Die Zeit des Zögerns ist vorbei

Im Kino "Malen oder Lieben" von Arnaud und Jean-Marie Larrieu ist ein ironischer Gegenentwurf zur strengen Libertinage der 68er

Der Wert eine Kunstwerks, heißt es einmal in diesem Film, bemisst sich an der Atmosphäre, die es schafft. Stolz, und womöglich nicht ohne eine gewisse Eitelkeit, haben Arnaud und Jean-Marie Larrieu damit eine Spur ausgelegt zu ihrem eigenen ästhetischen Programm. Schließlich ist es ist eine nicht gering zu schätzende Disziplin, mit der Kamera eine Atmosphäre zu verdichten. Man muss dazu die Aggregatzustände überlisten, die Aura eines Ortes in Bilder fassen, die Flüchtigkeit der Stimmungen festhalten, ein Fluidum greifbar werden lassen. Noch seltener ist freilich die Gabe, die Atmosphäre zur eigentlichen Triebfeder seines Drehbuches zu machen.

In der pastoralen Idylle der Voralpen geraten die Stadtmenschen Madeleine (Sabine Azema) und William (Daniel Auteuil) in den Bann flirrender Sinneseindrücke, werden konfrontiert mit neuen Erfahrungen, die bald eine unverhoffte, gebieterische Selbstverständlichkeit gewinnen. Bei einem Ausflug in die Berge begegnet die Hobbymalerin Madeleine einem Blinden (Sergi Lopez), der sich als Bürgermeister des nahe gelegenen Dorfes vorstellt und ihr ein leer stehendes Haus zeigt, in das sie sich augenblicklich verliebt. William langweilt sich, nachdem er seinen lukrativen Posten beim Wetterdienst aufgegeben hat und nun seine Tage als Frühpensionär mit Golfspielen zubringen muss. Der Müßiggang gewinnt im neuen Domizil einen frischen Reiz, zumal der undurchsichtige (wie ein Spanier zum Bürgermeister eines Ortes in den französischen Alpen werden kann, ist eine Bizarrerie, die sich das Drehbuch nie zu lösen anschickt), gleichwohl charmante Nachbar eine attraktive Ehefrau (Amira Casar) hat.

Das Ehepaar entdeckt eines Abends die Verlockungen des Partnertauschs und findet sich am Tag darauf, wenn auch nach einer Schonfrist der Skrupel, nicht etwa in Katerstimmung wieder, sondern in einem Zustand gespannter Ergriffenheit. Sie haben einander nichts vorzuwerfen am Morgen danach. Unter der Anleitung des blinden Nachbarn begeben sie sich in eine Schule der Wahrnehmung; bald reagieren sie (und der Zuschauer mit ihnen) auf die Sprache der Körper so, wie einen ein unerwartetes Geräusch aufhorchen lässt.

Das Motiv der romantischen Wiedergeburt erinnert an Murnaus Sunrise (der einmal explizit zitiert wird) und an Rossellinis Reise nach Italien. Die in den Pyrenäen geborenen Brüder Larrieu haben für dieses Sujet indes ihr eigenes filmisches Terrain gefunden: Schon in ihrem vielbeachteten halblangen Film La Brèche de Roland (der unter dem Titel Die Kluft vor einiger Zeit auf arte lief) und dem ersten Langfilm Un homme, un vrai gerät die Eskapade in die Berge zu einer sanften Prüfung, bei der ein entfremdetes Paar wieder zueinander findet. Die Erhabenheit der Landschaft fungiert nicht, wie im Melodram üblich, als szenisches Gleichnis für das Ausbrechen wilder Leidenschaften. Sie verweist vielmehr auf ein taktiles Erklimmen neuer Gipfel. Den Bergen wird in Malen oder Lieben die gleiche physische Präsenz wie den Körpern zugewiesen, sie bilden einen verlockenden, beruhigenden Rahmen für den milden Taumel der Sinne. Das verwunschene Haus, heimgesucht von einem Begehren ohne Bedrohlichkeit, wird zu einer Freistatt der Ursprünglichkeit, stehen für einen erneut zu erobernden Garten Eden des fürsorglichen Hedonismus. Gleich bei ihrem ersten gemeinsamen Besuch entbrennen Madeleine und William erotisch neu für einander. Nach dreißig gemeinsam verbrachten Jahren fallen Müdigkeit und Routine allmählich von den Eheleuten ab, lernen sie, eine neue Reizhaftigkeit zu kultivieren.

Die wohlwollende Ironie, mit der die Larrieus die Provinzbourgeoisie porträtieren, fand bei der Premiere in Cannes im letzten Jahr glühende Verehrer ebenso wie erbitterte Verächter. Ein Film, der einmal nicht die Verlogenheit und Doppelmoral dieses Milieus entlarvt, sondern in ihren Ritualen eine unvermutete Offenheit entdeckt, erschien zumal ausländischen Kritikern als eine allzu arglose Provokation. Dabei haben die Brüder Larrieu eine späte Replik auf die gestrenge Libertinage der 68er inszeniert, ein luftiges Gegenstück etwa zu Jean Eustaches Die Mama und die Hure: Die Utopie der freien Liebe ist im Kleinbürgertum angekommen, und sie erweist sich dort als durchaus lebbar.

Diese kleine Subversion ist mit einer solch hintergründigen Gelassenheit inszeniert (in der sich gleichsam die Gediegenheit des Milieus mit der Weisheit der Natur vereinigt), dass man auf Anhieb gar nicht merkt, wie kühn Malen oder Lieben von geläufigen dramaturgischen Konventionen abweicht. Den Partnertausch haben die Brüder Larrieu nicht als heikle Drei- oder Vierecksgeschichte konstruiert, sondern als die Liaison zweier intakter Paare. Eifersucht und Besitzansprüche werden schon früh, in der Anbahnungsphase der Freundschaft, geltend gemacht und haben sich danach erledigt.

In diesem Drama ohne Konflikt besteht der heroische Akt darin, das eigene Zögern zu überwinden. Das Abenteuer der Grenzüberschreitung ist weder Tabubruch noch kalkuliertes Manöver, sondern ein Abschied von der Absichtslosigkeit.


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