Bis heute ist die Auseinandersetzung mit Mein Kampf zwanghaft, sozusagen neurotisch, und das bis in die Wissenschaften hinein. Die bayrische Regierung, bis dato im Besitz des Copyrights, verhinderte mit allen Mitteln selbst Teilnachdrucke. Wer das Buch studierte, geriet schnell in den Verdacht rechtsradikaler Gesinnung, und die politischen Querelen um die kritisch kommentierte Ausgabe des renommierten Instituts für Zeitgeschichte liegen auf derselben Linie der Tabuisierung und Verdrängung. Sie beherrschen auch die ersten Reaktionen auf die Neuausgabe: ein Machwerk, das besser im Giftschrank der Bibliotheken geblieben wäre. Besonders verräterisch war die eifernde Kritik des Literaturwissenschaftlers Jeremy Adler in der Süddeutschen Zeitung, die in dem Satz gipfelt: „Das absolut Böse lässt sich nicht edieren.“
Die Haltung ist nur die Kehrseite des angegriffenen, aber im selben Zuge mythisierenden „Schreckbilds“ und betreibt unwissentlich das Geschäft seines Autors. Der hatte es in metaphysische Höhen versetzen wollen, seine wohlmeinenden Verächter verbannen es in metaphysische Tiefen, beides ist Gegenaufklärung.
Womit das erste bahnbrechende Verdienst dieser Neuausgabe schon angedeutet ist: Sie entzieht jedem Obskurantismus den Boden, indem sie Satz für Satz mit den Verhältnissen konfrontiert, auf die sie sich beziehen, oder die Absichten in ihnen aufdeckt. Die Gesinnung, die jede Äußerung durchdringt, bedarf allerdings kaum noch der Entlarvung. Der Autor lässt nirgendwo Zweifel an ihr. Mein Kampf ist, in einem brutalen Sinn, ein völlig offenherziges Buch und gerade deshalb eine der wichtigsten „Quellen zur Rekonstruktion der Lebensgeschichte des deutschen Diktators“, deren Dürftigkeit der wohl bedeutendste Hitler-Biograf Ian Kershaw beklagte.
Rollenidentifizierung
Noch seine offensichtlichen Verdrehungen, Erfindungen und Irrtümer sind höchst aussagekräftig, wie beinah jede Korrektur der Herausgeber zeigt. Als Hitler seine „Abrechnung“ (der Untertitel des 1. Bands) schrieb, war er ein Gescheiterter, der nach dem misslungenen Putschversuch in der Festung Landsberg freilich recht komfortabel einsaß und sich zur Rechenschaft getrieben fühlte. Er schrieb, entgegen allen anderen Berichten, das Buch zwischen Juni 1924 und Juni 1925 selbst. Doch was er da in die Schreibmaschine hackte, war kein reflektiertes Werk. Eher eine Art Protokoll der endlosen Selbstgespräche, die er in seinem Kopf führte und gelegentlich vor den Gesinnungsgenossen referierte. Ein Monolog also, der zwischen sentimentaler Erinnerung und wütender Verteidigung, zwischen Programm und Zukunftsentwurf, Tirade und Sachbericht manchmal abrupt wechselte und mühsam in Kapitelformate eingepasst werden musste. Vielfach vermerkt der Kommentar „Floskeln und Formeln, die für Hitlers Reden typisch waren“. Sie verweisen ebenso wie manches missglückte Bild auf die lockere Alltagsrede mit ihren Automatismen und Unkorrektheiten, auch auf die Leerformeln und gespreizten Verlautbarungen politischer Rede, die Hitler vertraut waren. Das gilt auch für den zweiten, 1925/26 entstandenen Band.
Doch zielen die kritischen Kommentare über den stilistischen Rahmen weit hinaus. Hitler versuchte, auch im Text noch etwas von der lebendigen rednerischen Wirkung zu erzielen, der er schon seine bisherigen öffentlichen Erfolge verdankte. Dazu gehören auch Vagheit, Verschwommenheit, Vieldeutigkeit seiner Reminiszenzen und Erklärungen. Die von Kershaw notierte Undeutlichkeit seiner Person ist beabsichtigtes rhetorisches Manöver und soll eine Aura von Überlegenheit und Größe erzeugen. Wenn es vor dem Kammerdiener keine Helden gibt, muss der Held sich dem Blick der Kammerdiener entziehen. Wie viel mehr der Mann, der sich zum Erlöser und Retter seines Volkes, ja Heilsbringer der Welt emporschrauben wollte!
Weder die psychologische Deutung als Größenwahn noch volkstümliche Dämonisierung verfangen angesichts solch planmäßiger Rollenindentifizierung. Beiden widerspricht daher die pragmatische, detailgenaue Kommentierung der Neuausgabe auf wohltuende Weise. Die Herausgeber haben sich für die zweibändige Erstausgabe von 1925/27 als Editionsvorlage entschieden, weil sie dem Autor gerade auch in ihrem sprachlichen Gepräge am nächsten kommt und die wenigen inhaltlich wichtigen Änderungen späterer Auflagen im Lesartenkommentar ebenso zu vermerken sind wie die stilistischen Varianten. Die kritische Ausgabe, eine immense Aufgabe für die beteiligten Wissenschaftler, ist ausdrücklich am Ideal genauer historischer Rekonstruktion ausgerichtet, sie orientiert sich ausdrücklich an den Prinzipien der „Versachlichung“ und „Überprüfbarkeit“ – dies gerade in dem Bewusstsein, dass Mein Kampf das glatte Gegenteil dieser Prinzipien darstellt.
Das sind wichtige editorische Grundsätze, die nicht angetastet werden dürfen, sie vermitteln das Verständnis für den Grundriss des Buchs und seine Bausteine, doch wie es funktionierte, muss aus den präzise ermittelten Indizien noch geschlossen werden. So kommt es, dass die Kommentierung nach dem oft bemühten Muster „In Wirklichkeit war es ganz anders“ zwar den Sachverhalt trifft, aber disparat zum Text und seiner Wirkungsabsicht steht.
Um nicht missverstanden zu werden: Alle diese Berichtigungen sind nötig; wir müssen wissen, wo und wie sich Hitler von einem empirischen Faktum, einem historischen Konsens entfernt, auf welchen Überlieferungen noch seine abstrusesten Ansichten fußen und wann er den üblichen Vorurteilen seiner Zeit folgt oder widerspricht – ob es sich um sozialdarwinistische Traktätchen, klassische Weltliteratur oder den antisemitischen Schund der Weisen von Zion handelt.
Doch wie sein Buch funktionieren konnte als jene „Bibel der Nazis“, als welche es dann Einband und Auftritt der Volksausgabe ausweist, wird unter dem enormen Gewicht der Kommentare immer rätselhafter. Das ist kein Einwand gegen die kritische Edition, aber ein Hinweis auf die offenen Fragen, die sie stellt. Denn das Buch reproduziert über weite Strecken historische Entwicklungen, politische Allgemeinüberzeugungen und zeitgenössisches Krisenbewusstsein durchaus korrekt und auch in Vereinfachungen angemessen, wenn man nämlich das zeitgenössische Publikum bedenkt. Sein Autor schafft sich derart einen Glaubwürdigkeitsvorschuss, mit dem er bei unsicheren und sogar betrügerischen Referenzen wuchern kann.
Für den Leseerfolg entscheidend war eine Textebene, die mit Wahrheit wenig zu tun hat, dafür umso mehr mit archetypischen Verankerungen, ungleichzeitigen Träumen und der Inszenierung des Autors als eines persönlichen Zeugers der Ereignisse. Zeugenschaft besitzt in der europäische Kultur einen apriorischen Glaubwürdigkeitskredit, von dem Hitler in seinem Buch wie in allen großen Reden reichlich zehrt.
Ein „Machwerk“ ist Mein Kampf nur im Sinne einer taktisch überlegten Fabrikation, die der Montage ähnelt. Das Buch ist gar nicht auf Gesamtlektüre angelegt und wurde, nach allem, was wir wissen, auch selten ganz gelesen. In der Volksausgabe (seit 1930), die den Durchbruch zum Bestsellererfolg brachte, findet der Leser eine buchtechnische Kuriosität: Das Personen- und Sachregister steht am Anfang, noch vor dem Vorwort. Die Ausgabe, heißt das, ist von vornherein auf selektive Lektüre hin geplant, der Leser soll seinen eigenen Interessen folgend seinen Kurs durch das Buch legen – ob an der Lebensgeschichte, am Parteiprogramm, an weltanschaulichen Positionen entlang oder ins Zentrum der Wut- und Hasstiraden über Juden oder Marxisten oder beide zielend.
Selektive Lektüre
Die Rezeptionsvorgabe wirft ein Licht auf andere Eigenheiten des Texts. Der Gebrauch oftmals wörtlicher Wiederholungen, wie sie von den Kommentaren auch penibel verzeichnet werden, folgt nicht nur einer Propagandaregel, sondern garantiert, dass auch bei der Auswahllektüre die dem Autor wichtigsten Botschaften nicht verloren gehen. Ebenso erweist sich der Wechsel der Stile von Pathos zu bürokratischer Sachlichkeit, von Fremdwortgebrauch zu deutschtümelnder Diktion dem jeweils anvisierten Leser gemäß. Aus rhetorischer Erfahrung wusste Hitler um den Reiz des schwierigen Worts wie des sprachlich ungehemmten Tabubruchs.
Das stärkste Wirkungspotenzial des Buchs bieten seine autobiografischen Erzählungen; sie sind Konstruktionen wie jede Autobiografie, hier eingespannt in die Bildwelt eines mythischen Bewusstseins, wie es in Träumen, künstlerischen Fantasien und religiöser Sehnsucht weiterlebt, weil die Wünsche darin unerfüllt geblieben sind. Eines der wenigen Beispiele, das den Kommentatoren entgangen ist, die sonst jedes Bibelzitat, jede religiöse Anspielung sorgsam festhalten: Hitler beginnt seine Lebensgeschichte mit einem Satz, an dem er, wie wir erfahren, lange gefeilt hat. „Als glückliche Bestimmung gilt es mir heute, dass das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies.“ Ein „kleines Grenzstädtchen“, wie er hinzufügt, zugleich „Symbol einer großen Aufgabe“. Ob er Goethes Verse kannte: „O Weimar! Dir fiel ein besonder Los! / Wie Bethlehem in Juda, klein und groß“? Im Kontext seiner messianischen Größenfantasien gewinnt der Auftakt eine eigene Färbung.
Summa summarum: Erst die „Kritische Edition“ macht sichtbar, in welchem Ausmaß Hitlers Mein Kampf ein geschickt komponiertes Sammelwerk ungleichzeitiger Inhalte ist. Ausbrüche regressiver Triebkräfte steigern sich bis zu Mordlust, dumpfe Reste bäuerlicher Lebensformen kommen im Blut-und-Boden-Geraune unter, kleinbürgerliche Angst- und Wunschträume erfüllen sich in Frauenbild und Sexualmoral; daneben stehen Erinnerungen an alte Endzeiterwartung und fortdauernde Erlösersehnsucht und mischen sich mit den ebenso ungleichzeitigen Hoffnungen auf ein besseres Leben – ein wahrhaft umwerfendes Rezept. Seine Bestandteile hat die „Kritische Edition“ bis in Einzelheiten aufgedeckt, damit das literarische Herrschaftssymbol des Nationalsozialismus zur vollen Kenntlichkeit aufgeklärt und die Grundlage für jede weitere Beschäftigung mit dem Buch gelegt.
Info
Hitler, Mein Kampf: Eine kritische Edition Christian Hartmann u.a. (Hg.) IfZ – Institut für Zeitgeschichte München / Berlin 2016, 1.948 S., 59 €
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