Diese Geschichte wird vor verschlossenen Türen erzählt. Das Eindringen, das Begehren nach Zutritt ist ihr entscheidender dramaturgischer Impuls. Stolz will der Vater seinem Sohn am ersten Tag seinen Arbeitsplatz zeigen, aber der Vorarbeiter verwehrt ihm den Zugang zur Fabrikhalle. In den Büros hingegen scheinen dem Ökonomiestudenten Frank alle Türen offen zu stehen. Er absolviert ein Praktikum und soll eine Studie über die Einführung der 35-Stunden-Woche erstellen. Aber die Transparenz der Bürofenster ist trügerisch: Sie brechen den Blick der Kamera, halten sie auf Distanz. Was die Firmenleitung verhandelt, bleibt ihr und Frank vorerst verborgen. Bei der entscheidenden Direktoriumssitzung bleiben beide außen vor.
Der soziale und filmische Ra
lmische Raum sind in Laurent Cantets Ressources Humaines präzise vermessen und aufgeteilt. Diese Kartografie der Lebens- und Arbeitsbeziehungen legt in der kleinen nordfranzösischen Fabrik indes nicht allein der Firmenchef fest, sondern auch Franks Vater, dessen Blickwinkel sich die Kamera regelmäßig zu eigen macht. Er beharrt darauf, dass der Sohn sich in bestehende Hierarchien einfügt und gebührende Distanz hält zu den Arbeitern. Die Hoffnungen, die alle Welt in ihn setzt, werden bald zur Last; dem jungen Studenten wächst eine unverdiente, voreilige Autorität zu. Der Vater nimmt klaglos in Kauf, dass sich der soziale Riss mitten durch die eigene Familie zieht.Beinahe jede Sequenz des Films endet mit einer Abblende, die visuell den Charakter einer Chronik unterstreicht: einer Ablösung von auferlegten Lebensträumen. Die Beziehung zwischen Sohn und Eltern wandelt sich mit jeder Szene um eine weitere Nuance der Entfremdung. (Auch hier variiert Cantet das Türen-Motiv, indem er Frank hinter der Milchglasscheibe des Wohnzimmers wie einen Fremden auftauchen lässt.) Seine éducation sociale erreicht ihren Umschlagspunkt, als er entdeckt, dass seine Vorschläge vom Chef nur benutzt wurden, um Rationalisierungsmaßnahmen zu rechtfertigen. Zwölf Arbeiter, darunter sein Vater, sollen entlassen werden. Er muss sich entscheiden, zu welchem Lager er fortan gehören wird. Er engagiert sich für einen Streik. Der Vater, der ein fast religiöses Verhältnis zu seiner (entfremdeten) Arbeit hat, begreift dies als Verrat. Sein Weltbild, in dem großzügige Patrons und bescheidene Arbeitnehmer ihren festen Platz haben, gerät aus den Fugen. Es kommt zu einer schmerzhaften, letztlich kathartischen Umkehrung der Rollen, als Frank sich mit durchaus überheblicher Fürsorge für seine Rechte einsetzt.Arbeiter sind selbst im französischen Kino ein ungewohnter Anblick, ihre Präsenz wirkt fast schon anachronistisch. Cantets lehrstückhafter, kämpferischer Film über Opfer der Liberalisierung ist als Auftragsarbeit für Arte enstanden, als Teil eines Zyklus namens Au Travail. Die Filmreihen, in Frankreich »colléctions« genannt (worin die Liebhaberei eines Sammlers und Förderers mitklingt), sind mittlerweile ein international anerkanntes Markenzeichen des Kulturkanals und deren Fernsehspielabteilung, geleitet von Pierre Chevalier, zu einem wichtigen Co-Produzenten geworden. Filme wie Wilde Herzen von André Téchiné und Beau Travail von Claire Denis, die auf ähnliche Reihenkonzepte zurückgehen, verraten den Ehrgeiz, die Grenzen zwischen Kino- und Fernsehästethik aufzuheben und das Vorurteil zu entkräften, das Fernsehen pflege nur eine Kultur der Produkte und nicht der Werke.Die Fernsehspielabteilung hat in den letzten Jahren regelmäßig die Frage nach dem Platz des Politischen im französischen Kino gestellt. Die politische Geografie schreibt sich direkt in den Titel einer Reihe ein, für die Chevalier sechs Regisseure (darunter Claire Devers, Tonie Marshall und Erick Zonca) eingeladen hat, zu überprüfen, was politische Überzeugungen und Engagement heute gelten: Gauche/Droite. Dieser Zyklus bündelt kollektive Interessen - das Projekt entstand nicht zufällig zu einer Zeit, als sich widerständige französische Filmemacher für das Bleiberecht der »sans papiers«, der Illegalen, einsetzten - und verrät zugleich Respekt vor Autorenschaft und Eigensinn der Filmemacher, die den Franzosen seit der Nouvelle Vague so teuer sind. In Erick Zoncas Beitrag Le Petit Voleur, der nun seine Kinotauglichkeit erweisen soll, sind Temperament und Handschrift des Regisseurs deutlich erkennbar. Die Geschichte des Bäckerlehrlings Esse (Nicolas Duvauchelle), dessen Lebensträume und -möglichkeiten sich zusehends verengen, variiert Motive, die aus Zoncas Debüt Liebe das Leben vertraut sind: Träume vom Anderswo und Anderssein; den verschämten Einbruch in die Intimsphäre Fremder; die geisttötende Mechanik der Arbeitswelt, die beide Geschichten umklammern.Um ein deutsches Äquivalent für eine Schule zu finden, die mit solch pädagogischem Furor zwischen Fernsehen und Kino navigiert, müsste man zurückgehen zum aufklärerischen Fernsehspiel, das in den siebziger Jahren die Aufbruchsstimmung der sozial-liberalen Koalition widerspiegeln wollte, als eine Sendung noch kein flüchtiges Ereignis, sondern Gegenstand erregter Diskussionsrunden und Schulhofgespräche war. Die Individualisierung gesellschaftlicher Erfahrungen machte Arbeiterfilme von Christian Ziewer (Liebe Mutter, mir geht es gut) oder auch Fassbinder (Acht Stunden sind kein Tag) zum »politisch-ästhetischen Flagschiff« des Fernsehens, wie der damalige WDR-Dramaturg Martin Wiebel unlängst stolz bilanzierte.Der didaktische Gestus, mit dem Cantet erzählt, knüpft durchaus an diese Tradition an. Zugleich bemüht er sich um sinnliche, kinohafte Konkretion, bei der die Alltagsgesten eine emblematische Kraft gewinnen. Die Verharschung der sozialen und persönlichen Beziehungen übersetzt er in eine triftige Farbdramaturgie. Der Film drückt sich vornehmlich in Halbtotalen und halbnahen Einstellungen aus, unterstreicht in Gruppentableaus das Pathos gemeinschaftlicher Anstrengung. Nahezu sämtliche Rollen sind mit Laien besetzt. Der Vater wird von einem ehemaligen Elektriker der Comédie Française (Jean- Claude Vallod) gespielt, der Darsteller des jovial-doppelzüngigen Chefs (Lucien Longueville) leitet tatsächlich eine Firma im Speckgürtel von Paris, auch die hartnäckige Gewerkschaftlerin (Danielle Mélador) spielt gewissermaßen sich selbst. Nur Frank wird von einem gelernten Schauspieler, Jalil Lespert, verkörpert. Cantet lässt sie mit dem Ernst einfacher Leute sprechen. Das droht gönnerhaft zu wirken, würde der Film sich nicht sichtlich anstrengen, keinesfalls klüger zu erscheinen als seine Figuren. Am Inhalt der Debatten ist er ohnehin weniger interessiert als an den Reaktionen, die Forderungen der Gewerkschaft treten hinter deren agitatorischen Furor zurück. Auch Zonca findet auf die Frage, wie man als Autor mit der Naivität seiner Figuren umgehen soll, nur halbwegs befriedigende Antworten. Obwohl der Kamerablick fast autistisch auf Gesichter, Körper und Gesten konzentriert ist und sich die überaus mobile, auch feinnervige Kameraführung von Verve und Rhythmus der Darsteller ins Schlepptau nehmen lässt, bleibt es eine prekäre Identifikation. Wenn sich Zoncas eigentlich sprachlose Figuren die sozialen Widersprüche erklären sollen, führt ihn das Eifern nach Authentizität an den Rand der Karikatur: ein Gestus, der entlehnt ist, nicht der Realität, sondern dem Kino und Musikclips.Cantet und Drehbuchautor Gilles Marchand hingegen reduzieren diese Widersprüche nicht auf den Vater-Sohn-Konflikt, sondern machen sie durch ihn erfahrbar. Die schier unfassliche Szene, in der Frank den Handwerkerstolz seines Vaters als Klassenscham entlarvt, ist eine mutige Kollision widerstrebender Gefühle und Positionen. Der Film lässt keinen Zweifel daran, wie anmaßend und demütigend Franks Angriff ist, aber in der Herabsetzung baut er seinem Vater eine Brücke, um sich auf die eigene Würde zu besinnen.Auch in Le Petit Voleur gibt es eine melodramatische Grundierung. Er greift auf die Ikonografie des Gangster- und Boxerfilms zurück. Chevalier hatte den Regisseuren nur zwei Vorgaben gemacht: sie sollten im Rahmen eines Genrefilms erzählen und das Gegensatzpaar Links/Rechts in einer Dialogpassage ansprechen. Aus dem Zusammenprall der Lakonie des Genrekinos und der Geschwätzigkeit eines filmischen Pamphlets vermag Zonca wenig Funken zu schlagen. In einem kundigen Dossier über den Arte-Zyklus hat Vincent Amiel übrigens in Positif herausgearbeitet, dass die beteiligten Regisseurinnen von Manifestationen politischen Engagements erzählen, die Regisseure hingegen von dessen Abwesenheit - wie Le Petit Voleur kreisen sie um Gewalt, Demütigung und Passivität. Dazu passt die Nonchalance, mit der sich Zonca bei der zweiten Vorgabe aus der Affäre zieht: Links und rechts sind bei ihm einfach nur Wegbeschreibungen.
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