Perceval inszeniert Fallada

Theater Seine Krisenromane haben auf deutschen Bühnen Konjunktur. In "Kleiner Mann - was nun?" (Münchner Kammerspiele) sprudeln Worte als könnten sie vor dem Morgen bewahren

Wie war das noch mit Gesine Schwan und ihrer Warnung vor sozialen Unruhen? In Hans Falladas Roman Kleiner Mann, was nun? denkt der arbeitslose, gedemütigte Pinneberg gegen Ende „an furchtbar viel, an Anzünden, an Bomben, an Totschießen, er denkt daran, dass nichts mehr weitergeht.“ Geschrieben vor der Folie der Weltwirtschaftskrise 1929 ff. liest sich die Geschichte wie ein aktueller Kommentar: Johannes Pinneberg, sein „Lämmchen“ Emma Mörschel und beider Kind erleben eine Achterbahnfahrt zwischen Anstellung und Arbeitslosigkeit, Hoffnungsschimmer und trostloser Realität, Geld-Fetischismus und Existenz-Angst. Ihr Stationendrama führt sie vom möblierten Zimmer in der Provinz in eine Berliner Gartenlaube und Pinneberg vom Verkäufer zum Stempler.

Wen wundert’s, dass Falladas Krisen-Romane auch auf der Bühne Konjunktur haben? Nach Wer einmal aus dem Blechnapf frisst in Hamburg hat nun an den Münchner Kammerspielen als letzte Premiere der Spielzeit (und damit der Intendanz Baumbauer) Luk Perceval eine gut vierstündige Fassung vom Kleinen Mann inszeniert.

Auf der weiten Bühne (Annette Kurz) ragt nur ein Orchestrion auf wie ein Fabelwesen aus Pianola, Xylofon, Akkordeon und Gründerzeitmöbel, aus dem ein Teil von Mathis B. Nitschkes unaufdringlich magischer Musik tönt. Bewegte Bilder (vor allem aus Walter Ruttmanns Film Berlin: Sinfonie der Großstadt) umgeben Schauspieler und Instrument mit ihrem fahlen Licht, weniger Illustration als rhythmisierende Schlaglichter der Industrialisierung.

Wie aus dem Nichts tauchen die Figuren auf, fügen sich zu Gruppen, auch zu Tableaus, und singen zur orgelnden Melancholiemaschine mehrstimmig: „Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bisschen Glück“, den Durchhaltemarsch Einmal schafft’s jeder und, ein Berliner Konsum-Spaß, Komm mit zu Möbel Hübner. Im Textmarathon sprudeln aus Paul Herwigs stets verdruckstem Pinneberg und Annette Paulmanns Lämmchen unentwegt die Worte. Herrlich naiv sind sie in ihrem himmelhochjauchzenden Glück wie in ihrer Angst. Sie reden, als könnten sie Worte vor dem Morgen bewahren. Es schmerzt physisch, Herwigs biederen Jungen unter Dauerspannung buckeln und sich wegducken zu sehen, wie er hysterisch seinen Bleistift schärft und verzweifelt aktionistisch vorm Arbeitgeber nach der Lohnsteuerkarte sucht. Paulmann hingegen postuliert Lämmchens Glauben an Mann und Kind in einem kindlichen, entschlossenen, innigen Ton.

Daneben glanzvolle Charakter-Skizzen in 35 Rollen von André Jung, Stefan Merki, Hans Kremer, Wolfgang Pregler, Gundi Ellert, Peter Brombacher und Tina Keserovic. Schrecklich komisch blitzt es oft hervor, erzählt das Stück unterhaltsam und temporeich die wesentlichen Stationen des Romans. Gegen Ende findet Perceval zu einem neuen, atemlos dringlichen Ton: Aus den Monologen von Pinneberg und Lämmchen – zu denen Horden von marschierenden Soldaten über die Bildschirme flimmern oder die fast in Dunkelheit erstickt werden – schreit eine bedrohte Würde, die nur durch Tränen gerettet wird: ins kleine Glück. Die private Idylle trotz allem, ist keine Antwort auf die Frage „Was nun?“. Sie hallt nach – und lässt auch lange nach dem frenetischen Jubel nicht los.

Kleiner Mann, was nun?

Münchner Kammerspiele

, Regie: Luk Perceval. Wieder am 4., 24. Mai, 2. und 6. Juni

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