Glückssucher

IM KINO In »Nordrand«, dem Debütfilm von Barbara Albert, werden vier Menschen vom Schnee überrascht

Ein Filmplakat stellt oft die erste Begegnung her zwischen einem Film und seinen Zuschauern. Manchmal ist das Plakatmotiv nicht nur ein Szenenfoto, das unser Interesse wecken und uns vielleicht gar in den Bann des Films schlagen soll. Im besten Fall ist es ein Schlüsselbild, das Spuren auslegt zu den Figuren, der Geschichte und der Stimmung des Films. Nordrand, der Debütfilm der Österreicherin Barbara Albert, hat den Vorzug, mit einem solch eindringlichen Sinnbild beworben zu werden. Zwei junge Frauen sind gerade auf die Straße hinausgetreten und werden vom frisch fallenden Schnee überrascht. Die Eine wirkt wehmütig, grüblerisch, ihr Blick ist gedankenverloren aus dem Bild gerichtet. Neben ihr ist ein Schild zu erahnen, es könnte das einer Arztpraxis sein. Die Andere hat ihr Gesicht lächelnd den sanft fallenden Flocken zugewandt. Mit weit ausgestreckten Armen öffnet sie sich, wie eine Tänzerin, der Heiterkeit dieses Augenblicks. Welche der beiden Stimmungen wird überwiegen? Wird der Film sie ausbalancieren? Oder seine Spannung beziehen aus ihrem Nebeneinander?

Tamara (Edita Malovcic) und Jasmin (Nina Proll) waren einst Schulfreundinnen, beide stammen aus einer Hochhaussiedlung im Norden Wiens. Nun begegnen sie sich Jahre später in einer Abtreibungsklinik wieder. Für die impulsive, unbesonnene Jasmin sollte die Schwangerschaft ein Ausweg sein aus der bedrückenden Enge ihres Zuhauses. Tamara hingegen, die das Leben ungleich verantwortungsvoller auffasst, vermisst ihre Familie, die zurück nach Sarajevo gezogen ist; auf ihren Freund wird sie sich nicht verlassen. Die ersten, tastenden Schritte in die neu formierte Realität unternehmen sie unversehens gemeinsam. Dabei scheint ihr Temperament zunächst zu gegensätzlich, als dass sie ihre Freundschaft wieder neu besiegeln könnten.

Ein Umschnitt stellt gleich darauf leichtfüßig die Verbindung her zu den weiteren Hauptfiguren. Auch der verträumte Rumäne Valentin (Tudor Chrilá) und der bosnische Ex-Soldat Senad (Astrit Alihajdaraj) werden vom Schnee überrascht, auch sie umfängt er in einer Stimmung des Staunens und der Erwartung. Und auch ihre Zukunft ist ungewiss: Senad ist vor dem Krieg aus seiner Heimat geflohen und illegal nach Österreich eingereist, Valentins Gelegenheitsjobs sind ein ungedeckter Wechsel auf seine Hoffnung, nach Amerika auszuwandern.

Noch sind die vier Glückssucher auf sich gestellt. Aber bald wird das Drehbuch sie mittels jener Stegreifbegegnungen, die nur den Figuren zufällig erscheinen und im Kino immer ein Versprechen sind, für eine Zeit lang zusammenführen. In dieser Dramaturgie des unverhofften Zusammentreffens erfüllt sich zugleich die Sehnsucht, in der verwirrenden Wahrnehmungsfülle der Großstadt die Überschaubarkeit der eigenen Kindheit wiederzufinden, deren Geborgenheit einzuholen und sich an den Gesten der Freundschaft und schwesterlichen Solidarität im unwirtlichen Erwachsenenleben aufzuwärmen.

Barbara Alberts Chronik der Lebenspassagen und -umbrüche weckt Erinnerungen an die frühen Filme Truffauts, ohne dass diese sich als Zitat störend vor die Figuren schieben würden. Auf die Frage, wie man heute von Sozialtristesse und Schicksalen an der Peripherie erzählen kann, antwortet sie mit Bildern, in denen die anteilnehmende Nähe zu den Figuren regelmäßig über den Naturalismus triumphiert. Die Kamera Christine Maiers ist ihnen eine unverbrüchlich achtsame Begleiterin. Sie verwandelt das Alltägliche nicht, entrückt die Figuren nicht ihrem Milieu. Die ausgeklügelte Tondramaturgie ist indes auf ihre jeweilige Empfindsamkeit abgestimmt, übersetzt ihre subjektive Wahrnehmung, in dem sie mitunter barmherzig die bedrängende Realität ausblendet. Alberts Figuren parieren die Trostlosigkeit mit Humor. Die Regisseurin bietet ihnen jedoch keine leichtfertigen Auswege. Sie misstraut den Ritualen sentimentaler Tröstung, ohne die Sehnsüchte zu desavouieren. In der Beiläufigkeit, mit der sie erzählt, steckt bereits ein rechtschaffenes Maß an Zuversicht. Am Ende haben die divergierenden Träume vom Anderswo und Anderssein das Figurenquartett längst wieder auseinander getrieben. Aber der Film erlaubt es Tamara, für einen Moment den Bogen zurück in ihre Kindheit zu schlagen. In Sarajevo beobachtet sie vom Zug aus ein paar Kinder, die einen Drachen steigen lassen, der die gleiche Form hat wie der, mit dem sie und Jasmin einst spielten: die eines Schmetterlings. Als munteres, unaufdringliches Symbol für Entfaltung und Freiheit wirbelt er durch die Lüfte. Auch er ist übrigens schon auf dem Plakat zu sehen, im Logo des Filmtitels.

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