Was wäre die Geschichte der Menschenkultur ohne das Pferd? Eine bäuerlich-infanteristische Erd- und Sesshaftigkeit, vielleicht ein aufrechter Gang mit Mühsal. Das Pferd brachte den Fortschritt zugleich und die Distinktion, war Teil der Zivilisation und der Barbarei. Es war Besitz, Instrument und Waffe, doch mehr als das: Teil der Person, Freund und Geliebter, Abglanz des Göttlichen, Objekt ästhetisch-sexuellen Begehrens, Verstärkung des Zorns. „So stampfen, bevor eine Schlacht beginnt, die Pferde mit ihren Hufen die Erde; werfen die Köpfe hoch; das Licht glänzt auf ihren Flanken; ihre Hälse biegen sich“, so heißt es bei Virginia Woolf. Und dann ist das Pferd das erste Opfer, Ab- und Sinnbild des Leidens, das auf Stolz, Gewalt und Unterdrückung folgt. Das abgemagerte, blutende, schnaubende Pferd, das mit großen Augen auf den Gnadenschuss wartet: das nach-biblische Opfertier. Der Glorienschein und das Grauen des Krieges beginnt mit dem Pferd; so wie Apokalypse nur in der Form von vier Reitern darzustellen war.
Steven Spielberg nimmt die Metapher des leidenden Pferdes im Krieg in seinem Film War Horse wieder auf. Er erzählt die Geschichte des edlen und schönen Pferdes namens Joey, das den Menschen so selbstlos seine Dienste anbietet, ein Märchen aus den Zeiten des Krieges – des Ersten Weltkriegs, in dem Pferde noch eine bedeutende Rolle spielten: eine Geschichte von unverbrüchlicher Freundschaft und Treue, so wie wir es gerne hätten. Umgekehrt ist das malträtierte Pferd ein Bild von Gewalt, schlechter Herrschaft und Ungerechtigkeit. Noch in einem Western minderer Güte erkennt man, wer ein Guter und wer ein Böser ist, an der Art, wie er mit Pferden umgeht. Wer ein Pferd „schindet“, darf mit weniger Mitgefühl rechnen als ein Mörder. Die Metapher muss immer wieder erneuert werden, doch sie bleibt im Kern immer gleich: Die Verzweiflung des Menschen an sich und der von ihm geschaffenen Welt beginnt mit der Zeugenschaft der geschundenen Kreatur.
Am 3. Januar 1889 begegnete dem deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche, der sich damals in Turin aufhielt, ein Kutscher, der mit der Peitsche auf sein Pferd einschlug. Außer sich vor Leiden und Zorn lief Nietzsche auf das Tier zu, umarmte es und klagte lauthals Kutscher und Welt an. Und danach war der Philosoph, glaubt man der Legende, in seine allseits bekannte „geistige Umnachtung“ gefallen.
Das Pferd ist damit eine zweifellos totale Metapher, das heißt sie steht nicht für irgendetwas Bestimmtes, sondern für etwas endlos Verknäultes und Widersprüchliches. Für ein verlorenes Ganzes mithin.Nur primär ist es ein Mittel der Distinktion: Der Ritter und das Fußvolk. „Reitervölker“, die „herangestürmt“ kommen (vorwiegend aus östlichen Richtungen); Cowboys mit und Indianer ohne Sattel, das Arbeitspferd und das edle Blut. Wallach und Araberhengst. In der Zeit vor Mister Ed war es schwer, das Pferd als demokratisches Instrument zu sehen; das Tier übernahm stets nicht nur Eigenschaften sondern auch Status seiner Besitzer (was man in diesem Fall ziemlich wörtlich nehmen darf), es war stets leidende Kreatur und bedingungslose Herrschaft in einem: die an einem „schönen Körper“ vollzogene Verwandlung von Natur in Kultur. Es ist das Haustier, das seinen Besitzer dazu ermächtigt (und dazu verleitet) die Grenzen des Hauses eben zu überschreiten. Davonreiten mag Prinzessin Wildfang ihren Eltern, der einsame Cowboy der Ehe und der Farmarbeit, der Gesetzlose dem Gesetz, und in Martin Walsers Novelle Ein fliehendes Pferd kreist alles um die zentrale Metapher: „Einem fliehenden Pferd kannst du dich nicht in den Weg stellen. Es muss das Gefühl haben, sein Weg bleibt frei. Und: ”Ein fliehendes Pferd lässt nicht mit sich reden“. Das fliehende Pferd (das sich die Freiheit zurückerobert) ist das Gegenbild zum malträtierten Pferd, das an der Knechtschaft zugrunde geht.
Das Bürgertum eignete sich das Pferd schließlich als soziales Instrument an, es war nicht nur Statusbild und Erziehungsmittel, es diente ganz buchstäblich dazu, auf eine andere Klasse, Kleinbürgertum und Proletariat, herabschauen zu können. In Fiktion und Realität wurde das Pferd zum Totemtier für die rites de passage des bürgerlichen Kindes; Mädchen bekommen Pferdebücher, ob sie wollen oder nicht. Zu Weihnachten gibt es Pferdefilme im Fernsehen. Im Supermarkt wird nach Wendy-Heften gequängelt. Denn Pferde sind, so lange sie nicht maltraitiert werden, Spender von Gesundheit. Das Gegenbild zum Turiner Pferd ist das Pferd als williger Therapeut.
Mit den Pferden flüstern
Doch das Pferd als „Freund“ und heilsames Totemtier und das Pferd als Sinnbild der unterworfenen Kreatur konnten auf Dauer nicht nebeneinander existieren: So taucht die Metapher am Ende in der Spätphase der doppelgesichtigen Leistungs- und Spaßgesellschaft wieder auf. Im klassischen Pferdefilm, noch bis zu Seabiscuit letzthin, obsiegt der Mensch in dem Paradoxon einer freiwilligen Unterwerfung des Pferdes, gar einer zentaurischen Verschmelzung.
Die Pferdeflüsterer kamen in Mode. Ein neues Gleichgewicht musste her zwischen dem gewandelten Naturverständnis des Kleinbürgertums und der Sehnsucht nach dem Pferd; der doppelten Sehnsucht, nach Vitalität und Körperlichkeit einerseits, nach sozialer Distinktion und Erhebung andererseits. Denn es ging und geht in der Metapher noch stets um Macht. Der Reiter und die Reiterin übertragen ihren Willen auf das Pferd. Wie machen sie das? Der Pferdeflüsterer, einerseits in der Gestalt von Robert Redford in einem einst so berühmten Film, andererseits in Gestalt realer Formen der Post-Dressur ist eine Metapher der Soft Power. Er bricht nicht den Willen des Pferdes, ganz buchstäblich, stattdessen „redet er ihm etwas ein“. Dem Pferdeflüsterer gelingt, woran Nietzsche so bitter scheiterte, er holt die malträtierte Kreatur zurück zu den Menschen. Er macht, dass das Pferd den Menschen vergibt.
Man darf nicht vergessen, dass hinter der Redford-Figur ja eine echte Person steckt: Buck Brannaman, genauer einer von drei Pferdeflüsterern, die um die Erde reisten, um mit maltrierten Pferden zu reden und ihnen das Vertrauen in die Menschen zurückzugeben. Die drei, Buck, Tom und Ray, waren selber Getriebene, die guten Cowboys mit dunkler Vergangenheit; Helden aus einem Spätestwestern. Buck selber, leidend unter einem gewalttätigen Vater, aus einem staubigen Nest im Westen stammend; der von und mit seinen Kumpanen lernt, dass Fessel und Peitsche nicht die richtigen Instrumente sind, um Pferde zu erziehen. Sondern das Mitgefühl, eine Sprache zwischen Mensch und Tier. Ein in dieser Woche anlaufender Dokumentarfilm Buck der amerikanischen Regisseurin Cindy Meehl erzählt diese Geschichte auf eindringliche Weise. Der Mensch muss lernen, auf die Sprache des Pferdes zu hören, statt umgekehrt. Unnütz zu sagen, dass der Pferdeflüsterer als Fiktion die Herzen des Publikums eroberte, der reale Pferdeflüsterer aber gerade in Europa oft auf vollkommenes Unverständnis stieß. Denn hier ist das Pferd immer noch eine rassistische und Macho-Metapher für den Herrn und den Diener, wenn auch in der neuen Fassung kapitalistischer Effizienz: Das Pferd muss etwas bringen, mit welchen Mitteln es dazu auch getrieben wird.
Kriminelle Begierden
Heute ist es eine Bewegung, deren Lehrmeister Buck nach wie vor ist. „Schluss mit unserem Komplex der Überlegenheit“, sagt er. Und so wird die Rettung des malträtierten Pferdes zur Erlösung des malträtierten Menschen. Den Satz kennen wir noch aus der Fiktion: „Ich helfe nicht Menschen mit problematischen Pferden, ich helfe Pferden mit problematischen Menschen“. Es gilt also, einen Bruch zu heilen. Die Metapher, wie hier immerhin angedeutet, hat freilich noch eine andere, ökonomische Seite. Das malträtierte und durch den Pferdeflüsterer gerettete Pferd ist zugleich ein enormer Besitz, ein Produktionsmittel, eine Ware und Objekt krimineller Begierden, Sinnbild für Spekulation und Profit. Zur passenden – oder eben unpassenden – Legende wurde der Hengst Totilas: Das Dressurpferd soll bis zu 15 Milionen Euro als teuerster Hengst der Welt gebracht haben. Zuletzt zickte das reitende Gold in der Dressur und musste, wohl auch aufgrund von besonders harter Behandlung (unter anderem schmerzhafte Schläge auf die Beine zur Steigerung der Sprunghöhe) monatelang aussetzen. Einen Pferdeflüsterer kann man hier nicht brauchen; so muss ein ganz anderer Typus des Pferdeexperten her: „Ist Totilas, der Wundertänzer, mit zwölf Jahren schon verbraucht? Ist er Opfer des Spitzensports, der Spektakel über Gesundheit stellt? Weniger das Leiden des Pferdes als die „klassische Reitweise“ steht im Vordergrund dieser neuen nationalen Pferde-Erzählung. Vermutlich muss man schon für Deutschland reiten, um beim malträtierten Pferd an, wie der Fachausdruck dafür lautet, „Rittigkeitsstörungen“ zu denken.
Von Georg Seeßlen ist gerade das Buch Kapitalismus als Spektakel erschienen
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