Katze, Esel, Lama

Welträtsel Es ist lange her, dass ein Film von Jean-Luc Godard in die deutschen Kinos kam. Nun startet „Film Socialisme“, und man mag fragen: Über wen macht sich Godard da lustig?

Es gibt Künstler, und es gibt Theoretiker. Und dann sind da noch jene Künstler, die so sonderbar zwischen der Kunst und der Methode stecken, vermittelnd und trennend, dass ihr Werk etwas Monströses, nie Abschließbares erhält. Während sie zugleich zu Kulturhelden werden, dienen sie der Theorie und machen zugleich die Kunst ratlos. Oder umgekehrt. Kleist vielleicht, Musil, Arno Schmidt, Jean-Luc Godard.

Diese Theoretiker/Künstler bezahlen die Bewunderung oft damit, dass sie einem größeren Publikum verloren gehen, weil sie als „schwierig“ gelten, weil ihr Werk, wie grandios auch immer, an sich selber scheitern muss. Und der Künstler selber natürlich mit ihm. Darüber kann man verzweifeln oder lachen.

Man muss zuerst verstehen, dass Godard ein Mensch mit Humor ist. Er spielt den Clown, das macht er gern. Auch als Filmlehrer, und JLG ist ein begnadeter Filmlehrer, er ist ein Clown-Philosoph, und das gilt umso mehr für die Anwesenheit des Künstlers in seinen Filmen. So spielt er natürlich mit seiner eigenen Verschrobenheit, aber es wäre sträflich, hinter dem Clownesken nicht das Philosophische zu sehen, wir könnten auch sagen: das Politische.

Auf einer langen Reise

Sehen wir uns einen Film von Federico Fellini an, dann dürfen wir uns dazu alles möglich denken, unseren eigenen Träumen nachhängen oder uns einfach kindischem Staunen überlassen. Sehen wir einen Film von Jean-Luc Godard dagegen, so wird automatisch eine Diskursmaschine in unserem Kopf angeworfen. Übrigens haben die jeweils anderen Godard nicht richtig verstanden. Immer. Und das Unverständliche ist natürlich nicht, wie bei Fellini, ein Eingang in Traum, Komposition und Mythos, sondern eine konkrete Geste gegen Hollywood, gegen die Hauptkultur.

Jean-Luc Godard hat mehrfach das Ende des Cinéma (Film/Kino) behauptet (am rigorosesten in Weekend) und dann jenseits dieses Endes wieder neu begonnen. Aber dieses Filmen jenseits des Endes des Filmens verbirgt keineswegs die Trauer darüber, dass der Film ein Medium der Befreiung hätte werden können, und dass er stattdessen eines der fundamentalen Medien der Unterdrückung geworden ist.

So ist Film Socialisme kein Film, der vom Sozialismus handelt. Man begreift, was gemeint ist, wenn man den Titel vom „Film Capitalisme“ her liest. Im „normalen“ Kinofilm „entfaltet“ sich der Kapitalismus in dem, was er sagt, und als Ausdruck dessen, wie er entstanden ist. Der Film Capitalisme ist ein widersprüchliches Marktgeschehen. Ein Film Socialisme geht radikal anders mit seinem Material um. Die technischen, ökonomischen, sozialen und semiotischen Maschinen, die zur Herstellung eines Films benötigt werden, produzieren nicht „Mehrwert“ und „Abfall“, sie werden nicht zum Museum der toten Arbeit, sie produzieren „für sich“. Lebendige Arbeit oder anders gesagt: Ein Film Capitalisme kann nur das Vergangene abbilden, ein Film Socialisme versucht, in die Zukunft zu greifen.

Jean-Luc Godard scheint mir nicht erst seit Hélas pour moi (1993) auf einer langen Reise in die Antike zu sein oder an den Ursprung des Denkens aus dem Mythos heraus. In Logos, Theknos, Textos, Videos, Audios eingeteilt sind die Mitarbeiter dieses Projektes, wieder einmal ein letztes möglicherweise. Das erste Bild des Films ist ein Papageienpaar. Das zweite ist Wasser.

Schnell, langsam, schnell

Der erste Film. Wir sind auf einem Luxusschiff im Mittelmeer, unterwegs zu verschiedenen Stellen, an denen „Wiegen der Kultur“ vermutet werden. Hier begegnen einander (oder auch nicht) unterschiedliche Charaktere. Man tut, was man auf einem Traumschiff so tut. Konversiert. Speist. Geht tanzen. Spielt „Superbingo“ auf Deck Nummer fünf. Das Unvereinbare begegnet sich. Man spürt die Geschichte. Aber sie ist nicht „geschehen“ und nicht „vorbei“.

Der zweite Film. Ein Geschwisterpaar, Bruder und Schwester, verlangt von den Eltern zu erfahren, was es mit den großen Werten auf sich hat, die in der Revolution verheißen worden sind: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Eine Tankstelle inmitten der Provinz ist der Schauplatz; ein kleines Team vom Fernsehen ist auch dort. So wie man im ersten Teil unterwegs im Wasser ist, könnte man hier „gestrandet“ sein, im Fluss des Verkehrs. „Nicht über das Unsichtbare reden, es zeigen“, darum geht es.

Der dritte Film. Eine Bilderreise zu den Orten der Geschichte im Mittelmeer, Griechenland, Palästina, Ägypten, Neapel, Barcelona und wundersamerweise auch Odessa (wie im ersten Teil). Denn Meere sind nicht nur durch Wasser, sondern auch durch Bilder miteinander verbunden. Der dritte Film ist eine Wiederaufnahme des ersten.

Film Socialisme ist unter anderem eine „Symphonie in drei Akten“. Das ist insofern unscharf, als eine Symphonie natürlich keine „Akte“ hat, sondern „Sätze“. Das konventionelle Kino hat Akte, drei oder fünf. In der vorklassischen Zeit, etwa bei Samartini, hatte das Symphonische in der Musik noch eine Dreierstruktur: schnell, langsam, schnell. Godards Filme sind immer einfach zu verstehen, wenn man sie musikalisch versteht.

Es ist eine Komödie, wenn auch keine der Typen und der Situationen, so doch eine der Zeichen und Bilder. Immer mag man fragen: Über wen macht sich Godard da lustig? Über seine Zuschauer? Über das Kino? Über sich selbst? Über die Hoffnung auf Ordnung?

Es sind Splitter von etwas, das als Zersplittertes nicht mehr rekonstruiert werden kann. Godard gibt keine Rätsel über die Welt auf, er sieht die Welt als Rätsel. Alle Zuordnungen, selbst die von Opfern und Tätern, die der Kollaboration, das „Vergleichen des Unvergleichlichen“ sind Erkenntnis, solange man nicht hofft, „das Ganze“ zu erkennen.

Mit unverschämter Leichtigkeit

Godard begreift Film nicht wie eine Ware, sondern wie ein Geschenk, und er mag mit Derrida glauben, die Gabe könne ernsthaft die Ökonomie attackieren. Deshalb hat sein Film weder eine „Oberfläche“, auch keine „raue“, noch einen (mythischen) Kern. Er hat weder einen Nutzwert noch einen Tauschwert noch einen „Sinn-Wert“. Seine einzige, enorme Kraft ist seine Gegenwart. Man wird nicht herausbekommen, was damit gemeint ist. Weshalb es auch ein vergiftetes Geschenk sein kann.

Kompositionsprinzipien sind leicht auszumachen (auch wenn man sich nicht „auf sie verlassen“ kann): das Abbrechen des Tones vor dem Bild-Schnitt. Die ständige Konfrontation der „schönen“ HD-Bilder, der „lausigen“ Handy-Aufnahmen und des dokumentarischen Materials. Eine Einschub-Montage, die gerade zwischen „Einstellung“ und „Insert“ bleibt. Sprachspiele. Widerläufige Qualitäten von Bild und Ton. Bizarre Massenbewegungen, im Tanz, bei den Landgängen. Die planimetrischen Aufnahmen einer je eigenen Performance (besonders eindrucksvoll die des kleinen Jungen mit Holzstab und Hammer- und Sichel-CCCP-T-Shirt); Kunststücke der eigenen Art. Und wie einst Ahab behauptet der Knirps, die Sonne anzugreifen, wenn sie ihm was zuleide täte. In diese Szenen packt Godard seine Zärtlichkeit.

Das Bild, das den meisten im Gedächtnis bleibt, ist das im zweiten Film, wo die junge Frau lesend an einer Zapfsäule lehnt, während ein Lama an die Betonpfeiler gebunden ist, an denen Luftdruckmesser für den Reifendruck hängen. Aus dem Off hören wir deutsche Stimmen, Touristen, die nach dem Weg zur Côte d’Azur fragen. Die Frau blickt nicht auf, sondern fordert die Touristen nur auf, in ein anderes Land einzufallen. Mit einem „Scheißfrankreich“ fahren sie davon. „Ach, Deutschland“, meint sie. Dann gibt das Lama sein Geräusch dazu.

Die drei Teile der Symphonie sind in gewisser Weise autark, aber zugleich ziehen sich auch Leitmotive durch alle drei – die Hieroglyphen, die Tiere, Katzen vor allem, ein Esel, der im dritten Teil einen Fernseher auf dem Rücken trägt; aufmerksam gesehen enthält jeder Teil auch einen Lektüreschlüssel für die beiden anderen. Der Panzerkreuzer Potemkin, aber auch Einstellungen auf ein Kreuzfahrtschiff verbindet Teil eins und Teil drei. Die Eule der Minerva auf der Treppe von Odessa, die Hegel mit der Philosophie verglich: Sie kann erst erklären, wenn es zu spät für das Handeln ist. Und wie ist es mit dem Bild? Kann es nur zeigen, was schon vergangen ist? Derselbe Blick auf den Stierkampf in Teil drei bekommt einen anderen Wert als der in Teil eins.

Man müsste sich, bevor es zu spät ist, angewöhnen, Filme von Jean-Luc Godard mit der unverschämten Leichtigkeit anzusehen, die sich dieser Filmemacher am Ende des Autorismus gegenüber seinem Material herausnimmt. Und auch mit dem Zorn, den er immer noch in sich hat.

Georg Seeßlen veröffentlichte zuletzt Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität bei Suhrkamp (mit Markus Metz)

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