„VibrationHighWay“ hat Andrea Éva Győri ihre Arbeit für die Großausstellung Manifesta in Zürich genannt. Unter dem Manifesta-Motto „What People Do For Money“ hat die 30-Jährige sich mit dem Beruf der Sexologin auseinandergesetzt. Über mehrere Monate hinweg hat sie dafür mit anderen Frauen einen Kurs über den weiblichen Orgasmus besucht. Parallel dazu hat Győri Frauen gezeichnet, während diese sich selbst befriedigten, und sie zu ihren Fantasien befragt. Entstanden sind so teils sehr großformatige Zeichnungen, die von der Theorie wie auch der praktischen Umsetzung erzählen. An der riesigen Wand im Ausstellungsraum auf dem Zürcher Löwenbräu ist nun fast keine kahle Stelle mehr zu sehen.
Andrea Éva Győri zeigt mal hier, mal dort hin, um gestenreich und mit viel Detailwissen zu erklären, wie der weibliche Körper auf sexuelle Annäherungen reagiert. Auch wenn neben uns eine Schülergruppe die Zeichnungen verlegen-kichernd, zuweilen auch stirnrunzelnd betrachtet: Die Bleistiftzeichnungen, die pastellige Blau-, Rot- und Gelbtöne ergänzen, sind weder rein wissenschaftlich noch vulgär. Und obwohl es auch Szenen gibt, die sichtlich düstere Fantasien zeigen, wirken sie in ihrer Menge an der Museumswand unbeschwert.
Ihre Zeichnungen sind in meinen Augen weder pornografisch noch erotisch. Wie würden Sie sie selbst beschreiben?
Spielerisch und aufklärend. Obwohl einige meinten, dass sie durchaus erotisch wirken. Das sehe ich aber nicht so.
Was hat Sie daran gereizt, Frauen bei der Selbstbefriedigung zu zeichnen?
Mich fasziniert das Verhältnis zwischen Kopf und Körper. Warum denkt man an dies oder das, wenn man sich berührt? In meiner Kindheit haben wir uns oft unter Freundinnen getroffen, um voneinander zu lernen, wie man sich selbst befriedigt, und um Fantasien zu besprechen. Bereits damals ‚fiel mir auf, wie stark der Einfluss der Gedanken auf den Körper ist.
Zur Person
Andrea Éva Győri, 30, ist in Budapest geboren und hat an der Staatlichen Akademie der Künste in Stuttgart unter anderem bei Christian Jankowski studiert, der als erster Künstler in diesem Jahr die Manifesta kuratiert hat. Der weibliche Körper ist in Győris Werk ein wiederkehrendes Thema: Für ihre Serie Shower Tour lässt sie sich von jedem, der ihr eine Dusche anbietet, dabei filmen oder fotografieren. Sie eröffnet sich so die Möglichkeit, sich den männlichen Blick für sehr eigenwillige Selbstporträts anzueignen
Sie haben sich nicht nur mit der Praxis, sondern auch mit der Theorie befasst. Was haben Sie im Kurs der Sexologin gelernt?
Im Kurs sprachen die Frauen nur wenig über sich und ihre Sexualität. Es musste zuerst ein Zusammengehörigkeitsgefühl geschaffen werden, um überhaupt darüber sprechen zu können. Das war mir neu: Für mich war es immer selbstverständlich, dass ich beste Freundinnen und Freunde hatte, mit denen ich darüber reden konnte – vor der Pubertät schon, aber auch während und danach. Erst durch diesen Kurs habe ich gemerkt, dass das nicht für alle so ist.
Wer besucht einen solchen Kurs?
Ganz unterschiedliche Frauen, die alle aus anderen Gründen da waren. Aufgefallen ist mir das Alter: die Frauen waren unter drei-ßig oder über vierzig, die Älteste fast siebzig. Einige hatten Mühe, überhaupt den eigenen Körper anzufassen, andere mit der Sexualität in ihrer Beziehung. Sex wurde immer schwieriger oder war vielleicht schon von Anfang an kompliziert.
Was wurde besprochen?
Wir haben nicht über unsere Erfahrungen gesprochen, sondern darüber wie man einen Zugang zum eigenen Körper findet. Was passiert dort unten beim Geschlecht? Wir haben Übungen besprochen, etwa wie man sich beim Duschen berühren könnte. Man muss sich nicht unbedingt mit einem Spiegel betrachten – könnte man allerdings. Man sieht ja sein Geschlecht nicht oft.
Sie wollten dann auch sehen, wie Frauen sich selbst befriedigen. Wie haben Sie sieben Frauen gefunden, die sich dabei porträtieren ließen?
Ich habe Frauen angesprochen, bei denen ich spürte, dass wir uns verstehen könnten. Überall: auf der Straße, in einer Bar oder einem Café. Die meisten haben sofort zugesagt. Ich lud sie in meine Atelierwohnung ein, dort habe ich für sie gekocht. Manchmal haben wir zuerst auch einfach einen Abend miteinander verbracht, wenn jemand mehr Zeit brauchte, um über seine Geheimnisse zu sprechen. Vertrauen aufzubauen war mir sehr wichtig. Ich wollte die Frauen ja nicht in eine ungewollte Situation bringen.
Warum, glauben Sie, haben sich die Frauen auf diese Erfahrung eingelassen?
Ich hatte den Eindruck, dass sie sich danach freier fühlten – ähnlich wie bei einer Therapie. Als ob sie sich von einem Druck befreit hätten, den sie sich ein ganzes Leben lang aufgebaut hatten.
Und wie haben Sie sich selbst dabei gefühlt?
Normalerweise schaut mir niemand beim Zeichnen zu, die Situation war also auch für mich intim. Mit Selbstbefriedigung ist das nicht vergleichbar, aber ich exponierte mich auch. Und ich sah ja nicht einfach nur zu, sondern reagierte darauf, was die Frau tat. Das war keine Zusammenarbeit, aber ein Zusammenspiel. Als Voyeurin fühlte ich mich deshalb nie.
Mich erstaunen die Varianten, die Sie zeigen.
Das hat mich auch überrascht: diesen vielen Arten, wie Frauen masturbieren. Wie die einen mit offenen Beinen daliegen und genießen, während andere ihren Körper zusammenziehen und nur über die Muskeln Druck erzeugen, ohne dass sie sich berühren. Die Sexologin Diana nannte dies die „archaische Methode“. Weil Mädchen sie von klein auf kennen.
Können Sie ein paar Fantasien beschreiben, die wir hier sehen?
Hier oben stellt sich eine Frau vor, wie sie als Professorin vor vielen Studenten steht, um einen Vortrag über Architektur zu halten. Niemand sieht, wie jemand sie unter dem Stehpult befriedigt. Sie versucht ihren Genuss zu unterdrücken, weil sie vor Publikum steht und denkt, dass sie das nicht darf. Eine andere Frau stellt sich vor, dass sie sich sehr lange nicht mehr gewaschen hat. Sie fühlt sich schmutzig und glaubt, dass sie schlecht riecht, während ihr Freund sie oral befriedigt. Ein Tabu, denn das versucht man ja immer zu vermeiden. Und dort drüben dirigiert eine Frau ein Orchester in der Berliner Philharmonie, das aus Männer, Frauen und Paaren besteht, die Sex haben. Sie beschreibt das als sehr frohes, gutes Gefühl. Bis sich die Fantasie ändert und ein Monster auf die Bühne kommt, das die Frau an ein Piano fesselt. Danach passiert etwas Schlimmes, das die Frau aber nicht mehr beschreiben kann. Den ersten Teil der Fantasie genießt sie sehr, der zweite aber tut weh – und sie weiß vorher nie, ob der zweite Teil passiert oder nicht. Kommt es dazu, bekommt sie auch keinen Orgasmus.
Viele Fantasien, die sie gezeichnet haben, thematisieren auch Vergewaltigung. Bedienen Sie damit nicht männliche Klischee-vorstellungen?
Und wenn schon. Ich unterscheide in meiner Arbeit nicht zwischen Männern und Frauen, ich finde es bloß wichtig, dass man möglichst viel über andere erfährt. Männer waren bei dieser Arbeit vor allem darüber erstaunt, wie weibliche Sexualität funktioniert. In vielen Beziehungen wird darüber ja nicht gesprochen. Viele waren überrascht, dass sich Frauen Geschichten vorstellen, während ihnen ein Bild ohne Erzählung genügt. Ein Unterschied, den ich nicht werten möchte, dessen man sich aber einfach bewusst sein sollte.
Was ist mit Scham: Spielt sie bei Männern und Frauen eine andere Rolle?
Vielleicht. Wobei ich glaube, dass auch Männer nicht einfach so über solche Themen sprechen. Dass im Gegenteil Frauen unter sich öfter über ihre Sexualität reden. Während Männer ihre Scham gar nicht erst zugeben, weil sie stark sein möchten. Ich glaube, dass genau daher viele Probleme in der Sexualität rühren: weil man Stärke beweisen will.
Inwiefern hat sich Ihr Denken über Sexualität verändert, seit Sie sich künstlerisch damit befassen?
Ich habe gemerkt, dass man sich freier fühlt, je mehr man zugeben kann. Weil man erfährt, dass es auch einfach in Ordnung so ist.
Info
Die Manifesta 11 läuft noch bis zum 18. September in Zürich
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