Ein möglicher Dialog zwischen Stepanakert und Baku: Wozu kann es führen?

EU als vermittelnde Instanz Nach dem Krieg 2020 um Berg-Karabach, die schließlich durch eine Waffenruhe unter der Schirmherrschaft von Russland am 9. 11.2020 beendet wurden, strebt die EU nun verstärkt danach, ihre Rolle als erfolgreiche Vermittlerin zu festigen.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Nach der Waffenruhe zwischen Armenien und Aserbaidschan, die unter der Schirmherrschaft der Russischen Föderation am 9. November 2020 zustande kam, sowie aufgrund des Konfliktausbruchs in der Ukraine, hat die Europäische Union nun verstärkte Bemühungen unternommen, ihre Rolle als erfolgreiche Vermittlerin in den friedlichen Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien zu stärken. Brüssel verfolgt das Ziel, idealerweise einen Friedensvertrag zwischen Jerewan und Baku vor dem Ende der Amtszeit des EU-Parlaments oder der amtierenden EU-Kommission zu erreichen und damit ihre Präsenz und Einfluss im Südkaukasus zu festigen.

I. Kurze Vorgeschichte

Die Geschichte des Streits um Berg-Karabach reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück. Im Zuge der Bildung der Sowjetunion im Jahr 1921 wurde das Gebiet von Karabach, das zu 94% von Armeniern bewohnt war, der Aserbaidschanischen Sowjetrepublik zugeschlagen. 1923 wurde daraus eine administrativ-territoriale Autonomie von Berg-Karabach geschaffen. Die Armenier kritisierten ihren Status als Enklave und baten mehrmals in den folgenden Jahren um die Übertragung der Region an die Armenische Sowjetrepublik. Die Zentralregierung der UdSSR lehnte jedoch alle Anträge ab.

Am 20. Februar 1988 entschied die Parlamentarische Versammlung von Berg-Karabach, sich der Armenischen Sowjetrepublik anzuschließen. Diese Initiative wurde sowohl von Aserbaidschan als auch von der Zentralregierung in Moskau abgelehnt. Dennoch beschloss das Parlament der Sowjetrepublik Armenien am 1. Dezember 1989 die Wiedervereinigung der Sowjetrepublik Armenien und Berg-Karabachs. Die Situation im Südkaukasus verschärfte sich erheblich, als in der aserbaidschanischen Stadt Sumgait die ersten Pogrome gegen die armenische Bevölkerung stattfanden. Die Menschen, die zuvor in einem föderativen Staat (Sowjetunion) friedlich miteinander gelebt hatten, gerieten plötzlich in Konflikt.

II. Aktive Phasen der Waffengänge

  • Erster Karabach-Krieg 1991-1994 und der „4-Tage-Krieg“ im 2016

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion versuchte Baku die Region mit militärischer Unterstützung unter seine Kontrolle zu bringen. Als Reaktion darauf griff die Republik Armenien mit eigenen militärischen Ressourcen ein, um die Niederlage der ursprünglich aus freiwilligen Kämpfern bestehenden Selbstverteidigungskräfte von Berg-Karabach zu verhindern und die Vertreibung der armenischen Bevölkerung aus der Region zu stoppen. Der Krieg begann Ende 1991 und endete im Mai 1994 durch ein Waffenstillstandsabkommen zwischen Jerewan, Stepanakert (Berg-Karabach) auf der einen Seite und Baku auf der anderen, das durch intensive russische Vermittlung erreicht wurde. Damit wurden die aktiven Kampfhandlungen beendet. Die armenische Seite gewann neue Gebiete, und Berg-Karabach erhielt eine territoriale Verbindung zur Republik Armenien.

Im April 2016, während Deutschland den Vorsitz in der OSZE innehatte, brach der sogenannte „4-Tage-Krieg“ aus. Aserbaidschan versuchte mittels eines Blitzkriegs, den Konflikt militärisch für sich zu entscheiden. Nach tagelangen Kämpfen und erheblichen Verlusten an Militärpersonal und -technik konnte die aserbaidschanische Seite jedoch nur einige Vorposten der armenischen Verteidigungsarmee einnehmen. Dieser Kriegsausbruch endete am 5. April 2016 durch die intensive und zeitnahe Vermittlung Russlands.

  • Der „44-Tage-Krieg“ im 2020

Durch die groß angelegte Offensive, die am 27. September 2020 begonnen wurde, gelang es den aserbaidschanischen Streitkräften, die Kontaktlinie im südöstlichen Abschnitt zu durchbrechen und binnen weniger Wochen die international anerkannte Grenze der Republik Armenien zu erreichen. Nach 44 Tagen, am 09. November 2022, wurde der Krieg durch eine Waffenruhevereinbarung beendet, die durch intensive diplomatische Bemühungen der russischen Regierung zustande kam. Gemäß dieser Vereinbarung musste die armenische Regierung mehr Gebiete an Aserbaidschan abtreten, als es durch den 44-tägigen militärischen Einsatz erreichen konnte. Infolgedessen verlor Berg-Karabach die direkte Landverbindung zu Armenien. Aufgrund des vollständigen Abzugs der Einheiten der armenischen Verteidigungsarmee sowie der begrenzten eigenen Ressourcen ist Berg-Karabach nicht in der Lage, die erforderlichen Verteidigungseinheiten zur Gewährleistung der Sicherheit der eigenen Bevölkerung bereitzustellen. In der Region sind offiziell 1.960 russische Soldaten stationiert, um die Sicherheit der armenischen Bevölkerung zu gewährleisten und den 5 km breiten sogenannten "Lachin-Korridor", der Berg-Karabach mit Armenien verbindet, zu kontrollieren.

III. Konfliktparteien und Verhandlungen im Überblick

Seit 1992 hat die OSZE sich intensiv um eine friedliche Lösung dieses Konflikts bemüht. Dies erhielt im Jahr 1993 einen neuen Impuls durch vier Resolutionen des UN-Sicherheitsrats. Im März 1995 wurde das Amt der Ko-Vorsitzenden der Minsker Gruppe der OSZE gegründet, das die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats - die USA, Russland und Frankreich - umfasst. Am 10. Juli 2009 veröffentlichten die Ko-Vorsitzenden der OSZE-Minsker Gruppe die Basisprinzipien für eine friedliche Konfliktlösung. Dabei berücksichtigten sie die Interessen der Konfliktparteien, insbesondere das Recht auf Selbstbestimmung der Völker und die Wahrung der territorialen Integrität der Staaten. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Lösung ist auch der nachhaltige Verzicht auf Gewaltanwendung oder deren Androhung.

Die OSZE führte völkerrechtliche Gespräche mit Jerewan und Baku, wobei die Position von Berg-Karabach nur eingeschränkt berücksichtigt wurde. Die Vertreter der Ko-Vorsitzenden der OSZE-Minsker Gruppe besuchten regelmäßig Stepanakert. Die armenische Diplomatie versuchte kurzfristig, Stepanakert als eigenständige Konfliktpartei in die Verhandlungen einzubeziehen, doch dieser Ansatz blieb bisher erfolglos. Auf internationaler Ebene konnte nur die Republik Armenien, die völkerrechtlich anerkannt ist, die Interessen von Berg-Karabach vertreten.

Obwohl die Bemühungen der OSZE-Minsker Gruppe, die auf gegenseitigen Kompromissen basierten, weitgehend erfolglos waren, trugen sie dazu bei, den Ausbruch eines Krieges zu verhindern. Nach den Ereignissen des Krieges von 2020 und aufgrund der Tatsache, dass Jerewan nicht mehr über den Status von Berg-Karabach sprechen möchte, hat das Verhandlungsformat der OSZE an Bedeutung verloren. Zudem ist es aus geopolitischer Sicht derzeit schwer vorstellbar, die Ko-Vorsitzenden Staaten nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine zusammenzubringen.

VI. Initiative der Europäischen Union

  • Auflösung der Statusfrage als Zwischenziel der Verhandlungen

Nach den veränderten Realitäten infolge des "44-Tage-Krieges" im Jahr 2020 und des späteren Beginns des Konflikts in der Ukraine strebt die Europäische Union nun verstärkt danach, ihre Rolle als erfolgreiche Vermittlerin in den Friedensverhandlungen zwischen den Konfliktparteien zu festigen. Diese Bemühungen werden sowohl von vielen Experten als auch von der armenischen Regierung als erfolgreich angesehen.

Brüssel ist es gelungen, die Konfliktparteien dazu zu bewegen, die gegenseitige Anerkennung der territorialen Integrität zu akzeptieren. Ein wichtiger Schritt dabei war die Anerkennung von Berg-Karabach als Teil der Republik Aserbaidschan durch die Republik Armenien, was politisch erstmals am 6. Oktober 2022 im Rahmen des Prag-Treffens erreicht wurde und am 14. Mai 2023 im Rahmen von einem weiteren Brüssel-Treffen erneut bestätigt wurde. Damit hat die EU zumindest eine entscheidende Frage im Konflikt zwischen Jerewan und Baku - die Statusfrage von Berg-Karabach - aus dem Weg geräumt und konzentriert sich nun auf die Verbesserung der Beziehungen zwischen Armenien und Aserbaidschan, wobei Berg-Karabach zu Aserbaidschan gehören wird.

Um das demokratische Ansehen zu wahren, ist es für die EU von entscheidender Bedeutung, dass die Armenierinnen und Armenier in Berg-Karabach unter aserbaidschanischer Verwaltung weiterhin leben können. Aus diesem Grund vertritt Brüssel die Ansicht, dass die Armenier in der ehemaligen Autonomieregion Berg-Karabach von Aserbaidschan und die aserbaidschanische Regierung in einen Dialog treten sollten, um ein friedliches Zusammenleben zu gestalten. Dabei wird jedoch oft übersehen, dass die EU und mittlerweile auch die USA die zugrunde liegenden Ursachen des Konflikts weitgehend ignorieren, insbesondere die gewaltsamen Maßnahmen der aserbaidschanischen Regierung gegen die armenischen Bevölkerungsgruppen in verschiedenen aserbaidschanischen Ortschaften von 1988 bis 1991, die zur vollständigen Vertreibung der Armenier aus den Geburtsorten führten. Ebenso wird das Streben der Armenier in Berg-Karabach nach Unabhängigkeit, was auch das Kernthema des Konflikts war und stets im Fokus der OSZE-Minsk-Gruppe stand, ignoriert.

  • Substitution der Begriffe: Die Bedeutung der Hauptstädte

Damit die armenische Gesellschaft in Armenien sowie in Berg-Karabach den Vorschlag des Westens als eine Chance im Sinne der armenischen Interessen betrachtet, haben viele Politiker und Experten begonnen, den Ausdruck "die Armenier (oder armenische Bevölkerung) von Berg-Karabach von Aserbaidschan" durch "Stepanakert", die Hauptstadt von Berg-Karabach, zu ersetzen. Der Begriff "Hauptstadt" hat im politischen und internationalen Kontext mit der Führung und Verwaltung eines bestimmten Landes zu tun. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass Berg-Karabach weder von Brüssel noch von Baku anerkannt wird und besitzt auch keinen sogenannten "Übergangsstatus", die internationalen Verhandlungen ermöglichen würde. Daher kann kein Dialog zwischen Stepanakert und Baku stattfinden, und der Vorschlag der EU zielt eigentlich auf die beschleunigte "Reintegration" von Berg-Karabach in die aserbaidschanische Staatlichkeit ab.

  • Internationale Mechanismen

Ein weiteres Instrument für den erfolgreichen Dialog sind internationale Mechanismen, die nicht aus dem Nichts entstehen, sondern auf dem internationalen Recht basieren. Organisationen, Gremien oder Allianzen treffen auf dieser Grundlage Entscheidungen, schließen Vereinbarungen und ergreifen geeignete Maßnahmen, die auf den realen Kräfteverhältnissen der beteiligten Parteien beruhen.

Im Kontext der Lösung des Bergkarabach-Konflikts stellt die OSZE-Minsk-Gruppe einen solchen "internationalen Mechanismus" dar. Diese Gruppe hat Verhandlungen zur friedlichen Beilegung des Konflikts organisiert und geleitet, bei denen die Konfliktparteien aus völkerrechtlicher Sicht Jerewan und Baku waren. Die Minsk-Gruppe stützte sich hauptsächlich auf die UN-Sicherheitsratsresolutionen von 1993. Das Konzept für die Konfliktlösung wurde durch die von den Ko-Vorsitzenden der Minsk-Gruppe vorgeschlagenen Madrider Prinzipien entwickelt und durch zahlreiche Gipfeltreffen und Gespräche mit den Konfliktparteien weiter verfeinert.

Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass zweifelhafte Experten, Lobbyisten oder sogar seriöse Nichtregierungsorganisationen die "internationalen Mechanismen" nicht ersetzen können und sollten. Leider wird laut Berichten in der armenischen Presse versucht, solche Gespräche zwischen den Armeniern von Berg-Karabach und indirekten Vertretern der aserbaidschanischen Regierung in den USA und verschiedenen Orten im EU-Raum zu organisieren. Diese Initiativen zielen darauf ab, eine "Reintegration" von Berg-Karabach in Aserbaidschan zu erreichen und somit die endgültige "Beseitigung der Statusfrage" dieser Region herbeizuführen.

V. Schlussfolgerung

ie Erklärung vom 9. November 2020, die unter der Schirmherrschaft der Russischen Föderation zwischen Armenien und Aserbaidschan vor allem zur Beendigung des blutigen Krieges erreicht wurde, hatte auch eine geopolitische Dimension, obwohl diese nicht direkt im Inhalt erwähnt wird. Dabei geht es darum, die zentrale Frage des Konflikts, nämlich den Status von Berg-Karabach, zu bewahren, und dies selbstverständlich unter Berücksichtigung der Gebiete, die die armenische Seite im Verlauf des 44-Tage-Krieges verloren hat.

Es ist ebenfalls von Bedeutung anzumerken, dass Berg-Karabach trotz seiner völkerrechtlichen Einordnung als Teil der aserbaidschanischen Staatlichkeit einen umstrittenen Status innehat, bzw. zumindest zum Zeitpunkt vom 09. November 2020 innhatte. Die endgültige Entscheidung über diesen Status sollte unter der Schirmherrschaft der Ko-Vorsitzenden der Minsk-Gruppe der OSZE getroffen werden. Dies sollte auf der Grundlage grundlegender Völkerrechtsprinzipien erfolgen, darunter das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die territoriale Integrität und der Verzicht auf die Anwendung von Gewalt oder deren Androhung.

Trotz der schwierigen Lage sollte Jerewan sich darum bemühen, das Engagement der Ko-Vorsitz-Staaten der OSZE-Minsk-Gruppe wiederzubeleben, was meines Erachtens die bessere Möglichkeit zur Rettung von Berg-Karabach (Arzach) ist. Die armenische Diplomatie sollte daher eine klare, verständliche, aber sorgfältig durchdachte Strategie verfolgen und äußerst vorsichtig vorgehen, um internationale Partner zu überzeugen. Die Förderung der Normalisierung der Beziehungen zu Aserbaidschan, wie sie von der EU der Republik Armenien im Grunde genommen vorgeschlagen wird, birgt viele Risiken für die armenische Staatlichkeit.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden