebungen zu verhindern, "die gegen die "In der Mitte sind wir und nur wir. Wir sind die Mitte. Wo wir sind, ist die Mitte.", den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziele haben". [5]
Quelle:
http://www.bpb.de/politik/extremismus/linksextremismus/33591/definitionen-und-probleme
Deutungsmuster zur gesellschaftlichen Selbstentlastung und als Selbstbetrug
Zum "Extremismus der Mitte" hat bereits in der 90er-Jahren der Soziologe Wilhelm Heitmeyer veröffentlicht. Auf dessen Langzeitstudien ist die Politik nie eingegangen. In einem Interview vom November 2015 mit dem Deutschlandfunk sagt er:
"Und 1993 hat die damalige Jugendministerin, Frau Angela Merkel, unsere Untersuchung, die Jugenduntersuchung aus der Zeit als eine Art kommunistische Propaganda abgetan. Man kann das nachlesen im August 1993 auch in einem Bericht der "Zeit". Da können Sie sehen, welche Deutungsmuster früher schon herrschten und immer noch herrschen. Das heißt, es wird so getan, als könne man die Gesellschaft und die Welt in zwei Teile einteilen. Auf der einen Seite sind es die brutalen Neonazis, die tatsächlich brutal sind, und der Nationalsozialistische Untergrund hat das ja noch mal radikalisiert in unfassbarer Weise. Und auf der anderen Seite aber die humane, humanitäre Gesellschaft. Und das ist natürlich ein Bild, was dort immer wieder geprägt worden ist, was der Realität natürlich überhaupt nicht standhält. Das sind Deutungsmuster, die darauf hinlaufen, eine gesellschaftliche Selbstentlastung zu produzieren und auch einen gesellschaftlichen Selbstbetrug. Und das Resultat können wir heute unter anderem besichtigen."
Quelle:
http://www.deutschlandfunk.de/konflitkforscher-heitmeyer-rechtsextremismus-kommt-aus-der.911.de.html?dram:article_id=336336
Dazu passt ein Beitrag von Ulrich Gutmair, der in der TAZ jüngst schrieb:
"Die alten Nazis sind längst ausgestorben. Das heißt aber nicht, dass extremistische und rassistische Positionen aus den Parteien der Mitte verschwunden wären."
Quelle:
http://www.taz.de/!5454393/
Von daher ist das von Ihnen zitierte Wort von der Kanzlerin
""In der Mitte sind wir und nur wir. Wir sind die Mitte. Wo wir sind, ist die Mitte."
in der Tat ein zu hinterfragender Sprachgebrauch, dem mit großer Skepsis zu begegnen ist.
Die "freiheitliche demokratische Grundordnung", die in der obigen Definition aus dem Verfassungsschutz-Gesetz herrührt, hat das Bundesverfassungsgericht in einer seiner ersten Entscheidung definiert und in allen Einzelheiten ausdifferenziert.
Und, so frage ich mich, hält sich der von der Mitte getragene Neoliberalismus an diese unverückbaren Prinzipien unseres Verfassungsstaates? Man vergegenwärtige sich doch nur den beklagenswerten Vollzug nicht weniger Hartz-IV-Gesetze (Stichwort: Auflagen) und beantworte sich selbst die Frage, ob darin nicht staatliche "strukturelle Gewalt" be- und gefördert wird, die nach der Definition der fdGO durch das BVerfG doch "gar nicht geht".
Definition der fdGO gemäß Urteil des Ersten Senats vom 23. Oktober 1952 -- 1 BvB 1/51 --
"2. Freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Art. 21 II GG ist eine Ordnung, die unter Ausschluß jeglicher Gewalt und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition."
Quelle:
http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv002001.html
Dass der Neoliberalismus darüber hinaus fest in den EU-Verträgen verankert ist, worauf Prof. Fisahn in
http://www.vsa-verlag.de/uploads/media/www.vsa-verlag.de-AttacBasisTexte51-Fisahn-Halbierte-Demokratie.pdf
diesem Büchlein ab Seite 101 ff hinwies, führt, worauf ich nur noch kurz hinweisen möchte, zu einem weiteren aktuellen Sprachgebrauch der von aus der MITTE national wie international zu hören ist: die Rede ist von der "Erneuerung der EU, von ihrer Stabiliserung":
19.10.2017 - Europäischen Rat: Als der französische Präsident den Europäischen Rat betrat, brachte er ein Versprechen mit: die Erneuerung der EU. Die Union würde als Ganzes stabilisiert und Konjunkturverläufe stärker synchronisiert.
Haben Sie schon jemals einen Politiker dieser MITTE gehört, der den neoliberalen Zwang der EU-Verträge kritisierte und Anstalten machte, diesen mit fortschrittlichen und dem Humanismus verpflichteten Bündnispartnern aus den Verträgen zu tilgen?
Eine SPD, die vielleicht doch in die kleine GroKo ginge, sollte sie sich nicht an diese 500 Millionen Europäer betreffende fundamentale Aufgabe machen?
@ mardi53a
Eine kleine Ergänzung:
Passend zum Geschriebenen ist auch das stets und ständig uns ins Ohr geblasene Mantra, dass "Wahlen in der Mitte" gewonnen würden, als warnend erhobener Zeigefinger an Wählerinnen und Wähler und auch die Parteien, ja nicht die neoliberale und transatlanitische "Mitte" zu verlassen und etwas Ab-weg-iges zu versuchen.
Schon vor Jahren fielen mir azu folgende Verse ein:
Lied von der Mitte
Seht, wie sie die Flügel schlagen
Lassen sich vom Winde tragen
Von rechts und links, von Süd und Nord
Alle zieht’s an einen Ort
Da zieh’n sie hin die Karawanen
Spottend ihrer großen Ahnen
Immer trock’ner wird die Kehle
Ja, sie sind schon längst Kamele
So streben sie mit großem Schritte
In die Mitte, in die Mitte
Vorneweg die Unionisten
Politisch auch bekannt als Christen
Im Handgepäck den lieben Gott
Mit ausgewogen raschem Trott
Fast gleichauf die Liberalen
Wie sie Fersengeld bezahlen
Dass es etwas schnelle gehe
Man das Ziel als erste sehe
So streben sie mit schnellem Schritte
In die Mitte, in die Mitte
Ach, und dann die Ökopaxe
Mit der steifen linken Haxe
Humpeln holprig übers Land
Die Sonnenblume in der Hand
Am Ende kommt’s besonders krass
Im Gesicht schon rosa-blass
Hört aus sattgenährten Bäuchen
Schließlich man die Sozis keuchen
So streben sie mit großem Schritte
In die Mitte, in die Mitte
Welche Regung, Überlegung
Treibt die Massen zur Bewegung?
Wer wies ihnen dieses Ziel?
Ist es ernst? Ist es ein Spiel?
Die Botschaft war’s der Ahnungslosen
Hier nur gäb’ es Glück in Dosen
Hier predige der Weltengeist
Der Mitte, die die gold’ne heißt
So streben sie mit großem Schritte
In die Mitte, in die Mitte
Und sie rufen wie von Sinnen:
Hier sind Wahlen zu gewinnen
In der Mitte steh’n wir alle
Ergötzen uns am Wörterschwalle
Zölle oder freier Handel
Gründe für den Klimawandel
Die Bundeswehr zum Krieg mit Tusch
Verteidigt uns am Hindukusch
Der Mitte ist dies ganz egal
Denn die Mitte ist neutral
Die Terrorangst wird aufgebauscht
Dass es durch die Medien rauscht
Lauschangriff, PC-Trojaner
Ans Kreuz genagelt werden Mahner
Denn der Staat will alles wissen
Wen wir küssen, wo wir pissen
Nur wer arm ist und wer reich
Ist den Datengeilen gleich
Der Mitte ist dies ganz egal
Denn die Mitte ist neutral
Doch Mittestürmer passt nur auf
Bald wird der Geschichte Lauf
Quer durch eure Mitte fegen
Sie in Schutt und Asche legen
Die von der Mitte abseits steh’n
Werden wieder wählen geh’n
Ein Kreuzchen mit des Sturmes Stab
Die Mitte sinkt ins Wörtergrab
Der Mitte ist dies auch egal
Denn die Mitte stirbt neutral
Ich habe auch noch einen Vers dazu, leider nicht von mir:
Liebe Nutten, liebe Nonnen
Wahlen werden in der Mitte gewonnen
(Rainald Grebe)