Eine trage der anderen Lust

IM KINO Schuld und Sühne und Erlösung - Christliche Ikonographie in Kim Ki-duks koreanischem Film "Samaria"

Auf dem Schulweg erzählt der Vater seiner Tochter regelmäßig Geschichten von Wundern und Heiligsprechungen, von der Jungfrau von Fatima, von Mutter Teresa, die durch Handauflegen heilen konnte. Er ist sich nie ganz sicher, ob die Halbwüchsige ihm wirklich zuhört. Vielleicht erzählt er die Geschichten nur für sich selbst. Er ist Witwer und überdies als Polizist tagtäglich mit Schrecknis und Verwerflichkeit der Welt konfrontiert. Da verwundert es nicht unbedingt, dass er Zuflucht in christlichen Heilsversprechen sucht. Aber in einem koreanischen Film irritiert dieses Sehnsuchtsmotiv doch sehr.

Es liegt ein Moment des Auferlegten darin, ein Oktroy, das Kim Ki-duks neuer Film sorgsam durchdekliniert als selbstgewähltes und dann übertragenes Gebot des Handelns. Der Regisseur hat Samaria als einen Film über die Vergebung angekündigt. Dass dies kein Anlass zur Beruhigung ist, verrät bereits das suggestive Plakatmotiv, das Missverständnisse kühn einkalkuliert: Ein ihre Blöße bedeckendes, nur mit einer Nonnenhaube bekleidetes Mädchen schaut den Betrachter herausfordernd an. Diese Dualität von Kindlichkeit und Verführung wirft den Blick des Voyeurs nicht nur zurück, das fromme Attribut verweist ihn zusätzlich auf ein moralisches Terrain, von dem er keinen unverfänglichen Ausweg finden wird. Dass die Nacktheit der Halbwüchsigen einigermaßen keusch wirkt, nimmt der Geschichte nichts von ihrer verstörenden Wirkung. Denn Kim Ki-duk bürdet seinen jungen Heldinnen eine bestürzend frühe und gründliche Initiation in die Mysterien des Lebens, der Sexualität und des Todes auf.

Nach Birdcage Inn und Bad Guy ist Samaria sein dritter Film über Prostitution. Um Geld für eine Reise nach Europa zu sparen, verabreden sich die Schülerinnen Jae-young (Seo Min-jung) und Yeo-yin (Kwak Ji-min) im Internet mit Freiern. Wie naiv-durchtriebene Ganoven fädeln sie die illegitimen Rendezvous ein, wobei Yeo-yin Schmiere steht und die Flucht vor der Polizei vielfach erprobt ist. Verliebtheit und Eifersucht sind bei ihrer Komplizenschaft mit im Spiel. Jae-young erfüllt die Liebesdienste wie eine mildtätige Mission, zu arglosem Erfahrungshunger mischt sich der Wunsch, die Kunden zu bekehren. Ihr unergründliches Lächeln mag auch nach dem tödlichen Sturz aus einem Hotelzimmer bei einer Razzia nicht aus ihren Zügen verschwinden. Aus Schuldgefühl der Freundin gegenüber entschließt sich Yeo-yin nach deren Tod, den Freiern das Geld zurückzugeben und schlüpft ihrerseits in die Rolle der freigebigen Hure. Ihr Vater (Lee Uhl), der sie bislang nur ihren Teddybären im Arm halten sah, entdeckt sie unverhofft mit einem älteren Mann. Fortan verfolgt er sie verstört und ratlos, stellt ihre Kunden zur Rede und gerät in einen immer stärkeren Sog der Gewalttätigkeit.

Das Umstürzen der moralischen Gefüge pariert Kim Ki-duk mit einer strengen formalen Ordnung. Er hat den Film in drei Akte unterteilt, an deren Ende unwiderruflich Tod und Verlust stehen. Der erste ist nach Vasumitra benannt, einer indischen Prostituierten, die ihre Kunden zum Buddhismus bekehrte, die Überschrift des zweiten ist mit dem Filmtitel identisch, die des dritten, Sonata bezeichnet zugleich die eigene Struktur, die Aufspaltung und Vermehrung der Themen. Abgelöst von dieser Struktur vollzieht Kim Ki-duk frappante Perspektivenwechsel, schildert zunächst die Komplizenschaft der Freundinnen aus beider Sicht, macht sich daraufhin Yeo-yins Blickwinkel zueigen, sodann den ihres Vaters, um später wieder Distanz zu schaffen zu dessen Verfallsgeschichte entfesselter Gewaltbereitschaft. Dieses Prinzip der Umkehrung, der Blickverschiebung verleiht selbst dem eigentlich unplausiblen Wendepunkt der Handlung eine verblüffende Kraft: als der Vater in einem Hotelzimmer einen Prostituiertenmord untersucht (für einen Moment fürchtet man, es wäre Yeo-yin) und aus dem Fenster schaut, entdeckt er auf der gegenüberliegenden Straßenseite seine eigene Tochter mit einem Freier engumschlungen im Bett.

Dank der Konsequenz, mit der der Film die Motivketten schnürt, fügt sich die neutestamentarische Ikonographie (die bereitwillig getragene Last, der sühnende Steinwurf) nahtlos zu seiner eigenen (in der wiederum das Element des Wassers eine zentrale Rolle spielt). Figuren führt Kim Ki-duk regelmäßig durch Großaufnahmen ihrer Hände ein. Das Handeln gewinnt eine schleichende Vieldeutigkeit. Die eingangs ostentativ als kläglich, mithin unwürdig vorgestellten Freier erweisen sich dann als berührbar, empfänglich für die irritierende Botschaft Yeo-yins. Die sanftmütige Erschütterung des herkömmlichen Gefüges von Lust und Schuldgefühl setzt bei ihnen einen Wandlung in Gang, die mitunter über die Frist post-koitaler Seligkeit hinausreicht. Sie sind zu sachten Gesten der Dankbarkeit, der emotionalen Öffnung fähig, die ihrer späteren Konfrontation mit dem zürnenden Vater eine kaum erträgliche Ambivalenz verleihen. Er trifft auf die Bereitschaft zu Eingeständnis und Sühne. Der Zuschauer betrachtet diesen Parcours der Bloßstellungen mit der bangen Hoffnung, dass am Ende die Erlösung und nicht die Gewaltbereitschaft des Vaters die Oberhand gewinnt.


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