Das Leben jagt mir im tiefsten Inneren Angst ein

Im Gespräch Die Filmemacherin Claire Denis und ihr Hauptdarsteller Alex Descas über den gemeinsamen neuen Film "35 Rum" und den Laternenumzug an der Nordseeküste, den es darin gibt

Bekannt geworden ist die französische Filmemacherin Claire Denis dem deutschen Publikum vor gut 15 Jahren mit "Ich kann nicht schlafen", einem in der Tat traumwandlerischen Film über Kriminalität, Migration und das alltägliche Leben in Paris. Ins deutsche Kino gekommen war zuletzt 2001 der Fremdenlegionärsfilm "Beau Travail", während spätere Arbeiten wie "Trouble Every Day" oder "L’Intrus" nur auf DVD erhältlich sind. Am 5. März kommt ihr neuer Film "35 Rum" in die hiesigen Kinos.

DER FREITAG: Frau Denis, machen Sie Filme noch immer aus den gleichen Gründen wie vor 20 Jahren?

CLAIRE DENIS: Ja und nein. Vielleicht doch eher ja. Denn ich habe das Gefühl, immer noch genau so unsicher wie bei meinem ersten Film zu sein. Da besitzt man eine Unschuld, die einen besonders verletzbar macht. Als ich Chocolat drehte, hatte ich allerdings zugleich eine ungeheure Energie, schließlich hatte ich lange drauf warten müssen, selbst Regie zu führen. Dabei ist es pervers, was die verstreichende Zeit mit einem anstellt. Die Möglichkeit des Scheiterns ist immer noch so nah und real wie beim ersten Mal. Was sich ändert, ist der Wunsch, sich eine gewisse Härte gegenüber sich selbst zu erwerben. Ich sage mir ständig, ich möchte nicht mehr leiden, möchte weniger angreifbar sein. Es macht mir Angst, wenn es heißt: „Alles noch einmal auf Anfang!“ Es ist nicht nur ein Vergnügen, es ist auch schmerzhaft, Filme zudrehen.

Herr Descas, Sie arbeiten seit 20 Jahren mit Claire Denis zusammen. Entsteht dabei eine Verantwortung, eine Zugehörigkeit?

ALEX DESCAS: Nein, eher nicht. Ich will nichts, was mich in einer Zusammenarbeit blockiert. Aber so interessante Rollen wie bei Claire bekommt man nur selten.

DENIS: Unser erster Film war wie eine Prüfung, die wir zusammen bestanden haben. Wir hatten sehr hohe Erwartungen aneinander, die wir vielleicht gar nicht ganz erfüllt haben. Aber danach war jeder neue Film eine Verabredung, die wir unbedingt einhalten wollten.

DESCAS: Verzeihen Sie, ich habe eben nachlässig geantwortet, ich war zerstreut. Natürlich empfinde ich eine große Verantwortung. Sie hat viel mit dem zu tun, was uns seit 20 Jahren verbindet. Eine so enge Beziehung ist im Kino ein Privileg. Das nimmt man nicht auf die leichte Schulter.

Es ist eine ausgemachte Sache, dass Sie bei ihr mitspielen, ist das Drehbuch zweitrangig?

DESCAS: Ich weiß im Voraus, dass das Lesen mir Vergnügen bereiten wird. Claire ist die einzige Regisseurin, der ich zusage, ohne das Drehbuch zu kennen. Ich wollte schon mit ihr arbeiten, bevor ich sie überhaupt das erste Mal traf. Bei einer Kollegin, Mireille Perrier, die in Claires erstem Film Chocolat mitspielen sollte, lag eines Abends das Drehbuch auf dem Küchentisch und ich war absolut gefesselt, als ich die ersten Seiten las. Bei Claires nächstem Film habe ich dann nachgeforscht, wo und wann das Casting sein sollte. Erst schien es, als gebe es keine Rolle für mich. Und Du hast mich lange warten lassen, bis zu zugesagt hast.

DENIS: Man zögert manchmal. Wenn man einen Film zusammen dreht, ist das wie ein Pakt, den man geschlossen hat. Etwas hat sich herauskristallisiert, von dem man fortan ausgehen will. Von unserem ersten gemeinsamen Film an war klar, dass Alex in meinen Geschichten präsent sein sollte, nicht als Verpflichtung, sondern als Verabredung mit Jemandem, der eine Konstante in meinem Leben sein sollte. Es gibt einige Leute, auf die ich immer wieder zurückkomme – der Drehbuchautor Jean-Pol Fargeau, die Kamerafrau Agnès Godard, der Szenenbildner Arnaud de Moleron –, weil wir die Zusammenarbeit als eine sehr tiefe Erfahrung begreifen. Das kann auch heftig, voller Streit sein. Aber es ist immer eine Herausforderung, wenn man sich schon länger kennt. Man will weiter gehen. Man vermeidet die Routine, wie ein Bergsteiger, der schon zweimal die Eiger-Nordwand erstiegen hat und nun die Südwand ausprobieren will. Alex hat für mich immer etwas Rätselhaftes behalten, etwas, das sich nie ganz in den Rollen offenbart. Die Beziehung zwischen Regisseur und Schauspieler ist ohnehin mysteriös. Aber in diesem Fall ist sie noch komplexer. Ich mache Filme mit ihm, bediene mich der Fiktionen, um ihn besser kennenzulernen.

Ihre Filme erzählen von Reisen, inneren wie äußeren. Aber Alex Descas besetzen sie nicht in Filmen, die in der Ferne, in Afrika oder anderswo spielen, sondern in Marseille oder Paris.

DENIS: Er hätte in Beau Travail mitspielen sollen, meinem Film über die Fremdenlegion, aber er war wegen eines anderen Films verhindert. Alex repräsentiert auch etwas anderes. Er ist kein exotischer Schauspieler, weil er schwarz ist, sondern ein französischer Schauspieler. Das will ich eigentlich mit jedem Film demonstrieren. Er gehört zu uns.

In dieser Hinsicht dürfte 35 Rum eine Krönung Ihrer Zusammenarbeit sein, denn praktisch alle Figuren sind Franzosen, deren Vorfahren aus den ehemaligen Kolonien stammen.

DENIS: Nein, die Migranten aus der Karibik sind Franzosen, sie werden nur nicht als solche betrachtet.

Ich glaube, der Film geht auf Ihre eigene Familiengeschichte zurück?

DENIS: Ja, es ist ein lang gehegtes Projekt. Persönliche Geschichten muss man länger in seinem Kopf bewegen. 35 Rum hat viel mit dem Verhältnis meines Großvaters zu meiner Mutter zu tun. Alex habe ich ein wenig so besetzt, wie Yasujiro Ozu den wunderbaren Chishu Ryu besetzt hat. Er ist ein schöner, geheimnisvoller, sehr schamhafter Mann – nicht nur, weil er Asiate ist, sondern weil der Schauspieler außerordentlich ist. Ich musste etwas warten, bis Alex das nötige Alter hatte.

Die Art, wie Sie Männer filmen, besitzt eine große Sinnlichkeit. Aber nun ist in diesem Blick auf die Virilität auch eine Reife, eine Gelassenheit zu spüren.

DENIS: Ja, denn in dieser Beziehung ist die Schamhaftigkeit wichtig. Das ist nicht der Blick einer Liebenden. Zwischen Vater und Tochter herrscht eine andere Art von Intimität.

An 35 Rum hat ich fasziniert, wie häufig darin gelächelt wird, wie kleine Alltagsgesten mit einem Lächeln quittiert werden.

DESCAS: Ich glaube, darin zeigt sich ein Verstehen des Anderen, das ohne Worte auskommt.

DENIS: Das Lächeln ist wie ein Code. Es ist klein glückliches Lächeln, eher eine Bestätigung, dass alles in Ordnung ist.

Eine Notwendigkeit, sich zu vergewissern, dass er andre noch lebt? Die Geschichte hat ja einen tragischen Hintergrund, den Tod der Mutter.

DENIS: Das Leben ist nicht unbedingt unerträglich, aber es steckt voller Grausamkeit. Ja, Sie haben Recht, der Code bedeutet: „Ich wache über dich.“

Warum gibt es in dem Film eine Reise nach Deutschland? Ich vermute, das verdankt sich nicht nur der Suche nach einem Ko-Produzenten?

DENIS: Nein, es ist genau anders herum. Wir haben einen deutschen Partner gesucht, weil uns beim Schreiben des Drehbuches von Anfang an klar war, dass die verstorbene Mutter beziehungsweise Ehefrau aus dem Norden kommen musste. Die Ostsee kenne ich noch aus meiner Jugend, ich habe sehr prägnante Erinnerungen an den Küstenstreifen zwischen Kiel und Lübeck. Ich habe meine Hochzeitsreise dorthin gemacht. Ich erinnere mich noch genau an die Prozession der Kinder, die Ende Oktober, Anfang November mit ihren Lampions durch die Dünen ziehen: (singt auf Deutsch)„Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne…“ Ich wollte am Ende dieses Films kein mediterranes Licht, sondern das Licht des Nordens.

Die Jahreszeit ist schon ein wenig zu kalt, um am Strand zu zelten.

DESCAS: Aber es ist gewissermaßen der letzte Sommer, den Vater und Tochter noch einmal zusammen verbringen.

Der Film drängt am Ende auf die Ablösung der Tochter. Aber wenn Sie ihren Nachbarn heiratet, ist es so, als bliebe es in der Familie.

DENIS: Sie will ihre vertraute Umgebung nicht verlassen, aber sie muss Abschied nehmen von ihrem Vater. Wenn sie weiter bei ihm wohnen bliebe, würde sie nie einen Mann lieben können. Es ist nötig, dass sie diesen Bruch vollzieht. Ich weiß noch, wie glücklich ich war, als ich von meinen Eltern fortzog. Aber ich erinnere mich auch noch sehr gut daran, wie mich am Morgen meiner Hochzeit meine kleine Schwester im Badezimmer angriff. Sie schlug wie verrückt auf mich ein, weinte, hatte das Gefühl, ich würde die Familie verraten. Auf dem Standesamt hatte ich lauter blaue Flecken Heute ist sie längst selbst Mutter. Aber allmählich verstehe ich, was sie gefühlt hat. Es macht mir Angst, Menschen zu verlieren, die ich liebe.

Die Treue, das Zusammenbleiben, ist auch ein Hauptelement Ihrer Arbeitsweise. Wie wichtig ist das, um in der Filmindustrie zu überleben?

DENIS: Das hat nichts mit Überleben zu tun. Wenn ein Film fertig ist, dann ist mein Dasein ein reines Überleben, ein Zustand der Leere. Das Leben jagt mir im tiefsten Inneren Angst ein.

Aber im Kino sind sie so abenteuerlustig!

DENIS: Aber ich bin, wie einer der Fremdenlegionäre in Beau Travail sagt, ungeeignet fürs Zivilleben. Manche Menschen können mit den Schrecken des Alltags wunderbar umgehen, aber ich habe schon Angst, meine Steuern nicht pünktlich zu bezahlen. Nein, mein wahres Leben findet statt, wenn ich mit meinen Vertrauten arbeite. Das Leben hat mir viel geschenkt, Liebe, eine Familie, aber meine eigentliche Familie ist mein Team. Dabei vermeide ich es, sie außerhalb der Arbeit zu sehen.

DESCAS: Stimmt, wir sehen uns praktisch nie.

DENIS: Was man bei Dreharbeiten miteinander teilt ist so stark, dass man davor zurückschreckt, der Beziehung etwas Alltägliches zu geben. Meine Kamerafrau Agnès wohnt gleich nebenan, aber wir laden uns nie zum Essen ein, leihen uns höchstens einmal Bücher aus.

DESCAS: Auf diese Weise erhält man sich auch eine gewisse Frische und Neugierde.

DENIS: Ja, jeder Film bleibt eine Probe, eine Herausforderung. Ich glaube, wir haben ein System entwickelt, das es uns allen trotz unserer Schüchternheit erlaubt, uns auszuleben.


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