Bestes Streben

Gastbeitrag Das Grundgesetz wird 70. Eine kritische Würdigung von Gregor Gysi
Ausgabe 20/2019
Bestes Streben

Grafik: der Freitag

Siebzig Jahre Grundgesetz sind ein Anlass, sich die Frage zu stellen, was ein Linker beziehungsweise eine Linke mit dieser Verfassung anfangen kann. Ich kann nicht über alle sprechen, aber für die Partei, der ich angehöre. Sie sieht im sozialen, rechtsstaatlichen und demokratischen Verfassungsstaat eine Bedingung für weitere Schritte in der sozialen und politischen Emanzipation. Kritik, auch am Grundgesetz, ist damit nicht ausgeschlossen, aber der Kern unserer Verfassung, dass wir es nach Art. 20 Abs. 1 mit einem demokratischen und sozialen Bundesstaat zu tun haben, wird durch jede demokratische Linke angenommen und verteidigt.

Dafür gibt es viele Gründe. Im Grundgesetz wird auch Geschichte reflektiert. In Art. 1 Abs. 1 finden wir den vielleicht bekanntesten Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Zwar gehört der Begriff der Menschenwürde zum gängigen Vokabular, wenn man über Grund- und Menschenrechte spricht, sie erläutert. Aber die Mütter und Väter des Grundgesetzes (es gab übrigens nur vier Frauen unter den 65 Stimmberechtigten) hielten es für sinnvoll, es an den Beginn zu stellen. Denn gerade einmal vier Jahre war es erst her, dass in Deutschland ein Regime herrschte, das auf Mord und Zerstörung programmiert war, bis hin zum Vernichtungskrieg und Völkermord.

Mit diesem ausdrücklichen Hinweis auf die menschliche Würde im Rahmen einer neuen Verfassung war daher auch ein Bruch intendiert. Wichtig ist auch der folgende Satz: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Der neue Staat sollte mithin nicht nur kein faschistischer mehr sein, sondern man erhob für ihn den Anspruch, mit der Vergangenheit radikal zu brechen. Natürlich kann das schnell versanden, vor allem dann, wenn man es noch mit denselben Menschen in Regierung, Verwaltung, Bildung, Polizei und Justiz zu tun hatte, die bis zum Schluss mehrheitlich das Naziregime trugen, es sogar aktiv unterstützten. In der Tat dauerte es noch viele Jahre, bis eine neue Generation, die Studentenbewegung von 1968, eine aktive Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit einforderte.

Als Linker kann ich natürlich nicht anders, als diesen antifaschistischen Geist zu verteidigen. Aus der Menschenwürde folgt jedoch mehr. Ihre ausdrückliche Nennung im ersten Satz des ersten Artikels hat auch zur Folge, dass die Rechtsprechung, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts, in der Tendenz eher grundrechtsfreundlich war. Das hängt mit der engen Verwandtschaft von Menschenwürde und Grund- bzw. Menschenrechten zusammen. Selbstverständlich erfahren Grundrechte reale Wirksamkeit erst durch Gesetze, damit aber auch Einschränkungen. Erst recht entstehen Grundrechtseinschränkungen durch Güterabwägungen. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass Güterabwägungen zugunsten der Grundrechte ausgehen müssen.

Widerspruch Schuldenbremse

Ein anderer Punkt besteht darin, dass sich – gedeckt durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – unter Bezug auf die Menschenwürde auch weitere Grundrechte „ableiten“ ließen. Das geschah beispielsweise 1983 mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und 2010, als das Bundesverfassungsgericht den Anspruch auf ein materielles und sozio-kulturelles Existenzminimum als Grundrecht charakterisierte. Dabei bezog es sich sowohl auf den Grundsatz der Menschenwürde als auch auf das Sozialstaatsprinzip. Für die historisch interessierten Leser: Damit entschied das Bundesverfassungsgericht auch eine Kontroverse zwischen Ernst Forsthoff und Wolfgang Abendroth. Forsthoff, ein bereits in der Nazizeit aktiver Jurist, vertrat die Auffassung, dass das Sozialrecht seinem Wesen nach Verwaltungsrecht sei, also keine eigentliche verfassungsrechtliche Verankerung habe. Die im Grundgesetz verankerte Sozialstaatsgarantie redete er zu einer eher unverbindlichen Phrase klein. Wolfgang Abendroth, Antifaschist und demokratischer Sozialist, war da ganz anderer Auffassung. Für ihn war der Sozialstaat seinem Wesen nach ein sozialer Rechtsstaat, die Sozialstaatsgarantie daher keinesfalls etwas Unverbindliches. Das Urteil von 2010 bestätigte ihn.

Nun wäre es aber vermessen, das Grundgesetz als eine „linke“ Verfassung zu bezeichnen. Gute Verfassungen zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie Raum für Entwicklungsoffenheit bieten. Gesellschaften sollen sich frei entwickeln können und nicht eingepfercht werden. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich festgestellt, dass das Grundgesetz die Gesellschaft nicht auf eine bestimmte Wirtschaftsordnung festlegt. Die Entwicklungsoffenheit bedeutet jedoch nicht nur, dass alles Linke erlaubt ist; sie bedeutet auch, dass man andere Entwicklungen zu akzeptieren hat. Neoliberale und Konservative dominieren des Öfteren durch Wählerentscheid. Ein Beispiel, wie sich das dann wiederum verfassungsrechtlich niederschlagen kann, ist die Neufassung der Schuldenbremse im Grundgesetz. Sie beschneidet den Staat massiv in seinen Möglichkeiten, zu investieren oder eine bessere Sozialpolitik zu machen. So besteht ein Widerspruch innerhalb des Grundgesetzes zwischen der Sozialstaatsgarantie und der Schuldenbremse, die Neoliberalismus mit Verfassungsrang bedeutet. Es gibt aber auch einen Unterschied: Die Schuldenbremse kann man wieder abschaffen, so schwierig das auch sein mag, das Sozialstaatsprinzip fällt dagegen nach Art. 79 Abs. 3 unter die Ewigkeitsgarantie. Es ist hier also ein Vorrang erkennbar, der bei einer Güterabwägung berücksichtigt werden müsste.

Neuerdings, und zwar schon vor Kevin Kühnerts Sozialismus-Ansichten, ist eine Sozialisierungsdebatte in Gang gekommen. Dabei wird auf Artikel 15 des Grundgesetzes Bezug genommen. In der Diskussion um Kühnert zeigt sich die SPD verzagt vor dem Gegenwind aus einschlägigen Richtungen. Vermutlich wäre Artikel 15 nie ins Grundgesetz gekommen ohne Insistieren der SPD. Auch distanziert sich die Sozialdemokratie von ihrer Geschichte als einer einstmals sozialistischen Partei. Schließlich zeigt sie, wie konfliktscheu sie gegenüber Konservativen und Neoliberalen ist. Statt die Chance der vom Berliner Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ angestoßenen Debatte zu nutzen, um das verbreitete Unbehagen über die aktuelle Entwicklung des Kapitalismus aufzugreifen, fällt die SPD wieder einmal hinter sich selbst zurück.

Wenn kapitalistisches Eigentum zu sozial nicht mehr tragbaren Folgen führt und gesetzliche Regulierungen wie die Mietpreisbremse nicht wirken, muss über Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse bei der öffentlichen Daseinsvorsorge nachgedacht werden. Konzerne, die wegen ihrer Profitinteressen ein gravierendes soziales Problem schaffen, müssen gestoppt werden. Hier wird deutlich, dass Sozialisierungen ein Mittel sein können, den Charakter einer Gesellschaft als einer sozialen Demokratie zu bewahren. Das ist weit entfernt von irgendwelchen Sozialismusvorstellungen. Hier gleich das Gespenst des Kommunismus zu reaktivieren, ist hysterisch. Man ängstigt einfache Hausbesitzer, um Konzerne zu schützen. Das sollten sich alle klarmachen, die Kühnert so auf die Palme gebracht hat: Wen greifen sie an, wen schützen sie? Der Artikel 15 steht seit 1949 in der Verfassung. Wer Kühnert so angreift, greift das Grundgesetz an.

Gesetz und Gesellschaft

Sicher, am Grundgesetz kann und sollte man auch Kritik üben. Bei seiner Abfassung standen politische, nicht soziale Rechte im Vordergrund. Der Schutz der Wohnung ist geregelt, ein Anspruch auf sie nicht. Der Argumentationsweg des Bundesverfassungsgerichts über die Würde des Menschen reicht mir nicht aus. Er sollte direkt aufgenommen werden. Als verfassungsrechtlicher Rahmen für eine auch von Linken wünschbare, vor allem aber vernünftige, Gesellschaftsentwicklung reicht das Grundgesetz allemal. Es ist durchaus möglich, dass auch Konzerne ihren Beschäftigten gehören, ohne dass dadurch die Grundfesten unserer Gesellschaft ins Wanken gerieten.

Noch eine Frage: Wann wird eigentlich Artikel 146 realisiert? Er lautet: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Foto: Jens Jeske/Imago Images

Gregor Gysi, geb. 1948, ist Jurist. Er war letzter Vorsitzender der SED-PDS und ist heute Präsident der Europäischen Linken. Mitglied des Bundestages von 1990–2002 und seit 2005, 1990–2000 und 2005 –2015 als Fraktionschef

Das Grundgesetz im Wandel der Zeit

Es wurde ergänzt und geändert, oft begleitet von großem Protest

1993: Asyl

Artikel 16a Zum ersten Mal wurde ein Grundrecht geändert. „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Wer über einen EU-Staat oder einen anderen sicheren Drittstaat nach Deutschland einreist, kann sich seither nicht mehr auf das Asyl-Grundrecht berufen. Damit wurde es weitgehend abgeschafft.

1956: Bundeswehr

Artikel 87a Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung stand stets im Grundgesetz, von Armee und Wehrpflicht war nach dem National­sozialismus nicht die Rede. Die Debatte um die Wiederbewaffnung wurde vom Protest der „Ohne mich“-Bewegung begleitet. Laut Grundgesetz ist die Bundeswehr für die Verteidigung nach außen zuständig.

1968: Notstandsgesetze

Artikel 20 Beim „Sternmarsch auf Bonn“ wurde gegen die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte durch die Notstandsgesetze der ersten Großen Koalition protestiert. Aus Furcht vor dem Missbrauch der Notstandsbefugnisse durch die Staatsgewalt, gelangte das Widerstandsrecht ins Grundgesetz.

1994: Staatsziele

Artikel 3 „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, dass dieser Satz seit 1949 im Grundgesetz steht, geht auf die Sozialdemokratin Elisabeth Selbert zurück. 45 Jahre später wurde als Staatsziel die „tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung“ ins Grundgesetz aufgenommen, ebenso wie der Umweltschutz.

2009: Schuldenbremse

Artikel 109 Eine begrenzte Staatsverschuldung bringt Generationengerechtigkeit, befanden Union und SPD. So bekam die „Schwarze Null“ Verfassungsrang. Die konjunkturunabhängige Neuverschuldung wurde für die Länder verboten und für den Bund begrenzt. Und damit der Spielraum für Zukunftsinvestitionen.

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