Der Meister in diesem Zimmer

Expertise Der Schriftsteller Gerhard Henschel hat "Günter Grass im Visier" gelesen und viel unfreiwillige Stasi-Komik entdeckt

In einem Ostberliner Wohnzimmer trug Günter Grass 1977 ein Kapitel aus seinem neuesten Roman vor, „mit Selbstgenuss“, wie Manfred Krug vermerkt hat: „Er ist schon der Meister in diesem Zimmer, und er weiß es.“ Nicht weniger bedeutend als sich selbst kam Grass den Bewegungsmeldern der Stasi vor, die ihm und seinen Begleitern bei allen Aufenthalten in der DDR auf den Fersen blieben: „16.05 Uhr parkten sie den PKW in der Schwanenstraße und betraten anschließend das Restaurant der Weimarhalle. Grass und seine Ehefrau setzten sich an einen Tisch und tranken Kaffee.“ Und der Staat sah zu.

Studieren kann man diese Dokumente deutscher Gründlichkeit in Kai Schlüters Buch Günter Grass im Visier. Die Stasi-Akte. Von der Stasi ist bekannt, dass sie Bürgerrechtler sogar beim Mülleimerleeren fotografiert und das Bildmaterial zu den Akten genommen hat. Den Schriftsteller Grass fasste die Stasi bereits 1961 ins Auge und bespitzelte ihn bis zum bitteren Ende. „Der Überwachungsauftrag sollte sich über fast 30 Jahre erstrecken.“ Sie können einem fast leid tun, die Spione, die Grass all die Jahre lang immer wieder beim Einparken und beim Kaffeetrinken zu beobachteten hatten. Die ideologisch gefestigten Laubenpieper witterten überall Verrat: „Auf Grund des vorliegenden operativen Materials kann eingeschätzt werden, dass die Gruppe 47 gegenwärtig ein aktives und wirkungsvolles Zentrum der ­politisch-ideologischen Diversion gegen die Kulturschaffenden der DDR darstellt.“ Und dabei war die Gruppe 47 doch nicht viel mehr als eine Selbsthilfegruppe ehrgeiziger Autoren, die gern zu Zechgelagen zusammenkamen.

Hin und wieder wagte sich die Stasi an die Interpretation des literarischen Werks von Grass. 1975 gab er in einem Gedicht seiner Befürchtung Ausdruck, dass der ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann im Westen „unnütz“ wäre. Nach Schlüters Ermittlungen sah sich die Stasi durch diese Wortwahl in dem Verdacht bestärkt, dass Grass „Dissidenten in der DDR gegen die DDR in­strumentalisierte: Wenn Biermann im Westen unnütz war, so war er im Osten als Unruhestifter nützlich.“ Mit Staatsschützern, die nichts besseres zu tun ­haben, als Gedichte auszulegen, ist kein Staat zu machen. Noch ulkiger wirkt der Versuch, den Roman Der Butt kriminalistisch auszuwerten: „Anhand immer wiederkehrender Konstellationen Mann-Frau-Butt (Fisch, der als Ratgeber der männlichen Menschheit fungiert) will Grass eine Kulturgeschichte von der Bronzezeit bis zur Gegenwart erzählen. Dabei lässt er mehrfach Anlehnungen an Argumentationen feministischer west­licher Organisationen, erkennen – die Männer machten durch ‚ihr anderes Ich‘ (durch Grass selbst nicht genau definiert) den historischen Fortschritt fragwürdig.“

1983 initiierte Grass ein internationales Schriftstellertreffen in der Berliner Akademie der Künste. Im Gegensatz zu Stephan Hermlin, Stefan Heym und Hermann Kant war der ehemalige Knastbruder Walter Kempowski dazu sicherheitshalber gar nicht erst eingeladen worden. In seinem Tagebuch hat Kempowski sich darüber mokiert, dass er damals „weggeschnippt“ worden sei: „Ich sehe den Härtling vor mir, wie er sich eine Zigarette ansteckt und das Streichholz ausschüttelt, und dann kommt Grass angeschlurft, und dann sagen sie: Ne, der macht uns alles kaputt.“ Und wenn er’s getan hätte? Wäre das nicht erfrischender gewesen als 30 Jahre ­sauertöpfischer Realpolitik zwischen Günter Grass und der SED?



Gerhard Henschel, Jahrgang 1962, lebt als Schriftsteller in Bad Bevensen. 2006 schrieb er in der Anthologie Literatur als Qual und Gequalle. Über den Kulturbetriebsintriganten Günter Grass

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