Umwertung

Im Kino Niedergang eines Ehrencodex - in "Twilight Samurai" verbringt der Schwertkampfheld seine Zeit am liebsten mit der Familie

Die Würde eines Genres erweist sich auch darin, dass man es wie ein Kaleidoskop betrachten kann: Je nach Blickwinkel lässt es unterschiedliche Brechungen zu. Der japanische Schwertkampffilm ist ein solches Genre, das aus einem begrenzten Themenkatalog großen erzählerischen Reichtum schöpft, indem es die Perspektiven weit auffächert.

Aus landläufiger Sicht ist der Samurai Seibei Iguchi eine Schande für seinen Beruf. Seine Kleidung ist zerschlissen, er ist ungepflegt. Das Geld fürs Badehaus kann er nicht aufbringen, sein Körpergeruch ist seinen Kollegen peinlich. Der Makel mangelnder Hygiene wäre in diesem Genre bislang nur als Gegenstand der Parodie denkbar gewesen. Aber Yoji Yamada hat für seinen Film die Perspektive von Iguchis älterer Tochter gewählt - und damit einen Erzählton, dem jede Verächtlichkeit fremd ist. Die Verwahrlosung des Vaters dauert sie zutiefst. Aber als Schmach kann sie sie nicht empfinden, zu heroisch erscheinen ihr die Mühen, die er auf sich nimmt, um die Familie zu ernähren. Durch die Krankheit und die Beerdigung der Mutter hat er sich hoch verschuldet; das seinem niederen Rang entsprechende Lehen ist ohnehin zu klein, um ertragreich zu sein. Liebevoll versenkt der Film seinen Blick in den Alltag, das häusliche Leben des Samurai. Eine sachte Heiterkeit herrscht in dem Trauerhaus, eine berückende, wenn auch vorbehaltliche Selbstgenügsamkeit. Auch die Großmutter, deren Verstand nur noch selten aufblitzt, findet hier eine selbstverständliche Heimstatt. Iguchis Ehrfurcht gilt nicht seinem Klanfürsten, dem er Gehorsam schuldet, sondern dem Familienleben. Er bewundert die Tapferkeit, mit der seine beiden kleinen Töchter ihr Leben bewältigen.

Den Spitznamen "Samurai der Dämmerung" haben ihm seine Kollegen gegeben, weil er es vorzieht, nach der Arbeit zu seinen Töchtern heimzukehren, anstatt mit ihnen zu zechen. Der Titel hat auch seine historische Bewandtnis. Yamadas Film spielt in einem Epochenwechsel, dem Ende der Edo-Ära. Das Shogunat befindet sich im Niedergang, die Armut ist so groß, dass im Frühjahr das Schmelzwasser die Leichen der Verhungerten vorbeitreibt. Moderne Schusswaffen werden bald den Schwertkampf ablösen und den Stand der Samurai vollends überflüssig machen. Twilight Samurai ist kein Schwanengesang auf eine untergehende Lebensweise und deren Wertvorstellungen. In das Zwielicht, auf das der Titel verweist, taucht er vielmehr die tradierten Gewissheiten des Genres.

Zu einer solch behutsamen Umwertung ist vielleicht nur ein Filmemacher fähig, der bislang nie in diesem Genre gearbeitet hat. Yamada ist in Japan vor allem als Regisseur der Tora-san-Serie bekannt, einer Mischung aus Melodram und Schelmenroman, die seit den sechziger Jahren auf rekordverdächtige 48 Episoden angewachsen ist. Auch dort hat er die Perspektive einer sozialen Randfigur gewählt, eines freiheitsliebenden Vagabunden, um ein Panorama der japanischen Gesellschaft zu entfalten. Mit Twilight Samurai wagte der Regisseur nun einen beachtlichen Registerwechsel. Die Adaption einiger Geschichten des in Japan überaus erfolgreichen Romanautors Shuhei Fujisawa bildet den ersten Teil einer Trilogie - der zweite, The Hidden Blade, lief im letzten Jahr auf der Berlinale, den dritten hat er in diesem Frühjahr abgedreht.

Die Melancholie, die in Twilight Samurai herrscht, verrät indes Yamadas intime Kenntnis der Genretraditionen. Die Schande, die es für einen Samurai bedeutet, sein Schwert versetzen zu müssen, verweist auf Harakiri aus dem Jahr 1962. Nachdrücklich entlarvte der Kommunist Masaki Kobayashi darin die Unmenschlichkeit des martialischen Ehrenkodex, des bushido, an dem nicht einmal Kurosawa je ernsthaft gerüttelt hat. Mut und Ehre sind auch bei Yamada vieldeutige Kategorien. Die Schwertkämpfe zelebriert er nicht als atemraubend virtuoses Handwerk, er entrückt sie erst recht nicht in die Sphäre der Kunst, wie es Zhang Yimou in seinen letzten Filmen tat, wo er sie gleichsam als Kalligrafie des Tötens nobilitiert. Bewundernswert ist vor allem Iguchis Geschick, dem Tod zuvorzukommen, den letzten, lebensgefährlichen Hieb abzuwehren oder seinerseits zu vermeiden. Die Mordlust, die der Klanfürst von ihm fordert, kann Iguchi nicht mehr ohne Weiteres mobilisieren. Der Auftrag, einen in Ungnade gefallenen Fechtmeister zu töten, ist für ihn keine Rehabilitation. Selbst den heroischen Mythos der seelenverwandten, ebenbürtigen Gegner unterläuft Yamada in dieser Sequenz. Die beiden Männer haben vor allem eines gemeinsam: die Erfahrung von Armut und Verlust.


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