Porträts aus der Weimarer Zeit: Das Wesen der Epoche in einem Gesicht
Ausstellung Das Kunstmuseum Stuttgart zeigt die Typenbilder der Neuen Sachlichkeit, darunter Porträts von Otto Dix und Christian Schad. Die Faszination weicht schnell Erschrecken darüber, was aus dem neuen Menschenbild wurde, das die Kunst vorschlug
„Bildnis der Journalistin Sylvia von Harden“ von Otto Dix (1926, links); „Selbstbildnis“ von Grethe Jürgens (1928)
Fotos: bpk/CNAC-MNAM/Jean-Claude Planchet/VG Bild-Kunst, Bonn 2023 (links); Privatsammlung, Deutschland
Eine Gesellschaft in ihrer Zeit kann man unter anderem darin verstehen, wie sich die Menschen untereinander anschauen. Was ist geboten, was erlaubt, was gilt als problematisch und wo ist etwas strikt verboten? Da geht es natürlich um den Körper als Ganzes, nackt, bekleidet, inszeniert, aber vor allem geht es um das Gesicht. Und wie man es auch maskiert: Das Gesicht ist nicht anders vorstellbar denn als Ausdruck.
Ausdruckslosigkeit ist gefährlich, unheimlich oder mindestens komisch, wie bei Buster Keaton. Die Semantik der Gesichter unterliegt überall einem strengen Regelwerk. Wer wen wie und wann anschauen darf, wer was wann und wie zeigt und welche Werte mit welchem Ausdruck verbunden sind, das nennt man auch „Kultur“, und weil Kultur etwas sehr Kompliziertes
pliziertes ist, haben wir die Kunst erfunden. Die Kunst kann Gesichter zeigen, wie sie sonst nicht gezeigt werden dürfen: dämonisch, lüstern, dumm, mörderisch, ängstlich …Wir Kinder von Barbie und Avatar haben uns angewöhnt, das Gesicht als instabile soziale Maske zu verstehen, der man nicht allzu viel Gewicht hinsichtlich solcher schwerer individueller Eigenschaften wie „Charakter“ oder gar „Schicksal“ beimessen darf. Das Zeitalter der Äußerlichkeit verbietet es, den Mitmenschen nach dem Äußeren zu beurteilen.Das war nicht immer so. Zum Beispiel machte man sich im Deutschland der 1920er-Jahre in der Wissenschaft wie in der Kunst heftige Gedanken über die Lesbarkeit der Gesichter als Spiegel einer Person und über eine moralische oder kulturelle Ordnung, die durch eine Typisierung zu erreichen wäre. Eine Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart untersucht aktuell die Typenporträts der Neuen Sachlichkeit und ihren Zusammenhang mit der Gesellschaft der Weimarer Republik. Ihr Titel Sieh Dir die Menschen an! verweist auf den gleichnamigen Ratgeber von 1930 des Arztes Gerhard Venzmer, der zum veritablen Bestseller wurde.Dass diese ziemlich unverschämte Aufforderung, gefolgt von Werken wie Dein Kopf – dein Charakter! Was Schädelform und Antlitzbildung über die Wesensart des Menschen verrät, den Keim eines unbarmherzigen Wahns enthält, zeigt sich im Übrigen am Werdegang von Dr. Venzmer selbst: Als Redakteur der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Kosmos unterwarf er sich und seine Autorenschaft, „misogyn und rassistisch weit über die Zeitgenossenschaft hinaus“ (so Anna Katharina Hahn im Katalog), schon unter das Gebot von „deutschem Denken und Fühlen“, als die Nationalsozialisten noch nicht die Macht ergriffen hatten.Der Preis ist eine fast schon unmenschliche HärteIn der Kunst waren es vor allem die Vertreter*innen der Neuen Sachlichkeit, die das menschliche Gesicht ohne Skrupel, möglicherweise auch ohne die Erlösungshoffnungen früherer Zeit ansahen. Wenn man durch die Ausstellung wandert oder das Katalogbuch durchblättert, springen einen diese Porträts mit einer fast obsessiven Gewalt an: Was wollten diese Maler*innen in den Gesichtern unbedingt sehen, was wollten sie um den Preis einer fast schon unmenschlichen Härte und Reduktion zum Ausdruck zwingen?Zwei widersprüchliche Impulse scheinen da am Werk: Zum einen die radikale, nun eben „sachliche“ Ehrlichkeit in der Darstellung des unvergleichlichen Individuums, zum anderen aber auch ein Typisieren und Kategorisieren, oft am Rand von Karikatur und Denunziation. In vielen Bildern dieser Zeit begegnen sich die befreite Neugier auf den Menschen und ein manisches Bezeichnen nach Vorstellungen wie Klasse, „Rasse“, Geschlecht und Alter. Wie weit bei einzelnen Künstler*innen dabei die Beziehung zu den populären, (anti-)wissenschaftlichen Zuordnungen und Bewertungen von Physiognomie ging, ist nicht immer klar.Aber die Ausstellung und das Buch zeigen deutlich, dass es da einen Zusammenhang gegeben hat. Und so mischt sich in die Faszination gegenüber den Porträts, die wie von einem so wagemutigen wie unbarmherzigen Blick durchdrungen sind, ein gehöriger Schrecken darüber, was aus diesem von der Kunst vorgeschlagenen neuen Menschenbild wurde. Jedenfalls kann man in dieser Epoche von einer Besessenheit von der „Gesichtlichkeit“ des Menschen sprechen.Wir können also gar nicht anders; wir sehen die Porträts, die Curt Querner, Otto Dix, Elfriede Lohse-Wächtler oder Christian Schad von ihren Zeitgenossen schufen, mit gemischten Gefühlen. Faszinierend in ihrem unerbittlichen Blick, durch den auch das Verborgene, das Hässliche und Dumme zum Ausdruck gezwungen wird, seltener auch ein verborgenes Schönes, ein zurückgehaltenes Wissen, immer jedenfalls die Referenz zum Leben als Ineinander von Arbeit, Sexualität, Kommunikation und Kulinarik. Es sind die Gebrauchsspuren des Lebens, die sich in die Gesichter gegraben haben. Und die Maler*innen scheinen das Erschrecken darüber einkalkuliert zu haben.Im Grunde ist jedes Neusachliche Porträt ein Affront gegen die traditionellen Menschenbilder. Als wollte es die Betrachter zwingen, das wahre Gesicht des Menschen zu sehen. Weder ein Ebenbild Gottes noch eine magische Verbindung mit der Natur, weder romantisches Sehnen noch biedermeierliches Idyll, nur ein auf sich selbst zurückgeworfenes Wesen, das nichts als seinesgleichen hat, um sich zu verstehen. Oder, noch mehr, es nicht zu tun.Mode, Webung, Kino und das neue irreale MedienbildDas Gesicht also ist Ausweis für das Doppelwesen, von dem der Kunsthistoriker Paul Ferdinand Schmidt 1927 sprach: „Individuelles Gesicht und Typus Mensch mit allen Zügen der Zeit“. In vielen Bildern der Neuen Sachlichkeit ist diese Spannung geradezu das Thema. Eine Klasse oder einen „Typus“ zu repräsentieren und zugleich ein Ich zu sein, überfordert viele der Porträtierten. Sie entwickeln monströse, groteske Züge. Ihr Ausdruck entgleitet ihnen. Damit sind die Porträtierten nicht mehr Herr*innen ihres Bildes; tatsächlich wird das Bild des Menschen insofern versachlicht, als dass es behandelt wird wie ein Objekt von Neugier, Kritik und Befremdung. Und da es keine Unschärfe gibt, gibt es auch keinen Platz für Fantasie oder Suggestion. Das Wesen des Menschen muss in seiner äußeren Erscheinung stecken, so wie das Wesen einer Epoche, einer Klasse oder einer Gesellschaft in der Erscheinung eines Gesichtes stecken muss. Dieser ästhetische Materialismus ist beides zugleich: Befreiung und neuer Zwang.Aber die grausamen Porträts der Neuen Sachlichkeit sind nicht denkbar ohne ein Gegenbild. Ihrem über-realistischen Bild steht das irreale neue Medienbild gegenüber, allgegenwärtig in Mode, Werbung und Kino, in dem die Typisierung, die in den Porträts als Bürde und Schicksal zutage tritt, zum heiteren Ideal wird, unter anderem dadurch, dass man sich in eine neue Ambiguität entzieht: das Gesicht, in dem die Eigenschaften verschwimmen, männlich und weiblich, alt und jung, Arbeit und Reichtum, Sexualität und Heroismus, Alltag und Geschichte. Männer mit weichen Zügen stehen Frauen gegenüber, deren Physiognomien wie gemeißelt erscheinen. Kinder sind kleine Erwachsene und Erwachsene große Kinder, Helden sind Alltagsmenschen und so weiter. Aber in all ihrer Frivolität und ihrer zur Schau getragenen Eleganz (eine Eleganz, nebenbei, die nun, weil sie wie die Mode „von der Stange“ kommt, auch Teil des Kleinbürgertums wird) ähneln die Medienbilder in zwei Aspekten den Porträts der Neuen Sachlichkeit: Auch dieses Menschenbild entsteht aus Materialismus und sozialer Typenlehre.Nutzbringend für Überlegungen zu unserer GegenwartOb dieser Dialektik haben Ideologie und Propaganda leichtes Spiel. Im allgemeinen Verständnis verwandelte sich instinktive Menschenkenntnis in „wissenschaftliche“ Menschenkunde, und diese wurde schließlich in den Vorformen des Faschismus zu einer hierarchischen und rassistischen Menschenordnung, zu einem selektiven Wahn: Wenn die Vertreter der Neuen Sachlichkeit in ihren Menschenbildern immer auch die Krankheiten ihrer Zeit (von den Süchten bis zum sozialen Unrecht, von Kriegsfolgen zur manischen Lebenslust) darstellten, so begann der Faschismus damit, diese Krankheiten zu isolieren, um sie auszurotten. Erst in der Propaganda dann wird aus dem typischen Arbeiter, dem typischen Bauern oder der typischen Künstlerin ein Idealtypus.Der radikale Wandel des Menschenbildes nach dem Ersten Weltkrieg, den alle Autor*innen bestätigen und von dem diese Ausstellung deutlich Zeugnis gibt, führt offenbar zu mehreren Varianten der „Objektivierung“ von Körpern und Physiognomien. Dazu gehört eine rassistische Variante (der Mensch als völkische Wertkategorie), eine ökonomistische (der Mensch als Werbebild seiner selbst, der Mensch als Arbeitsmaschine) und eine künstlerische (der Mensch als Ausdruck seiner Zeit). Die Verbindung dieser drei Verdinglichungsmethoden ist so unleugbar wie antilinear. Schließlich wurden ja keineswegs aus allen Künstler*innen Parteigänger der Nazis, und für einige wie Otto Dix war die „Sachlichkeit“ vor allem eine Methode der gesellschaftlichen Kritik.So gilt es, einer komplizierten Beziehung von Kunst, Wissenschaft und Politik auf die Spur zu kommen. Ausstellung und Buch zeigen, wie das möglich ist und wie nutzbringend es für Überlegungen zu unserer Gegenwart sein kann.
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