Eröffnung der Transportwege im Südkaukasus: Möglichkeiten und Herausforderungen

Interesse der externen Akteure Dieser kurze Artikel wird insbesondere auf die Interessen Russlands eingehen, jedoch auch die Positionen der EU, der USA und des Irans beleuchten.

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Die Eröffnung von Transportwegen im Südlichen Kaukasus weckt Interessen bei verschiedenen Akteuren wie Russland, Iran, die Türkei, die USA und die EU. Jedoch verfolgen sie dabei individuelle Ziele, die sich mitunter voneinander unterscheiden und sogar in Konflikt miteinander stehen.

Abschnitt I: Die Rolle und Hauptinteressen der Russischen Föderation

Die Eröffnung von Transportwegen durch das Territorium Armeniens spielte und spielt nach wie vor eine entscheidende Rolle in der Strategie Russlands. Diese Maßnahme zielt darauf ab, verlässliche Handelsrouten für den Gütertransport zu schaffen und die geopolitische Präsenz Russlands in der Region zu festigen. Die damit verbundenen Handelswege haben vielversprechende Ziele für die Russische Föderation im Blick. Dazu gehören die Gewährleistung eines kontinuierlichen Handels mit der Türkei über die Aserbaidschan-Armenien-Route sowie der Aufbau wichtiger politischer und wirtschaftlicher Beziehungen zum Iran.

Auf Initiative Moskaus übertrug Armenien am 13. Februar 2008 für einen Zeitraum von 30 Jahren die Verwaltung von etwa 1.250 km Eisenbahnstrecken an die „Südkaukasischen Eisenbahnen“, welche die Tochtergesellschaft des staatlichen Unternehmens „Russische Eisenbahnen“ ist. Dieses Abkommen erwies sich als bedeutsamer Schritt, da die Eisenbahninfrastruktur Armeniens zu dieser Zeit mit ernsthaften Herausforderungen kämpfte und nicht in vollem Umfang funktionsfähig war.

Nur wenige Tage später, am 19. Februar 2008, fand die Wahl des dritten Präsidenten Armeniens statt.

Bereits im Jahr 1899 traf der erste Eisenbahnzug von Tiflis in Gjumri ein, also 109 Jahre vor den Ereignissen von 2008. Dies verdeutlicht, dass die Eisenbahnen in Armenien während der Zeit des Russischen Reiches etabliert wurden. Daraus ergibt sich, dass die Eisenbahninfrastruktur Armeniens tiefe historische Verbindungen zu Russland aufweist. In den letzten Jahren hat Russland Schätzungen zufolge ungefähr 600 Millionen US-Dollar in die armenische Eisenbahn investiert, um diese zu restaurieren und zu modernisieren. Dies geschah mit dem Ziel, die Verbindungen zu stärken und zu optimieren, den regionalen Handel profitabler zu gestalten und das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Damit unterstreicht Moskau, dass es in diesen Investitionen nicht nur wirtschaftliche Vorteile sieht, sondern auch eine geopolitische Strategie verfolgt.

Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass die Nutzung der "Armenischen Eisenbahn" allein auf dem Territorium Armeniens aus ökonomischer und politischer Sicht begrenzt ist. Es erscheint unwahrscheinlich, dass Russland in dieses Geschäft lediglich für den Personenverkehr von einem Punkt zum anderen innerhalb von Armenien investiert hat. Der Name des 2008 gegründeten Unternehmens, nämlich „Südkaukasische Eisenbahnen“ gibt klare Hinweise auf die geografischen Ambitionen Russlands.

Vermutlich erwartete die russische Seite, dass dieses Projekt die geopolitische Dynamik in der Region zugunsten Russlands verändern würde. Gleichzeitig sollte es die Position der armenischen Diplomatie stärken, insbesondere in den Verhandlungen zur Lösung der Berg-Karabach-Frage.

Natürlich traten bei der Durchführung von Projekten Herausforderungen auf. Ein Beispiel dafür war die Wiedereröffnung der in Sowjetzeit funktionierenden Eisenbahnstrecke von Armenien nach Russland über Abchasien, die entsprechenden Proteste in Tiflis auslöste. Dennoch hätte Armenien aufgrund seines eigenen starken Interesses an einer Eisenbahnverbindung mit seinem strategischen Verbündeten sein volles Potenzial ausschöpfen sollen, um Partner und Interessensgruppen zu überzeugen. Dies galt insbesondere für diejenigen, mit denen Moskau nicht direkt verhandeln konnte. Möglicherweise erwartete Moskau, dass Armenien Tiflis davon überzeugen könnte, einer Wiedereröffnung der Grenze zu Abchasien zuzustimmen. In diesem Zusammenhang könnten die armenische Diaspora in Georgien und Abchasien sowie in den Vereinigten Staaten, die über erhebliche Erfahrung in der politischen Aktivität verfügten, wertvoll und unterstützend wirken, insbesondere angesichts der damaligen Ausrichtung Georgiens.

Leider wurden derartige Initiativen nicht umgesetzt. Mit der Anerkennung der Unabhängigkeit von Abchasien und Südossetien durch Russland im Sommer 2008 wurde die Situation weiter verschärft. Gleichzeitig wurde die strategische Bedeutung der Region für Moskau erneut unterstrichen, und das Augenmerk richtete sich verstärkt auf das Potenzial für eine Zusammenarbeit zwischen Russland und den Ländern des Südkaukasus.

Im Rahmen der sogenannten südlichen Ausrichtung sollten die „Südkaukasischen Eisenbahnen“ eine Verbindung von Armenien nach Iran schaffen und somit zur Schaffung von Verkehrswegen beitragen, darunter auch der „Nord-Süd“-Route (Russland-Georgien-Armenien-Iran) und anderen Projekten. Geografisch gesehen war diese Route aufgrund ihrer Lage nur über Nachitschewan möglich, doch Baku lehnte diese Idee vor allem aufgrund der schwierigen Beziehungen zu Jerewan, bedingt durch den ungelösten Konflikt um Berg-Karabach, ab.

Um die Situation zu entschärfen und eine günstige Atmosphäre für die Lösung aller regionalen Widersprüche zu schaffen, unterzeichneten die Führer Armeniens und Aserbaidschans im November 2008 das Maindorf-Abkommen unter der Schirmherrschaft Russlands. Dieses Dokument verpflichtete die Parteien dazu, Stabilität und Sicherheit in der Region durch politische Einigung zu fördern. Dieser Schritt unterstreicht die Bedeutung einer friedlichen Konfliktlösung und die Absicht Moskaus, die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu den Ländern des Südkaukasus weiter auszubauen. Bemerkenswert ist, dass bis zum 9. November 2020 das Maindorf-Abkommen das einzige veröffentlichte Dokument war, das von den Führern Armeniens und Aserbaidschans unterzeichnet wurde.

In dieser Angelegenheit gelang es Jerewan jedoch nicht, die Zustimmung von Baku zu gewinnen. Dagegen eröffnete Baku am 30. Oktober 2017 die Eisenbahnstrecke Baku-Tiflis-Kars, was einen harten Wettbewerb in der Region zwischen den „Nord-Süd“- und „Ost-West“-Formaten verdeutlichte.

Obwohl viele Jahre seit Russlands Investitionen in das armenische Eisenbahnnetz vergangen sind, bleibt die Region im Wandel, und ihre geopolitische Dynamik entwickelt sich weiter. Die Wiedereröffnung der Transportlinien der Region und die konsequente Erweiterung der Südkaukasischen Eisenbahnverbindungen bleiben nach wie vor von zentraler Bedeutung für Russlands strategische Interessen in südwestlicher Richtung seines Landes. Dies kann durch die folgenden Faktoren erklärt werden:

A. Stärkung der Kontrolle und Ausweitung des Einflusses: In der ersten Phase trägt die Entwicklung dieser Verkehrswege dazu bei, dass Moskau seine Kontrolle über Armenien und Aserbaidschan stärken kann. Dies ermöglicht es Russland, die Effizienz seiner Beziehungen zu Iran und der Türkei zu steigern, indem der Transport von Gütern und Ressourcen erleichtert wird. Diese Routen stärken Russlands Position in der Region und erleichtern zuverlässige Partnerschaften.

B. Verringerung der Bedeutung Georgiens: In einem nächsten Schritt zielt die Strategie zur Entwicklung der Verkehrswege darauf ab, die geopolitische Bedeutung Georgiens im „Ost-West“-Format erheblich zu reduzieren. Da Georgien als eine Art „Brücke“ zwischen dem kollektiven Westen und der Region fungiert, versucht Russland, diese Verbindung zu schwächen und den Einfluss Georgiens auf die regionale Dynamik zu mindern. Dies ebnet auch den Weg für Russland, in Zukunft einen stärkeren Einfluss auf Georgien auszuüben. Durch die Begrenzung oder sogar Reduzierung der Ost-West-Transportkapazität Georgiens wird Russland auch in der Lage sein, sowohl die politischen als auch wirtschaftlichen Einflüsse Aserbaidschans auf den kollektiven Westen zu minimieren.

Allerdings, hat sich die Bedeutung der sogenannten vermittelnden Rolle der „Baku-Tiflis-Route“ seit den Ereignissen am 24. Februar 2022 exponentiell gesteigert. Einerseits dürfen die aktuellen westlichen Sanktionen gegen Russland höchstwahrscheinlich Auswirkungen auf die russischen Gaslieferungen nach Europa über Aserbaidschan und Georgien haben und könnten daher die Umsetzung dieser Pläne verzögern, da die Gasleitung von Aserbaidschan nach Europa über Georgien gelegt ist. Anderseits wird diese Situation durch die Erkenntnis gestützt, dass die Bedeutung Aserbaidschans für den Westen weit über seine Energieressourcen hinausgeht; Aserbaidschan spielt eine Schlüsselrolle als Transitpartner und erleichtert den Transport von Energieressourcen von Zentralasien nach Europa.

Von geopolitischer Sicherheitsperspektive aus betrachtet, ist es für Moskau von entscheidender Bedeutung, dass die Kontrolle über diese Routen, insbesondere jene, die durch das Territorium Armeniens führen, in den Händen russischer Staatsorgane, einschließlich Grenzschutzbehörden, verbleibt. Daher ist es von großer Wichtigkeit, die Präsenz Russlands im Südkaukasus zu stärken.

Seit dem 30. September 1992 ist Russland gemäß einem Vertrag verpflichtet, die äußere Sicherheit Armeniens zu gewährleisten und den Schutz seiner Grenzen zur Türkei und zum Iran sicherzustellen. Diese Verpflichtungen basieren auf zwischenstaatlichen Abkommen, die während der UdSSR-Ära abgeschlossen wurden, sowie dem Gesetz „Über die Staatsgrenze der UdSSR“. Die Gewährleistung der Sicherheit eigener Grenzen zu Georgien und Aserbaidschan war die Aufgabe Armeniens. Allerdings hat Armenien seit Ende 2020 Schwierigkeiten, seine Grenze zu Aserbaidschan zu sichern, was zur Entsendung zusätzlicher russischer Grenztruppen geführt hat. Diese konnten aber aus der Sicht der armenischen Regierung eigene Aufgaben nicht erfüllen, daher wird seit Mitte Oktober 2022 die armenisch-aserbaidschanische Grenzlinie durch die EU-Polizeizivilmission beobachtet.

Gemäß der Waffenruhe vom November 2020 hat sich Russland auch dazu verpflichtet, die Sicherheit der armenischen Bevölkerung in Berg-Karabach zu gewährleisten. Hierbei ist zu betonen, dass während das offizielle Jerewan die Sicherheit der armenischen Bevölkerung in Berg-Karabach bis zur endgültigen Beilegung des Konflikts gewährleisten sollte, garantiert Russland lediglich das Fortbestehen armenischer Bevölkerung in der Region: Die Frage der internationalen Anerkennung von Berg-Karabach steht jedoch zum jetzigen Zeitpunkt nicht im Fokus von Moskau.

All diese Maßnahmen Russlands unterstreichen weiterhin die tiefgehenden strategischen Interessen des Kremls im Südkaukasus, die sowohl rein wirtschaftliche als auch sicherheitspolitische Aspekte der Region umfassen.

Es ist von Bedeutung zu erwähnen, dass die anhaltenden diplomatischen Misserfolge Armeniens in Bezug auf regionale Projekte und Initiativen seit 2008, und vor allem die neugestaltete westlich orientierte Außenpolitik des Landes seit 2018 und die deutliche Niederlage im zweiten Berg-Karabach-Krieg 2020 die Position Russlands in der Region spürbar gestärkt haben, während Armenien gleichzeitig in dieser Region erheblich an Einfluss verloren hat. Dies schafft zusätzliche Herausforderungen für die Umsetzung russischer Projekte.

Abschnitt II: Die Hauptaufgaben und Interessen des kollektiven Westens im Südkaukasus

Die Errichtung einer Landverkehrsverbindung zwischen der Türkei und Aserbaidschan über das Gebiet Armeniens ergibt sich unmittelbar aus den geopolitischen Strategien des Westens. Dies liegt daran, dass die Türkei als NATO-Mitglied direkten Zugang zu Armenien, einem strategischen Verbündeten Russlands in dieser Region, erhält. Dies wiederum stärkt die Position der NATO im Südkaukasus. Dieses Szenario steht nicht nur im Gegensatz zu den Interessen Russlands, sondern auch des Irans.

Die Präsenz russischer Truppen in Armenien und seit 2020 auch in Berg-Karabach stellt eine Herausforderung für die Umsetzung der Pläne des Westens dar. In der nächsten Phase wird der kollektive Westen zweifellos versuchen, die russischen Südkaukasus-Eisenbahnen und das russische Militär aus Armenien zu verdrängen. Dieser Ansatz zielt darauf ab, die russische Kontrolle über regionale Straßen und die Grenzen zwischen Armenien und dem Iran sowie Armenien und der Türkei auszuschließen.

Dies wird einen Wettlauf zwischen Moskau und dem Westen um die Versöhnung von Jerewan und Baku auslösen, wobei der Westen Jerewan kurzfristig bessere Perspektiven bieten kann als Russland. Es ist jedoch wichtig zu betonen: Nur die kurzfristigen Aussichten des Westens bergen für Armenien erhebliche Gefahren, während mittel- und langfristig betrachtet diese Perspektiven äußerst riskant für Armenien sein können.

Der Westen wird auf vielfältige Weise versuchen, Jerewan zu überzeugen:

  1. zunächst einen Friedensvertrag mit Aserbaidschan zu unterzeichnen und dann
  2. Abkommen mit der Türkei über die armenisch-türkischen Beziehungen zu treffen.

Dabei spielen die vitalen nationalen Interessen des armenischen Volkes für den Westen keine entscheidende Rolle.

Ihre endgültige Lösung entspricht jedoch nicht nur den Interessen Jerewans, sondern auch Russlands. Moskau plant, sein militärischer Präsenz im Südkaukasus zu verstärken, was sich als strategische Herausforderung für den kollektiven Westen in dieser Region erweisen könnte.

In der gegenwärtigen historischen und politischen Phase können die Beziehungen zwischen Jerewan, der Türkei und Baku als "erzwungen" betrachtet werden und basieren auf finanzieller und ideologischer Unterstützung des Westens. Die künstlich beschleunigten sogenannten Verbesserungen dieser Beziehungen wird nicht nur den Interessen Jerewans, sondern auch Russlands widersprechen.

Abschnitt III: Iran - Geopolitische Risiken und Überlegungen

Die Aktivitäten westlicher Länder zur "Entsperrung" der Verkehrswege in der Region und zur deren weiteren Integration in westliche Strukturen, insbesondere in Armenien, bringen zusätzliche Risiken für Teheran mit sich. Dies führt zu einer vorsichtigen, aber aktiven Politik seitens der iranischen Führung in Bezug auf die Region. Der Iran wird versuchen, seine nördlichen Nachbarn, insbesondere Jerewan, dazu zu ermutigen, behutsam vorzugehen, wenn es darum geht, dem kollektiven Westen zusätzlichen politischen Einfluss in der Region zu gewähren. Sollten diese Bemühungen nicht ausreichen, um die Lage zugunsten Irans zu beeinflussen, könnte das Land als letztes Mittel auf militärische Maßnahmen zurückgreifen.

Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass der Iran bei seinen Entscheidungen stets die Interessen Moskaus und Ankaras berücksichtigen wird, weil er im Falle einer weiteren Verschärfung der Lage oder einer Eskalation westlicher Maßnahmen mindestens die politische Unterstützung einer oder beider dieser Parteien benötigen wird. In diesem Zusammenhang gewinnt die Rolle Moskaus in Teheran an Bedeutung, und ebenso spielt die Rolle Teherans für Moskau eine entscheidende Rolle. Beide Hauptstädte entwickeln sich zu natürlichen Verbündeten, sowohl in der Region als auch darüber hinaus. Die Früchte dieser Zusammenarbeit sind auch in Bezug auf den Krieg in der Ukraine zu erkennen. Dieses Thema erfordert aber eine separate Betrachtung außerhalb dieses Artikels.

Abschnitt IV. Wichtigste Erkenntnisse und Perspektiven

Im gegenwärtigen historischen Stadium ist deutlich erkennbar, dass sich für das armenische Volk eine äußerst schwierige Lage entwickelt hat, die auf mehreren entscheidenden Faktoren beruht:

Erstens: Trotz des bewaffneten Konflikts mit Aserbaidschan im Jahr 2020 hat Armenien die Gebiete von Berg-Karabach nicht als unabhängige Einheit anerkannt, was die Möglichkeit einschränkt, die von Aserbaidschan eroberten Gebiete von Berg-Karabach als „besetzt“ zu bezeichnen. Darüber hinaus hat Armenien in der Nachkriegszeit zunächst seine territorialen Ansprüche in Bezug auf Berg-Karabach „herabgesetzt“ und seit Oktober 2022 wiederholt seine Bereitschaft erklärt, das gesamte Gebiet von Berg-Karabach als Teil Aserbaidschans anzuerkennen.

Zweitens: Das Fehlen einer militärpolitischen Präsenz Armeniens in Berg-Karabach nach dem Krieg von 2020 hat zu einer Diskrepanz zwischen der langjährigen Verhandlungsdauer zur Lösung des Konflikts um Berg-Karabach und den raschen – für armenische Seite äußert negativen - Veränderungen geführt.

Drittens: Die Bereitschaft von Jerewan, Straßen für feindliche Staaten zu öffnen, mit denen keine diplomatischen Beziehungen bestehen, stellt zusätzliche Herausforderungen bzw. Gefahren dar. Auf der einen Seite steht die Türkei, die als Nachfolgerin des Reiches, das den Völkermord an den Armeniern begangen hat und bisher den Völkermord nicht anerkennt, am Krieg 2020 teilgenommen hat. Auf der anderen Seite steht Aserbaidschan, das sich im Krieg mit Armenien befindet und eine Politik des Antagonismus gegenüber dem armenischen Volk verfolgt. Dies alles stellt die Sicherheit und Stabilität der Region in Frage und kann potenziell tödliche Risiken für den armenischen Staat mit sich bringt.

Der vierte Faktor betrifft den Wunsch des kollektiven Westens, der Türkei die Rolle eines „Regionalsheriffs“ im Südkaukasus zu übertragen. Trotz der komplexen Beziehungen zwischen westlichen Ländern und der Türkei bleibt die Türkei der wahrscheinlichste oder sogar der einzige Kandidat für diese Rolle. Eine stärkere Einbindung Ankaras als „Sheriff“ des Westens würde den Interessen Moskaus in der Region entgegenstehen und von Teheran als Bedrohung wahrgenommen werden.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es kein Land gibt, das bereit wäre, Armenien bei der Umsetzung von Projekten, die aus armenischen nationalen Interessen resultieren, zu unterstützen. Die von internationalen Partnern nach dem 9. November 2020 vorgelegten Vorschläge ändern sich je nach geopolitischer Lage und entsprechen nicht zwangsläufig den Interessen Armeniens.

Infolgedessen steht das armenische Volk vor großen Herausforderungen und muss in einer instabilen Region für seine Interessen kämpfen. In diesem unsicheren Umfeld sollte Jerewan:

a) wachsam bleiben und schriftliche Vereinbarungen, vor allem in Bezug auf Berg-Karabach, während der Verhandlungen vermeiden,

b) interne Ressourcen mobilisieren, um ihre Interessen möglichst auf diplomatischem Wege durchzusetzen, da Baku und Ankara erneut auf den Einsatz militärischer Gewalt zurückgreifen könnten, wie es im Herbst 2020 der Fall war.

Für die Erhöhung der Effizienz eigener Außenpolitik sollte Jerewan auch die Ressourcen der armenischen Diaspora mobilisieren, insbesondere in Ländern wie den USA, Frankreich und Russland.

Baku und Ankara sind sich bewusst, dass sich diese instabile und unvorhersehbare Situation nach dem Ende der aktiven Feindseligkeiten, die am 24. Februar 2022 in den Gebieten nördlich des Schwarzen Meeres begonnen haben, ändern kann. Mit aktiver diplomatischer Unterstützung des Westens, der hier in erster Linie gegen den Einfluss Russlands kämpft, könnten sie ihre Interessen in dieser Region weiter vorantreiben. Angesichts der zumindest einigermaßen erfolgreichen Beendigung des Krieges in der Ukraine könnte Moskau seine Präsenz in der Region verstärken und in enger Zusammenarbeit mit Teheran selbstbewusster und entschlossener handeln.

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