„Als lebten wir in einem barmherzigen Land“ von A. L. Kennedy: Rettet euch gegenseitig
Herzblut Die schottische Autorin A. L. Kennedy ist wütend, streitbar und unbequem. Sie ist die Querulantin, die wir dringend brauchen. Ihr neuer, engagierter Roman handelt von einem „barmherzigen Land“
Schreibt viele Blätter voll, nimmt aber niemals eins vor den Mund: A. L. Kennedy
Foto: Joel Hunn
Seit Langem mischt sich die schottische Schriftstellerin A. L. Kennedy in die Politik ihres Landes ein. Kennedy kritisierte die Beteiligung Großbritanniens am Irak-Krieg und trat als Rednerin bei Antikriegsdemonstrationen auf. Sie war eine vehemente Kritikerin des Brexit und der Zerstörung und Verwüstung der Gesellschaft durch den entfesselten Markt. Kürzlich antwortete sie auf die Frage der Süddeutschen Zeitung, ob Großbritannien noch eine Demokratie sei, kurz und bündig mit „Nein“. Großbritannien sei (noch) nicht faschistisch, aber in einem rapiden Prozess der Faschisierung begriffen. Wegen dieser klaren Positionierung erhielt sie anonyme Morddrohungen, Überwachungskameras wurden vor ihrem Haus installiert. Schließlich lagerte
lich lagerte sie ihren Besitz ein, verließ das Land und zog als „Vagabundin der Literatur“ durch Europa.Die Wut machte wie ein blinder Passagier die Reisen mit: „Ich wache mit steifem Hals auf, weil ich mit den Zähnen knirsche – wie Millionen andere auch.“ Mit diesen Erfahrungen setzt ihr jüngstes Buch Der Kern der Dinge ein. Dort heißt es gleich zu Beginn: „In Großbritannien, wo ich normalerweise lebe, haben wir uns weniger um die Welt gekümmert, als wir sollten, und auch weniger um uns selbst. Jetzt, da sich die unvermeidlichen negativen Folgen der Achtlosigkeit entfalten, sehen sich viele von uns gezwungen, neu anzufangen. Einige können das nicht. Es kommt häufiger zu Akten des Nihilismus und der Verzweiflung.“ Im Zuge dessen, was ihr in Großbritannien zugestoßen ist, hat Frau Kennedy sich radikalisiert – auch sprachlich. Sie versucht erst gar nicht, ihre Wut zu sublimieren, pfeift auf die Normalität und die Marotte, die man Stil nennt. Die existenzielle Radikalität macht die Lektüre manchmal schwierig und auch schwer auszuhalten.Das ist eigentlich, etwas prosaischer ausgedrückt, die Idee des SozialstaatsAls sie ihr bislang letztes Buch zu schreiben beginnt, hockt sie versteckt in einer Hütte in den Wäldern des Bundesstaates New York. Dort droht ihr ein „Hüttenkoller“. Nicht zufällig beschäftigt sie sich deswegen mit Stephen Kings Roman The Shining, dessen Verfilmung durch Stanley Kubrick sie als noch nicht ganz 15-jährige Schülerin gesehen hatte. Außerdem leidet sie unter Symptomen von Long Covid und registriert mit Sorge, wie die Krankheit „Löcher in die Seiten“ ihrer Texte frisst. „Ich schreibe mit meinem Gehirn. Ich brauche es“, sagt A. L. Kennedy. Für ihren Roman Als lebten wir in einem barmherzigen Land hatte Kennedy in England keinen Verlag mehr gefunden. Schon der Titel des Buches lässt erahnen, warum. Im Zentrum des Romans steht die Wiederbegegnung von Anna, der Protagonistin, mit einem Mann namens Buster, der in den 1980er Jahren eine Gruppe von linken Straßenkünstlern namens OrKestrA, der Anna angehörte, ausspionierte.Anna ist inzwischen heimatlos, noch heimatloser, als man als Linke oder Linker ohnehin ist. Sie kämpft gegen die „Stilzchen“, von denen es in letzter Zeit nur so wimmelt und die die Menschen besitzen, aussaugen und kleinmachen wollen. Anna ist Lehrerin und hat mit den Schülern ihrer fünften Klasse Grimms Märchen vom Rumpelstilzchen gelesen. Sie sind sich einig, dass sie keinen Handel mit jemandem eingehen würden, der zwar Stroh zu Gold spinnen kann, sich dann aber als fieser Kobold entpuppt, und dass es wichtig ist, zu lernen, das Böse bei seinem Namen zu nennen. „Man kann alle Ungeheuer besiegen, wenn man weiß, wer sie sind und wie sie heißen. Wenn wir die Stilzchen und Vampire in die Flucht geschlagen haben, könnten wir gemeinsam etwas aus unseren Ländern machen, was den Namen Heimat verdient und in dem Barmherzigkeit gedeihen könnte.“ „Das Problem ist“, sagt Kennedy, „dass unser öffentlicher Diskurs Barmherzigkeit verachtet und ins Abseits schiebt. Aber Barmherzigkeit ist, was dich rettet, und wenn du gegenüber jemandem barmherzig bist, der dir mit Barmherzigkeit begegnet, rettet ihr euch gegenseitig.“Das ist eigentlich, etwas prosaischer ausgedrückt, die Idee des Sozialstaats. Dieser ist eine unvergleichliche Erfindung, die das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit, Geborgenheit und Zusammengehörigkeit mit ihrem Verlangen nach Freiheit und Selbstverwirklichung vereint. Keiner soll mehr ohne Arbeit und Versorgung und ein Dach über dem Kopf sein, alle Schulkinder erhalten täglich eine warme Mahlzeit, und alle haben Anspruch auf unentgeltliche Krankenversorgung und eine sichere Rente. Das ist es letztlich, was A. L. Kennedy unter Barmherzigkeit versteht. Nun muss sie erleben, wie all diese Errungenschaften vor die Hunde gehen und sich statt Solidarität Feindseligkeit und Gleichgültigkeit unter den Menschen breitmachen. Sie leidet an ihrem Land und möchte dazu beitragen, es zu retten, aber die meisten Mitbürger seien inzwischen zu bequem und medial verblödet, um Demokratie und Sozialstaat wirksam verteidigen zu können.Die Menschen schlafen im KanonenrohrDer Sozialstaat ist planiert, das Tafelsilber verscherbelt, die Menschen schlafen im Kanonenrohr, sie verbringen ihre Zeit mit dümmlichen Vergnügungen, die Fähigkeit zum Erbarmen ist infolge des Dauereinsatzes von „Ethiziden“, die von den Medien versprüht werden, im Begriff, abzusterben. Wir müssen uns fragen: Welche menschlichen Haltungen gedeihen eigentlich in einem gegebenen sozialen Klima, welche verdorren? Unter Bedingungen des entfesselten Marktes sind die Entfaltungsbedingungen für Mitgefühl und die Fähigkeit zum Erbarmen eher ungünstig. Noch gibt es bei Kennedy Zeichen der Hoffnung: Die Stilzchen „verbreiten den Tod unter den Menschen und meinen, dies sei gerecht und ein Beweis dafür, dass sie ewig leben werden, während die Schwachen zu Asche verdorren. Sie irren sich. Doch bis zu ihrem Ende wird noch eine lange und harte Zeit vergehen.“Placeholder infobox-1