Gesetz und Freiheit

Nachruf Ich war fest überzeugt, dass Wolfgang Ullmann leben wird, bis er seine Dogmengeschichte vollendet hat. Wir kannten uns kaum, aber ich wusste von ihm ...

Ich war fest überzeugt, dass Wolfgang Ullmann leben wird, bis er seine Dogmengeschichte vollendet hat. Wir kannten uns kaum, aber ich wusste von ihm seit einem Jahr, dass es dieses Vorhaben war, welches ihn nach dem Tod seiner Frau im Leben hielt. Ich erfuhr es, als ich ihn nach der Tagung des Freitag zu "Gott und die Katastrophen" 2003 in der TU Berlin, die in einem Gartenlokal beschlossen wurde, mit dem Auto nach Hause brachte. Dabei setzten wir unseren Disput fort, denn er hatte auf der Tagung zu mir gesagt: "Zum Problem des Bösen und des Guten, Frau Treusch-Dieter, würde ich das 5. Buch Mose zitieren: ›Siehe, ich lege euch heute vor das Gute und das Böse - das Leben und den Tod‹. Das ist in meinen Augen die Definition". Nein, sie meinte keine Gleichsetzung des Bösen mit dem Tod, wie sie aus meiner Sicht, festgelegt in der Schöpfung, auf das Weibliche projiziert wurde, sondern vielmehr: Uns ist beides zur individuellen Entscheidung vorgelegt und in dieser Entscheidung dem Wissen aller entzogen, da das, "was das Böse ist, nur der weiß, der es tut".

Dem strukturellen Verhängnis der Religion, das ich vertrat, setzte Wolfgang Ullmann die offene Situation einer existenziellen Entscheidung entgegen, für die dennoch galt, dass sie aus der Schöpfung folgte, denn er fügte hinzu, "die biblische Tradition geht davon aus, dass Gott die Definitionsmacht hat - nämlich dadurch, dass er der Schöpfer ist". Mein Widerspruch war nicht zu stillen. "Ach wissen Sie", sagte er da, "Sie hätten mal meine Frau als Theologin hören müssen, ihre Fragen waren nie zufrieden zu stellen, wir diskutierten vom ersten Augenblick an."

Heute, scheint mir, verstehe ich durch drei Antworten, die mir Wolfgang Ullmann gab, warum sein Lebenswerk eine Dogmengeschichte sein sollte. Zum einen kann kein Lehramt darüber entscheiden, wie die Bibel auszulegen sei. Durchgesetzt hat dies die Reformation, Luther erteilte allen das Wort, die Rede ist frei, absolut. Zum zweiten verband Wolfgang Ullmann diese Rede, zu der er auch den feministischen Diskurs zählte, mit dem aus der Kirchengeschichte "bekannten Verfahren" der "subversiven Bibelinterpretation", demgegenüber er jedoch darauf bestand, "die Überlieferung hat ihre eigene Würde und ist nicht beliebig deutbar. Das sage ich auch als Rechtspolitiker. Was würde denn eintreten, wenn man Gesetze auf diese Weise interpretieren würde?"

An diesem antagonistischen Punkt von Gesetz und Freiheit brachte Wolfgang Ullmann die dritte Antwort ins Spiel: Paulus. Ihm, der "jedem einzelnen Christen nach der Taufe eine Existenz zuschreibt", die weder Hellene noch Jude, weder Sklave noch Freier, weder Mann noch Frau, sondern "Einer" ist, ihm war seine Dogmengeschichte gewidmet: "›Ihr seid allesamt Einer!‹ Entschuldigen Sie, Frau Treusch-Dieter, das sind sicher Maskulin-Endungen, aber es geht dabei um eine Ebene, wo die Identität des einzelnen Individuums überhaupt erst zustande kommt, und das war eine revolutionäre Entdeckung auch für das Denken."

Gesetz, Revolution und die Basisdemokratie, die sich gerade da auf die absolute Freiheit des Individuums berufen kann, wo es nur Gott verantwortlich ist - das war die von Wolfgang Ullmann nicht nur gelebte, sondern auch, ohne Schonung seiner selbst, in die politische Tat umgesetzte Quadratur des Kreises. Wolfgang Ullmann verkörperte für mich den Inbegriff einer Glaubwürdigkeit, die mir in ihrer Güte und Zärtlichkeit unvergesslich sein wird.

Angekommen vor dem Haus, in dem er wohnte, schenkte er mir noch eine vierte Antwort, denn auf meine Frage, warum sich das Neue Testament permanent selbst wiederspricht, sagte er: "Aber Frau Treusch-Dieter, vergessen Sie nicht, dass es auch ein großes Märchenbuch ist."


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