Es gibt Regisseure, an denen scheiden sich die Geister. Nein, ich meine nicht diese Regisseure: Wer seinen Geist an jemandem wie Leni Riefenstahl geschieden wähnt, der hat keinen. Ich meine Regisseure wie Fritz Lang oder John Cassavetes. Regisseure, deren Filmen man ansieht, wie intensiv sie sich für bestimmte Aspekte des Filmemachens interessieren und für manche eben nicht. Friedrich Wilhelm Murnau aber hat sich für alles interessiert, was das Sichtbarmachen betrifft. Für das, was hinten und vorne, oben und unten geschieht, im Bild und in der Bewegung. Und natürlich für das Licht, das Bild und Bewegung zusammenführt. Er kommt der Komposition des reinen, filmischen Augenblicks nahe (und es ist immer ein Augenblick der Überschreitung, vom Tag zur Nacht, vom Außen zum Innen). Murnaus Filme sind nicht gebaut und nicht erzählt, sie sind komponiert.
Murnau verlangte die Kontrolle über jedes Detail des Sichtbaren, über alles, was Form werden kann: die Konturen die Schauspieler, die Form von Wellen, die Weißheit des Schnees, die Höhe einer Flamme, die Entfernung zweier Stühle. Es gibt nichts, was wir Zufall oder »außerfilmisch« nennen könnten, nichts, was nicht im Kopf des Komponisten Murnau gebildet wurde. Das macht die Schönheit seiner Filme aus und ist ihre Crux.
Es ist eine Form der »naturalistischen« Poesie in Murnaus Filmen. Nicht das Schicksal bestimmt die Bewegung des Menschen, sondern Seele, »Trieb« oder Interesse, eine Spannung zwischen dem Innen und dem Außen, der Rolle und dem Charakter (wie in Der letzte Mann), zwischen Liebe und Sexualität. Aber worum es immer auch geht, ist der Mensch in seinem Raum. Deshalb musste Murnau die Kamera befreien. Und deshalb scheiden sich an Murnau nicht die Geister, sondern die Empfindungen. Man muss sehen wollen in Murnaus Filmen.
Über kaum einen Regisseur gibt es so viele kluge und zärtliche Texte wie zu Friedrich Wilhelm Murnau. Trotzdem ist es gut, auf das »Wissen« zu verzichten, wenn ein Murnau-Film beginnt.
Friedrich Wilhelm Plumpe nannte sich seit seinen Studentenzeiten Murnau - nach der kleinen bayrischen Stadt, in der sich die Künstlergruppe Der blaue Reiter sammelte. Er studierte Kunstgeschichte und griff später immer wieder in seinen Filmen auf sein Studium vom Wesen und von der Geschichte der Bilder zurück. Das Künstlertum wie die Maskerade gehörte zu den Entwicklungen eines Menschen, der sich poetisch neu erschaffen musste. Sein Freund Hans Ehrenbaum-Degerle führte ihn in die Berliner Künstler-Kreise. Er lernte Else Lasker-Schüler kennen und Max Reinhardt, für den er als Schauspieler arbeitet, zusammen mit seinem späteren Freund Conrad Veidt.
Der erste Weltkrieg beendet dieses Künstlerleben. Ehrenbaum-Degerle fällt im Jahr 1915. 1918 wird Murnau in der Schweiz interniert. Dort schreibt er in der »Pension Feldberg« sein erstes Film-Manuskript Teufelsmädel. Es ist die Geschichte eines Mädchens vom Land, das nach Berlin und in tiefe Schwierigkeiten gerät; fast eine Vorstudie zu Sunrise, die eines der Leitmotive in Murnaus Arbeit zeigt: der Widerspruch von Land und Stadt. Die Geschichten vom tiefen Abstieg von Menschen. Und von der eigenen Schuld daran.
Von den ersten Filmen, beginnend mit Der Knabe in Blau, sind uns nur Dokumente, manchmal Bilder geblieben. Dieser erste Film, von Gainsboroughs berühmtem Gemälde inspiriert, erzählt den Abstieg eines Jungen aus adeliger Familie, der schließlich im Wahnsinn endet. Immer wieder verwendet der Regisseur Referenz-Gemälde für seine Film-Kompositionen. In der Berliner Ausstellung zu Murnau finden wir Caspar David Friedrichs Mann und Frau, den Mond betrachtend dem Faust, Käthe Kollwitz den ländlichen Szenen aus Der brennende Acker und Edvard Munchs Kuss und Vampir den entsprechenden Szenen aus Sunrise gegenüber gestellt. Wenn wir der Reise durch die Bildwelten folgen, dann scheint vor allem der Schmerz und der Verlust als Antwort auf die Sehnsucht eine Leitlinie zu bilden. Daher vielleicht die frühe Vorliebe für phantastische Stoffe der schwarzen Romantik wie Satanas oder Der Januskopf (nach Stevensons Dr. Jekyll and Mr. Hyde).
Schon in den ersten Filmen Murnaus scheint es, dass das Malerische in Bewegung gerät. Nosferatu, das ist die naturalistische Auflösung biedermeierlicher Geborgenheiten in den deutschen Städtebildern wie Rostock, Wismar oder Lübeck. Naturalistisch ist die Spur der Leidenschaft, der Sexualität, um´s prosaisch zu sagen, die sich durch die Bilder zieht, die Emotion, die sich in der Empfindung der Natur, in den Wellen, Winden und Wiesen, aber auch in den Straßen, dem Verkehr fortsetzt. Der Raum wird das Resonanzfeld der Emotionen und der Interessen. Deshalb, und nicht allein zur metaphorischen Wirkung von Massenhaftigkeit des Todes, muss Nosferatu die Ratten im Gefolge haben; während der Dämon das Zentrum der Bilder besetzt, gelangen die kleinen Kreaturen um ihn überall hin. Sie füllen die Peripherien und bringen die »Ansteckung« durch das Böse in die geschlossenen Welten der Bürger.
Murnau lebt und atmet Kunst. Seine Villa in der Douglasstraße 22 wird von seinem Malerfreund Walter Spies als begehbares Gemälde ausgestaltet. Er ist, wenn irgend so etwas in deutscher Version möglich ist, ein Dandy und Flaneur. Aber immer wieder schildert er die Katastrophe jener Menschen, die aus ihren beschränkten Lebenswelten aufbrechen. Auf der Suche nach den »Phantombildern«, in die, wer will, Murnaus Homosexualität, Sehnsucht und Angst, projizieren kann. Tatsächlich funktioniert die Ordnung der Geschlechter nicht in Murnaus Filmen.
Es ist nicht die Geschichte von Menschen, die Murnau zeigt, wie die meisten Filme es tun. Es ist der Mensch, den er in seiner Geschichte sieht (oder dahinter). Deshalb glaubte er nicht wirklich an das Happy End. Ist uns die Erlösung vom Bösen, wie in Nosferatu, noch geheuer, wenn wir vorher gesehen haben, wie leicht es ist, sich einen hilflosen Ersatz zur Jagd auf einen Sündenbock freizugeben? Gibt es eine glückliche Wendung für Hotelportiers, die man zu Toilettenwärtern herabgewürdigt hat, wie in Der letzte Mann? Gibt es das Liebesglück für eine Frau und einen Mann, der sie beinahe wegen einer anderen umgebracht hätte, in Sunrise?
Murnau schafft in seinen in Deutschland gedrehten Filmen eine phantastische erotische Mythologie. Von Männern, die von ihren gegensätzlichen Impulsen hin und her geworfen werden, von Frauen, die ihnen aus ihrer Einsamkeit heraus die Signale der Verführung senden, die statt zu einer Liebesgeschichte zu einer Katastrophe führen. So verkehren sich die Impulse; der Faust (1927) Murnaus will zunächst nur seine Heimatstadt vor der Pest retten, als er sich dem Teufel verschreibt, und dann erst verblenden ihn Reichtum und Macht, Gretchens Verdammnis und ihr Kindsmord sind die Folgen ihrer Sehnsucht nach Erlösung und Überschreitung.
Wir kennen den einen Murnau, der das Licht in malerische Bewegung setzte, der die Kamera »entfesselte« und einen völlig neuen Filmraum schuf. Wir kennen einen zweiten Murnau, der seine Schauspieler auf neue Art benutzte, als Schlüssel zu Innenwelt und Wahrnehmung: der filmische Raum in Murnaus Filmen wird durch die Personen geschaffen und diese durch ihn. Die »innere Montage« seiner Einstellungen (durchaus verwandt dem inneren Monolog in der Literatur) reißt die Grenze zwischen der Instanz des Erzählers und der des Erzählten ein. Und wir kennen schließlich jenen dritten Murnau, der ein tragisches Bild der Liebe zeichnete, der im Melodrama eine tiefe Störung in der Ordnung der Geschlechter versteckte, die zugleich eine Ordnung von Blick und Bild ist. In den absurden Drehungen seiner Geschichten, wie in Der Gang in die Nacht (1920) zerstören die Menschen, was sie lieben, indem sie, diesmal in der Geschichte vom Augenarzt, seiner Ehefrau und dem Blinden, ganz buchstäblich die Augen öffnen und schließen, immer im falschen Zusammenhang. Oder im richtigen, wie man es nimmt. Vielleicht ist es sinnvoll, einmal darüber nachzudenken, wie das zusammenhängen mag, die Auflösung des Bildes und die Auflösung in der Ordnung der Geschlechter (die oft körperlich-schwere Leiblichkeit der Männer, und die Bildhaftigkeit der Frauen).
1926 geht Friedrich Wilhelm Murnau nach seinem überwältigenden Erfolg mit Der letzte Mann in Europa nach Amerika; »Machen Sie mir einen großartigen Film, egal was er kostet«, ließ William Fox ihm ausrichten. Und Murnau kommt mit einem eher unamerikanischen Stoff: Hermann Sudermanns Die Reise nach Tilsit, die Geschichte vom jungen Bauern, der sich in eine Magd verliebt und unter ihrem Einfluss sogar versucht, die Ehefrau auf einer Bootsfahrt nach Tilsit umzubringen. In der fremden, faszinierenden Stadt aber erkennt er seine wahre Liebe. Er will mit ihr, wie neu verliebt, nach Hause zurückkehren. Doch bei der Heimreise kentert das Boot; der Bauer rettet seine schwangere Frau und findet selbst den Tod. Murnau und sein Drehbuchautor Carl Mayer übertragen den Stoff in die Gegenwart; aus der Magd wird ein städtischer Vamp, der den Mann, wie Martin Scorsese sagt, ganz buchstäblich durch Bilder verführt. Murnau ist zutiefst beeindruckt von New York, aber die Stadt in Sunrise, die Rochus Gliese entworfen hat, ist Berlin (bis hin zu direkten Übernahmen von modernen Architekturen wie das Mosse-Haus von Erich Mendelsohn). Und auch das Dorf am Lake Arrowhead ist gestaltet nach dem Vorbild Ferch bei Berlin. Die Bauten sind in ihrer Materialität verzerrt, Wände und Decken in verzerrter Perspektive errichtet; erst in der Arbeit mit der Kamera bekommen sie ihr eigentliches Wesen, das nicht der äußeren Bewegung des gewohnten physikalischen Kosmos folgt, sondern der inneren, die die Empfindung und die Emotion vorgibt.
Sunrise ist ein naturalistisches Melodrama und ein Film, der die »Sprache« des Films entschieden voran brachte. Die Kritik war begeistert, aber die Zuschauer verweigerten sich dieser Erfahrung weitgehend. Murnau konnte für William Fox nur unter erheblich eingeschränkten Bedingungen weiter arbeiten. So entstanden Four Devils und City Girl (1929), auch Our Daily Bread genannt, eine einfachere Variation des Stadt-Land-Melodrams, in denen sich Murnaus Intentionen am Kontrollsystem des Studios zerrieben. So war sein Weg in die Südsee auch Flucht. Hier entstand mit Tabu das letzte Meisterwerk, ein Ende, das eigentlich ein neuer Anfang hätte werden können. 1931 starb Murnau bei einem Autounfall.
Tabu fasst vielleicht noch einmal Murnaus innere Erzählung vom Menschen zusammen, der von seinem Begehren aus seinem Paradies vertrieben wird. Alle seine Filme indes sind Dokumente einer großen Desillusionierung. Seine Menschen, und wir, die wir ihnen beim Sehen und beim Denken (wie Eric Rohmer sagt) zugesehen haben, haben die Grenze überschritten. Wir haben die Blindheit überwunden, aber was wir gesehen haben, das hat vor allem die Heuchelei erklärt, nicht nur die des Tartüff und des Faust. Deshalb läuft Murnaus Kino zugleich in der Fabrikation der Illusionen und gegen sie.
Murnaus Leidenschaft galt dem Sehen. Er verwendete die extreme Tiefenschärfe vor allem um alles bis in den letzten Winkel sichtbar zu machen. Das Licht will überall hin, es sucht das Objekt, nicht den Selbstzweck, Murnau entdeckt den filmischen Raum, der um so vieles mehr ist als eine Bühne. Er produziert eine filmische Realität. Und dafür nutzte er alle Möglichkeiten: In Sunrise muss der Schauspieler in der Szene des Beinahe-Mordes im Ruderboot zwanzig Pfund Blei in seinen Schuhen tragen, um seinen Gang schwer und bedrohlich zu machen. Die Jagd nach den richtigen Wolken-Bildern für Nosferatu ist Legende.
Aber genau in diesem Widerspruch zwischen Illusion und Desillusionierung, zwischen Sehen und Blindheit, Tag und Traum, entsteht das Phantom. Es verlangt danach, metaphorisch oder psychoanalytisch gedeutet zu werden, und lockt uns dabei doch in die Irre. Ist Nosferatu, wie Kracauer sagt, »die blutrünstige, aussaugerischer Tyrannenfigur«, oder ist er umgekehrt, eine antisemitische Verzerrung, eine Gleichung auf den »ewigen Juden«, wie Jürgen Müller belegen wollte (gar ein gezielter Versuch rechter deutscher Industrieller, gegen die weitere Einwanderung von Ostjuden), ein vergeblicher Versuch Murnaus, das Drehbuch von Henryk Galleen zu entschärfen? Es ist, viel fundamentaler, ein anderes und Außenseitiges, was in den Kreis der Liebe tritt. Oder zwischen Blick und Bild.
Zur Retrospektive ist ein sehr schönes und nützliches Buch im Berliner Bertz-Verlag erschienen: Hans Helmut Prinzler (Hg.): Friedrich Wilhelm Murnau. Ein Melancholiker des Films. 300 reich bebilderte Seiten. Mit einem Essay von Thomas Koebner, biographischen Skizzen von Daniela Sannwald und Janet Bergstrom und Dokumenten und Kritiken zu allen Filmen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.