Die Regisseurin Catherine Breillat hatte vor ein, zwei Jahren eine merkwürdige Begegnung mit ihm. Im Auftrag der Zeitschrift Positif wollte sie den alten Meister in Tokio interviewen. Der Wagemut seines letzten Films, Akai Hashi no Shita no Nurui Mizu (Warmes Wasser unter der roten Brücke), hatte sie stark beeindruckt. Welcher andere Filmemacher würde sich zutrauen, eine Geschichte von solch drastischer, grotesker Konkretion zu erzählen: von einer jungen Frau, die beim Orgasmus gewaltige Wasserfontänen verspritzt? Breillat pries die jugendliche Frische und Heiterkeit dieses Spätwerks, den zärtlichen Blick ihres japanischen Kollegen, der den Sex in etwas Magisches, Heilsames verwandelt. Aber der entgegnete ihr: "Der Film hat doch auch eine ziemlich brutale Seite." Der Satz traf sie wie ein Fallbeil, kalt und schneidend, das Wort "brutal" ließ sie ratlos zurück.
Es ist für einen Fragenden stets aufschlussreich, wenn die eigene Interpretation eines Werkes mit der seines Schöpfers kollidiert. Und es ist zugleich doch auch meist etwas beschämend, wenn man da, wo man Nachsicht mit dessen Figuren zu spüren glaubte (und insgeheim erhoffte), entdecken muss, mit einem scharfen, unbarmherzigen Blick konfrontiert zu sein, der jede ihrer Schwächen und Schäbigkeiten kennt. Shohei Imamura gibt sich in Interviews gern den Anschein eines Misanthropen. Aber auch wenn diese Selbsteinschätzung keinesfalls frivol oder anmaßend sein mag, liefern nicht erst seine späten, von der Kritik oft als altersmilde beargwöhnten Filme gute Gründe, daran zu zweifeln. Den Geist des Widerstandes zu bewahren, hat er immerhin selbst einmal bekannt, sei die Botschaft all seiner Filme.
In der Konsequenz, mit der er seit den späten fünfziger Jahren unbequeme Fragen nach der japanischen Identität stellt, summiert sich sein uvre zu einer gegenläufigen Geschichtsschreibung, als durchaus vulgärer, naturalistischer Kontrapunkt zu Yasujiros Ozu lyrischen Sittenbildern, in denen ein melancholisches Einverständnis herrscht mit der Tradition und den Familienstrukturen. Imamura übt unversöhnliche Kritik am rasenden Materialismus der Nachkriegsgesellschaft und greift zentrale Tabuthemen wie Inzest und Pornografie auf. Sein Erzählinteresse gilt den Randständigen, den Deklassierten. Seine Protagonisten sind zumeist ländlicher Herkunft, was seine Szenarien unweigerlich zu dem Konflikt führt zwischen dem Archaischen und der Moderne. Die Begierde besitzt für ihn eine anarchische, destabilisierende Kraft, welche ihm fast schon Moral genug ist. Bei aller Abgründigkeit erzählen seine Filme immer wieder Geschichten der Initiation.
Seine Meisterwerke der sechziger Jahre hat er in Schwarzweiß und CinemaScope gedreht. Er nutzt es als ein ebenso rigides wie großzügiges Format. Das Monochrom ist überaus kontrastreich, es unterstreicht visuell das Prinzip der Konfrontation, auf das Imamura seine Drehbuchsituationen aufbaut. Die breite Leinwand gestattet es ihm, die Figuren in ihrem jeweiligen Milieu zu verankern, dessen Enge umso bedrängender wirkt. Imamuras Kadrage arbeitet mit Trennungslinien, mit Tür- und Fensterrahmen, um im Verhältnis von Vorder- und Hintergrund die Entfremdung des Individuums zu spiegeln. So restituiert er visuell einen gesellschaftlichen Rahmen, in den die Instinkte und Begierden einbrechen. Das CinemaScope dient ihm als Terrain der Raserei, des sinnlichen Taumels, welche er gleichzeitig mit ihren Konsequenzen konfrontieren kann. Es entsteht ein verstörendes Nebeneinander der Impulse. Bei der Vergewaltigung der Protagonistin von Akai Satsui ("Rote Mordgedanken", deutscher Verleihtitel Verbotene Leidenschaft, 1964) trennt er die Reaktionen von Täter und Opfer nicht säuberlich in Schuss-Gegenschuss-Folgen, sondern zwängt sie in einer Einstellung zusammen, und kündigt so bereits an, dass beide fortan nicht mehr voneinander loskommen werden.
Imamuras komplexe Kamerastrategien, beispielsweise seine ausgreifenden, akrobatischen Plansequenzen, verstricken den Zuschauer in die Geschichten, ohne jedoch auf dessen Identifikation mit den Protagonisten zu zielen. Unerbittlich bemüht er sich, eine Distanz zu schaffen. Das Erzählmaterial wird rissig durch das Erstarren der Aktionen in freeze frames, durch überraschende Perspektivwechsel; Spiegel brechen oft den Blick des Zuschauers. Seit jeher nennt ihn die Kritik mit Vorliebe einen Entomologen (Insektenforscher); die Titel seiner Filme und ihre Metaphorik legen es nahe. Das Insekt, das sich im Vorspann von Nippon Kanchuki ("Entomologische Chroniken aus Japan", der deutsche Verleihtitel lautet Das Insektenweib, 1963) plagt, um aus einer Grube zu klettern, beschreibt die Grundsituation, welche trotz aller Wechselfälle das Leben seiner Protagonistin bestimmen wird. Die Heldin von Akai Satsui scheint unausweichlich das Los der Mäuse teilen zu müssen, die zu Beginn in einem Laufrad zu sehen sind. Die Tiermetaphorik erschöpft sich freilich nicht in einer solchen Determination, sie verweist in ihrer surrealen, mitunter grotesken Art auch auf das Erwachen der Sexualität. Eine ebensolche Vieldeutigkeit gewinnt im Laufe der Jahre ein zweites zentrales Motiv, das der Zirkulation, zu dessen Veranschaulichung ihm vor allem die Mobilität der Eisenbahn dient. Deren Konnotation steht anfangs noch ganz in der Folge von Renoirs La Bête humaine: der einer unaufhaltsamen Triebhaftigkeit. Züge und Bahnhöfe ruft Imamura aber auch auf als Orte der Trennung, der biographischen Zäsur. Das Heranwachsen stellt sich für die Waisenkinder in Nianchan (Mein älterer Bruder, 1959) als eine Folge von Abschieden dar. Entwicklungen werden abgebrochen, Konflikte bleiben ungelöst. In Kuroi Ame (Schwarzer Regen, 1989) ereilt die Druckwelle der Hiroshima-Bombe den Familienvater auf einem Bahnsteig, wo er auf seinen Pendlerzug wartet. Erst später wird Imamura Zugreisen als gelassene Passagen schildern, als Chance der Entdeckung, der Weltteilhabe.
Von der rigorosen erzählerischen Konfrontation hat Imamura zu einer Besänftigung der erzählerischen Mittel gefunden. Sein Spätwerk steht im Zeichen einer nicht ganz freudlosen Ernüchterung. Nicht von ungefähr ist die Rückkehr nach langer Abwesenheit ein zentrales Motiv dieser späten Filme - in den siebziger Jahren bekam er kein Geld für seine Projekte und musste seinen Lebensunterhalt fast das gesamte Jahrzehnt lang mit Fernsehdokumentationen bestreiten. Der Überlebensinstinkt besitzt in seinen Filmen allemal Würde und Erhabenheit. Unagi (Der Aal, 1997) und Warmes Wasser unter der roten Brücke kreisen um Figuren, die sich in eine skurril-verstiegene Gemeinschaft einfügen und von den Protagonistinnen mit aggressiv-liebevollem Einfallsreichtum umworben und ins Leben zurückgeholt werden. Das Individuum muss hier nicht mehr zwangsläufig gegen die Gesellschaft verteidigt werden. Die Vorstellung vom Entomologen würde notwendig wissenschaftliche Genauigkeit und Unbefangenheit beinhalten. Tatsächlich jedoch spürt Imamura in der visuellen und dramaturgischen Parallelführung von Tieren und Menschen letztlich vor allem deren Differenz auf. Ist das doch altersmilde Nachsicht? Aber wer wollte schon einem objektivem Filmemacher sein Vertrauen schenken?
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