Rettung im Traum

Im Kino Marco Bellocchios "Buongiorno, notte - Der Fall Aldo Moro" gelingt das Kunststück einer verständnisvollen Neutralität gegenüber dem, wie es gewesen sein könnte

Die Fahndungsfotos der RAF-Terroristen muteten an, als seien sie ausdrücklich zu diesem Zweck aufgenommen worden. Die Porträtierten wirkten wie aufgeschreckt. Man hatte den Eindruck, die Auswahl der Bilder zeigte sie nicht notwendig, sondern absichtlich in einem unvorteilhaften Licht. Wenn man sie, etwa beim Warten auf dem Postamt, studierte, kamen einem wenig Zweifel an ihrer Schuld. Ihr Ausdruck wirkte eher verschlagen als verwegen, eher fanatisiert als selbstbewusst. Manchmal vermochte man in ihnen Spuren ihrer bürgerlichen Herkunft auszumachen. Dieser öffentliche Pranger ließ sich auch als wütende Replik lesen auf Bilder, mit denen die Terroristen ihre eigene Macht demonstrierten, in dem sie ihre Entführungsopfer vor ihrem Banner drapierten und so zum Teil einer Inszenierung degradierten.

Das erste Gesicht, das der Terrorismus in Buongiorno, notte erhält, ist ein schönes, offenes, fast argloses. Es gehört der Schauspielerin Maya Sansa, die aus Die besten Jahre vertraut ist, wo ihr Lächeln wie ein Versprechen von Gemeinschaft und Lebensfreude wirkt. Sie verleiht Chiara, einem Mitglied der Roten Brigaden, zunächst eine rätselhaften Aura von Unschuld. Die Begeisterung, mit der sie anfangs auf die Fernsehnachricht von der Entführung Aldo Moros reagiert, ist beinahe ansteckend. Man ist derart verblüfft, dass man erst einen Moment später merkt, wie infam diese Reaktion ist. Später wird sich Chiaras Gesicht verwandeln, wird ihre Zweifel und Skrupel widerspiegeln. Auch im Antlitz ihrer Komplizen, der Entführer Moros, zeichnet sich im Verlauf des Films ein schleichender Prozess der Veränderung ab, weicht die Entschlossenheit der Ratlosigkeit. Einzig ihr Anführer Mariano (Luigi Lo Cascio) scheint bis zum Ende von seinem Mandat überzeugt. Wie ein Seismograph spürt die Kamera diesen Erschütterungen nach. Marco Bellocchios Film scheint sich in lauter Nahaufnahmen zu entfalten, auch wenn er ein Thema verhandelt, das man sich gemeinhin aus der Perspektive der Totalen erschließen würde.

Die Entführung Moros, des fünfmaligen Premierministers Italiens und damaligen Präsidenten der "Democrazia Christiana" am 16. März 1978 war eine Wegscheide der italienischen Nachkriegsgeschichte. Er war der Architekt des "historischen Kompromisses", hatte der Kommunistischen Partei die Zusammenarbeit angeboten, um sie in eine Regierung der nationalen Solidarität aufzunehmen. Die filmische Aufarbeitung eines solchen Ereignisses weckt hohe, auch widersprüchliche Erwartungen. Man wünscht sich eine umfassende, objektive Chronik der historischen Wahrheit in all ihren Verästelungen. An einen Autorenfilmer richtet man hingegen auch den Anspruch einer persönlichen, individuellen Perspektive. Als Buongiorno, notte 2003 in die italienischen Kinos kam, löste er heftige Kontroversen aus. Marco Bellocchios Verweigerung von eindeutiger Parteinahmen und Schuldzuweisungen irritierte viele Kommentatoren. Die Zurückhaltung, mit der er sich der traumatischen Episode näherte, schien ihnen unangemessen. Er zeigt weder die Entführung Moros noch seine spätere Hinrichtung; die aufgebahrten Leichen seiner Leibwächter sind nur als Fernsehbilder zu sehen. Mancher war verstört, wie viel Mitgefühl der einst militante Politfilmer Bellocchio für einen konservativen Politiker aufbrachte, der im eigenen Land offenkundig nicht wirklich geschätzt wurde.

Die Last, eine endgültige Aussage über die Affäre und den Terrorismus zu treffen, bürdet er seinem Film nicht auf. Wenn er nun mit vierjähriger Verspätung in unsere Kinos kommt, beschert ihm gerade diese Beschränkung eine unverhoffte Aktualität: Drei Jahrzehnte nach dem deutschen Herbst haben die revolutionären Ideale der Epoche längst ihrer Strahlkraft verloren, umso intensiver wird die Frage nach Reue und Sühne diskutiert. Bellocchio hat eine enge Perspektive gewählt, um sich dieses Terrain zu erschließen, schildert die Ereignisse gleichsam aus dem toten Winkel. Die Struktur des Films wird vom Alltag der Terroristen in ihrer konspirativen Wohnung vorgegeben, ein Prinzip, dem er bis in eine erschütternde Banalität treu bleibt - wie in jedem italienischen Haushalt läuft auch hier permanent der Fernseher.

Chiara und ihr Komplize Ernesto (gespielt von Pier Giorgio Bellocchio, dem Sohn des Regisseurs) geben sich als Ehepaar mit Kinderwunsch aus, als sie die Wohnung anmieten. Aus dieser auferlegten Rolle wird sie der Film nie ganz entlassen. Ohne die Terroristen zu sentimentalisieren, befragt er beharrlich diese falsche Fassade, ob sie nicht doch der Ausdruck uneingestandener Sehnsüchte ist. Der verfehlte Familienzusammenhalt färbt diesen Film wie eine melancholische Grundierung ein. Aldo Moro kommt in dieser Zwangsgemeinschaft die Rolle des Vaters zu. Roberto Herlitzka verleiht ihm eine große patriarchale Würde, ohne Sarkasmus sprechen ihn die Entführer als "Herr Präsident" an. In der Gefangenschaft agiert er nicht als Taktiker, sondern bemüht sich um Verständigung. Der Atheist Bellocchio mag seine Gläubigkeit nicht leichtfertig als Heuchelei abtun; zu sehr bewundert er die Gefasstheit und Demut, mit denen er im Angesicht des Todes um den Frieden mit seinem Gewissen ringt. Seine Zelle ist ein rätselhaft geschützter Raum, in dem Beichten abgelegt und Dispute ohne Sanktionierung geführt werden können. "Sie haben genau wie ich eine Religion", sagt er Mariano, "aber Ihre ist strenger."

Sein Gegenüber lässt es zu, dass er die Gewaltbereitschaft der Roten Brigaden, ihre Faszination für die Idee des Opfers, als puritanisch bezeichnet: "Sie verachten den Körper noch mehr als die Katholiken." Als Sub- wie als Kontext ist der Religion in Buongiorno, notte nicht zu entkommen: Moros Briefe werden in einer Kirche hinterlegt, einmal überrascht ein Priester die Terroristen, weil er die obligatorische Segnung ihrer neuen Wohnung vornehmen will.

Es ist eine sinnentleerte Geste. Die Tragödie, die Bellocchio in diesem huis clos inszeniert, ist eine des Uneigentlichen, der Entfremdung. Die Terroristen und ihr Gefangener haben den Rückhalt in der Außenwelt verloren. Die Abgeschiedenheit führt ihre Legitimation als Vertreter des Proletariats ad absurdum - sie sind zutiefst enttäuscht, dass sich die Gewerkschaften nicht auf ihre Seite schlagen -, ihr Glaube, mit Aldo Moro das Herz des verhassten Staates gefangen zu haben, erweist sich als Täuschung. Moros politische Freunde wollen ihn in seinen (von den Terroristen unzensierten) Briefen nicht wiedererkennen, die Regierung ist zu keinen Zugeständnissen bereit und wird ihn opfern. Moros Familie weigert sich, an der Trauerfeier teilzunehmen, bei der die Führungselite das Bewusstsein des eigenen Versagens hinter undurchdringlichen Masken verbirgt. Einzig die Veteranen des antifaschistischen Widerstands, die Chiara bei einer Familienfeier trifft, besitzen eine Vitalität, die sich daraus speist, dass sie sich noch eins fühlen mit ihren Überzeugungen.

Chiara zerbricht daran, dass auch ihre Handlungen und Worte abgelöst sind von ihren wahren Gefühlen. Sie flieht in Wunschversionen der Realität, sabotiert in ihrer Phantasie das Vorhaben ihrer Gruppe und befreit Moro. Bellocchio illustriert ihre Träume mit Zitaten aus Dziga Vertovs Drei Lieder für Lenin und Roberto Rossellinis Widerstandsdrama Paisà: Der Utopie lässt sich nur noch als historischem Dokument filmischer Ausdruck verleihen. Darin entdeckt Bellocchio bei allem Pessimismus eine tröstliche Kongruenz. Für ihn sind Phantasie und Realität weder im Kino noch in der politischen Utopie Gegensätze, sondern grundlegende Pole. Man spürt, dass Chiaras Traum von der Rettung Moros auch der seine ist.


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