Bewegte Bilder

Stanley Kubrick Anmerkungen zu den Fotografien des Regisseurs, die in Büchern und Ausstellungen um die Welt reisen
Ausgabe 34/2013
Bewegte Bilder

Foto: Scarica Immagine

Was für eine Geschichte. Im Vorraum zum Gewölbe des unteren Geschosses vom Palazzo Ducale in Genua, wo gerade eine Ausstellung mit Fotografien von Stanley Kubrick in die letzte Runde geht, berichtet eine Frau einer interessiert zuhörenden Gruppe, dass sie seit dem Jahr 2000 unterwegs ist, und zwar überall dorthin, wo es eine Ausstellung, eine Retrospektive oder ein Colloquium zur Bildarbeit von Stanley Kubrick gibt. Dann müsse sie wohl, meint einer, Expertin für Fotografie und Film sein. Oh nein, sagt die Frau: „Ich möchte nur ein wenig sehen lernen.“

Wenn man wollte oder könnte, dann wäre es derzeit ein Leichtes, auf den Spuren des Bildermachers Stanley Kubrick um die Welt zu reisen. Die Ausstellung der Fotografien, die Kubrick im Auftrag der Illustrierten LOOK zwischen 1945 und 1950 in New York machte, geht in Genua nun zu Ende, während eine zweite Schau, Stanley Kubrick, unentwegt tourt seit fast zehn Jahren. Diese umfasst Materialien aus dem Arbeitsarchiv der Regisseurs, dazu kommen einige Leihgaben von Filmmuseen und Privatsammlungen – eine liebevolle Dekonstruktion von Kubricks Filmwerk, die 2004 im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt/Main zusammengestellt wurde und nach Los Angeles im Herbst in São Paulo zu sehen sein wird. Betrachtet man nun die beiden Ausstellungen nebeneinander oder eben die beiden Kataloge, die aus diesem Anlass erschienen sind, kann man sich von einer Schnittstelle zwischen Bild und Film in die unterschiedlichsten Richtungen bewegen – zu Kubrick und über ihn hinaus.

Menschen beim Zahnarzt

Kubricks Bilder kursieren schon eine ganze Weile. Im Jahr 2001 waren in Berlin 60 (digital bearbeitete) Fotos zu sehen unter dem Titel Still Moving Pictures, der ein wenig überdeutlich die Lesart vorgibt. Die neuere Veröffentlichung läuft nun unter Stanley Kubrick – Fotograf und lässt auch sonst dem Zuschauer mehr Spielraum, sich auf diese sehr eigene Bildwelt einzulassen. Grundlage bildet die Sammlung des Museums of the City of New York, die die Fotos nach den Original-Negativen druckte, die dem Archiv von LOOK entstammen.

Was man in seinen Fotografien als Erstes entdecken kann, ist etwas, das man ohne Weiteres den Kubrick’schen Humor nennen könnte. Es wäre durchaus denkbar, einfach alle Filme Kubricks als Komödien zu betrachten – als Komödien des Menschen, der von seinen Aufgaben, Entscheidungen und Leidenschaften überfordert ist. Das wird anschaulich in der Bilderserie von Menschen im Wartezimmer des Zahnarztes oder dort, wo eine junge Frau einen gewaltigen Stapel Bücher eine ebenso gewaltige Treppe hinunterbalanciert (die Wahrscheinlichkeit, dass sie ohne Sturz oder Verlust dort ankommt, ist denkbar gering), im selbstgenügsamen Glamour eines Models, aus dem eher ein melancholisches Kunstwerk als ein Star werden wird, angesichts der Artistin im Zirkus, die von einem anmaßenden Direktor angetrieben wird, der alles Zarte und Leichte aus ihrer Performance vertreibt, bei den Vorbereitungen des Boxers auf einen Kampf, den er, wenn überhaupt, nur als Geschlagener gewinnen kann, an dem Schuhputzerjungen Mickey, der neben seinem Schuhputzkasten noch große Erwartungen beim Aufwachsen auf den Straßen von New York mit sich herumschleppt.

Kubrick macht als Fotograf Bilder, die eine kinematografische Beziehung untereinander aufweisen, und als Regisseur produziert er in seinen Filmen Bilder, die wiederum mehr sind als ihre kinematografische Beziehung zueinander. Stanley Kubrick blickt immer von (weit) außen. Es scheint, als würde alles vermieden, was eine direkte Beziehung zwischen dem Blick und dem Dargestellten erzeugt. Zugleich gibt es nie die Flüchtigkeit eines „Schnappschusses“. Raum, Form und Licht scheinen stets so sorgfältig bestimmt, als handele es sich um Bühnen oder gebaute Filmsets. Natürlich gibt es Bilder, die als quasi direkte Zitate in den Filmen wieder auftauchen: Der Professor working with bright Light (1948) kehrt als Dr. Strangelove zurück, und in der Serie von Fotografien, die bei der Begleitung eines amerikanischen Paares auf Ferienreise durch Europa entstanden sind (Holiday in Portugal, 1948), gibt es die Rückansicht von zwei Mädchen, die auf das Zwillingspaar in Shining vorausdeuten; die intimen Glamourfotos von Betsy von Fürstenberg (The Debutante who went to Work, 1950) mit ihrer Gegenlicht-Dramaturgie finden sich in Lolita wieder.

Fotos wie purer Jazz

Jedes Bild, ob es will oder nicht, „konstruiert“ den Menschen und seine Gesellschaft und das, was zwischen ihnen geschieht. Kubrick, behaupte ich, wollte es. In seinen Fotografien findet er nicht nur Bilder, sondern er präsentiert einen bestimmten Blick. Er zeigt einen Menschen, der extrem definiert ist durch seine Gesellschaft, zugleich aber auch vollkommen allein. Nie sieht man Menschen, die an sich ausgeliefert sind, das machen die Situationen (wie das Wartezimmer des Zahnarztes, wie der Tanz auf dem Drahtseil, die Vorbereitung auf den Boxkampf, die Fahrt in der U-Bahn, die Entblößung des Modells vor dem Maler, das Warten des Schuhputzers auf Kunden, die Bewegung in der Fremde).

Kubrick findet in seinen Fotos (und in seinen besten auf eine wahrhaft schmerzliche, existenzielle Weise) immer den Punkt, an dem sich die Gesellschaft und das Subjekt treffen, und an dem zugleich der radikale Bruch zwischen beiden sichtbar wird. Jedes Bild von Stanley Kubrick in dieser Zeit, behaupte ich wieder, birgt ein existenzialistisches Drama. Der Zuschauer ist Teil dieses Dramas, insofern er erkennen muss, wie er zugleich angezogen und ausgeschlossen ist. Wir würden ihnen gern helfen, sie zurechtweisen oder ihnen wenigstens aus dem Weg gehen, den so isolierten wie determinierten Menschen in Kubricks Fotos. Keine Chance.

Außerdem sind diese Fotos, wir kennen den biografischen Hintergrund dazu, purer Jazz, die schneidende und coole Begegnung von Solo und Chorus, die Gleichwertigkeit aller Elemente. In Kubricks Fotos gibt es nichts, was Zufall, Beiwerk oder Atmosphäre wäre. Sein Blick ist so scharf, dass auch das Dekorative seine verborgene Bedeutung offenbart, die Tapete, das Schmuckbild, die Reklame, die Strebenkonstruktion einer Achterbahn hinter dem Mädchen, das in den Himmel sieht.

Die andere Spannung liefert der ständige Kampf der Menschen, sich zu inszenieren und preiszugeben. Wo viele Fotografen den Augenblick suchen, in dem Menschen entweder in der Maske oder in ungeschützter Nacktheit des Sich-unbeobachtet-Fühlens aufgehen, findet Stanley Kubrick genau den Punkt dazwischen. Die Menschen in seinen Bildern inszenieren sich, aber sie tun es gleichsam in die falsche Richtung. Wenn sie versuchen, sich für andere (oder auch, wie die unnachahmliche Betsy von Fürstenberg, für sich selbst) zu entwerfen, werden sie für die Kamera um so nackter. Kubrick zeigt Menschen, denen durch die Gesellschaft nicht zu helfen ist, und eine Gesellschaft, die durch ihre Menschen nicht zu retten ist.

Besonders nachsichtig ist dieser Blick nicht, aber sehr viel menschlicher, als es die Kritiker von Kubricks Filmen meinen. In jedem fotografischen Abbild des Menschen stellt sich die Frage nach dem Mitleiden und nach der Gewalt darin. Kubricks Form des Mitleidens ist eher philosophischer als sentimentaler Art. Und die Gewalt in ihnen ist nie Genuss, immer Schmerz. Von seinen Fotografien ausgehend könnte man vielleicht Stanley Kubricks Filme noch einmal sehen: als das Werk eines unbestechlichen Humanisten. Was kurz davor ist, ein Widerspruch in sich zu werden. Aber das ist eine andere Geschichte.

Das fotografische Werk Stanley Kubricks von 1945 und 1950 findet sich in verschiedenen Publikationen. Die neueste: Stanley Kubrick. Fotografo Ital./engl., Giunti 2012/13. Außerdem: Stanley Kubrick. Fotografie Ital., Giunti 2010. Stanley Kubrick – Drama und Schatten R. F. Crone, A. v. Stosch Phaidon 2005 (antiquarisch). Zur tourenden Filmmaterialausstellung: stanleykubrick.de

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