Konzeptkunst Sarkis beschäftigt sich in seinen Arbeiten mit den Kriegen und Genoziden des 20. Jahrhunderts. Auch seine neue Einzelaustellung in der Kunsthalle in Baden-Baden hat die verschiedenen Formen des Erinnerns zum Thema
In der Serie „7 Nuits“ (2016) geht es um die Erinnerungen an einen Traum
Fotos: Stefan Altenburger Photography Zürich. Courtesy of Staatliche Kunsthalle Baden-Baden2023
Nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss“, schreibt Friedrich Nietzsche in seiner Genealogie der Moral. Er begreift den Schmerz als einen der urtümlichsten Mechanismen des Erinnerns. Die künstlerische Praxis von Sarkis besteht aus Erinnern. Für die angesammelten persönlichen wie kollektiven Erinnerungen sucht er nach einer Form. Die Einzelaustellung 7 Tage, 7 Nächte in der Kunsthalle in Baden-Baden präsentiert die Suche des türkisch-armenischen Künstlers, der 1938 in Istanbul geboren wurde und seit 1964 in Frankreich lebt, über neun Räume hinweg.
Manche Erinnerungen entgehen dem Wachbewusstsein und zeigen sich einem im Schlaf – wenn auch verschlüsselt. In der Serie 7 Nuits (2016) legt er eine Anord
Nuits (2016) legt er eine Anordnung fest. Über sieben Nächte hinweg malt er einen Eindruck des Traums. Jede Nacht besteht aus drei Komponenten: einem kleinen Foto, einer bemalten Leinwand in einem ähnlichen Format und einem großen Foto. Das Motiv des großen Fotos wiederholt sich bis auf ein Detail. Es zeigt einen Schlafsack auf dem Boden des Pariser Ateliers des Künstlers, daneben so was wie einen gläsernen Schrein mit einer Art Jesuskind. Was sich ändert, sind die beiden Bilder neben dem Schlafsack: ein kleines Foto und ein Miniaturgemälde. Die Originale dieser Abbildungen sind neben dem großen Foto installiert.Eine der sieben Nächte besteht aus einem Minigemälde, auf dem eine Seite des Romans Jakob von Gunten von Robert Walser eingearbeitet ist. Das Blatt hat das Öl der dick aufgetragenen schlammgrünen Farbe aufgesogen und ist transparent geworden.Auf dem Pendantfoto sind Bücher und Magazine auf ein niedriges und mit Teppich überzogenes Möbelstück gestapelt. Es erinnert an eine Ottomane, wie sie Sigmund Freud für seine „Redekur“ nutzte. Das Möbel und der Roman erzählen von Prozessen der Traumerinnerung. Der Ich-Erzähler Jakob von Gunten, der seine Träume in einem Tagebuch festhält, und die Patient*in, die ihre Träume auf der Analysecoach ausbreitet.Die Pogrome von SmyrnaDas Gedächtnis ist wie ein Bildspeicher. Die Traumarbeit besteht darin, die Bedeutungen bisweilen unzugänglicher Bilder zu entziffern. Manche Elemente der 7 Nuits lassen sich, selbst wenn sie kein Traum sind, wie Traummotive ausdeuten. Wie beispielsweise der erwähnte Teppich, der an den Smyrnateppich auf der Ottomane in der Praxis von Freud denken lässt. Im 19. Jahrhundert war Smyrna, das heutige Izmir, der bedeutendste Umschlagplatz für Teppiche. Freuds erste Analysecouch, bestehend aus der Ottomane und dem Smyrnateppich, ist so etwas wie ein türkisches Möbelstück mit den Exotismen der Zeit. Smyrna ist jedoch auch ein Ort der Kriegsverbrechen. Die Stadt wurde im September 1922 von türkischen Truppen eingenommen, die griechischen und armenischen Stadtviertel wurden von türkischen Söldnern in Brand gesetzt und es kam zu Pogromen gegen die Zivilbevölkerung. Bahnt sich hier eine traumatische Erinnerung ihren Weg ins Bewusstsein?In Sarkis’ Erinnerungsarbeit verschränken sich individuelles und soziales Gedächtnis. Aby Warburgs Gedächtnistheorie, die sich an die Theorien des französischen Soziologen Émile Durkheim anlehnt, begreift das soziale Gedächtnis nicht als einen unbestimmten Ort des kollektiven Unbewussten, sondern als „Verwaltung eines geistigen Erbes“. Kunstwerke fungieren in diesem Sinne als Archivalien der menschlichen Leidenserfahrungen. Aby Warburg ist für Sarkis eine wichtige und bleibende Bezugsfigur. Dessen Begriff der Pathosformel umfasst den visuellen Bestand an Motiven und Gesten, in denen sich Emotionen und Leidenschaften vor Jahrhunderten gespeichert haben. Auch für Sarkis ist das persönliche und kollektive Leid in bestehende Bilder eingebettet. Ein Beispiel für historische Bildformeln, die sich in der Gegenwart aktualisieren, wäre seine Glasarbeit Vitraux histoires contemporaines – Les mères de samedi 700e semaine, 25 août 2018, à partir d’une photo de Vedat Arık von 2020, die an Kirchenfenster mit ihren Bleigruppen erinnert.Ausgangspunkt der Arbeit ist ein Pressefoto der Tageszeitung Cumhuriyet vom 25. August 2018. Das Bild zeigt eine Menschenmenge bei einer Sitzblockade, die geschlossen ihre Körper einsetzt, um eine Person zu schützen.Die biblisch anmutende Szene wie aus einem Renaissancegemälde zeigt den Widerstand gegen die Verhaftung von Arat Dink, dem Sohn des 2007 ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink. An diesem Moment des zivilen Ungehorsams beteiligen sich Abgeordnete der linksgerichteten Partei HDP wie Serpil Kemalbay, Hüda Kaya, Garo Paylan und Ahmet Şık. Sie alle gingen an diesem Tag auf die Straße, um ihre Solidarität mit der Organisation der Samstagsmütter (Cumartesi Anneleri) zu bekunden. Seit 1995 versammeln sich die Frauen wöchentlich auf dem Galatasaray-Platz in Istanbul, um an ihre in Polizeihaft verschwundenen Söhne zu erinnern. Obwohl das Innenministerium diese wöchentlichen Proteste am 25. August 2018 – der 700. Woche – verboten hat, ließen sich die Menschen nicht entmutigen. Arat Dink wird beschützt, um zu verhindern, dass er ein weiteres Opfer der Staatsgewalt wird.Dieses Werk setzt Sarkis an derselben Wand in Dialog mit einer T-förmigen Glasarbeit aus sechs rechteckigen Kästen von 2017, dem 81 – Retable 6 images. In ähnlicher Technik halten auch hier Bleiruten die Glasflächen zusammen. Die Vorlage ist diesmal ein Fotonegativ des abfotografierten Altars. Sarkis, der sich in seinem Werk intensiv mit dem Isenheimer Altar von Matthias Grünewald aus dem Jahr 1516 auseinandergesetzt hat, greift hier Fragmente von Jesus Christus aus der Kreuzigungstafel auf: Hände, Kopf, Brustkorb, Lendentuch und Füße. Trotz dieser Verfremdung bleiben die besonderen Merkmale dieses Kreuzigungsbildes erhalten oder werden vielleicht gerade dadurch verstärkt. Grünewalds Jesus zeigt die Zeichen der Folter, die Wunden, das Blut, die Verfärbung der Haut in schockierend brutaler Deutlichkeit. Der Gekreuzigte befindet sich noch im Sterben. Unter der unermesslichen Qual sind seine Augenbrauen zusammengezogen, seine Lippen blau verfärbt, die Nägel in Händen und Füßen verkrampfen seine Glieder. Den riesenhaften Christus des Isenheimer Altars, zu dem man aufschaut, hat Sarkis verkleinert und auf Augenhöhe gebracht. Das Bild ist mit fingergroßen roten Abdrücken übersät, als suche der Künstler den haptischen Kontakt mit dem Bild. Arat Dink und Jesus Christus sind zwei leidende Söhne.In seiner beeindruckenden künstlerischen Laufbahn nahm Sarkis an vielen bedeutenden Ausstellungen teil, 1969 war er in der Kunsthalle Bern in der von Harald Szeemann kuratierten Gruppenausstellung Live In Your Head: When Attitudes Become Form, 1977 wurde er auf der 6. documenta ausgestellt und 2015 bespielte er den türkischen Pavillon auf der Venedig Biennale. 2015 jährte sich der Genozid des Osmanischen Imperiums an den Armenier*innen zum hundertsten Mal. Im Pavillon einer Nation vertreten zu sein, die den Genozid leugnet und das Sprechen darüber bestraft, ist aus künstlerischer Sicht eine besonders schwere Ausgangssituation. Sarkis erinnert in Venedig an den Genozid, aber auch an Hrant Dinks unerschrockene historische Aufklärungsarbeit von Istanbul aus. Gegen den Herausgeber der armenisch-türkischen Wochenzeitung Agos startete eine Hasskampagne, weil er den Völkermord an den Armenier*innen beim Namen nannte und unter anderem aufdeckte, dass Sabiha Gökçen, die Adoptivtochter Atatürks, armenisch war und als Kind aus einem Waisenhaus entführt wurde. Der Hass führte 2007 zu Hrant Dinks Ermordung.In Baden-Baden ist eine jüngere Arbeit von Sarkis ausstellt, die Hrant Dinks gedenkt. L’Horloge de Hrant Dink (2020) ist eine Uhr, deren Körper das Buch der Istanbuler Journalistin Tûba Çandar bildet. Diese Biografie, auf deren Cover eine zärtliche Nahaufnahme von Hrant Dink abgebildet ist, erschien 2010 und setzt sich aus mehr als 125 Interviews zusammen, die sie mit seiner Familie und Weggefährten führte. Sarkis’ Uhr war als Mahnmal vor dem Redaktionsbüro von Agos – also dem Tatort – gedacht. Nun tickt sie in einem Ausstellungsraum.Der Satz „Der Leidschatz der Menschheit wird humaner Besitz“ – und da besonders der Begriff „Leidschatz“ – von Aby Warburg verändert gänzlich Sarkis’ Perspektive auf Erinnerung. „Bei diesem Begriff hatte ich plötzlich das Gefühl, dass ich auf die innere Anhäufung von Erinnerungen und dem damit verbundenen Leid gestoßen bin, etwas, das sich in mir aufgestaut hat“, stellt er fest. „Aber um sich anzusammeln, muss etwas eine Form annehmen“, so Sarkis weiter, „muss eine Form geschaffen werden, damit eine Erinnerung und damit ein Schatz entstehen kann“. Er merkt, dass die schmerzhafte Erinnerung an das Leid eine Ressource ist.Mit seiner Arbeit überführt Sarkis den Leidschatz in humanen Besitz. Erinnerungen werden also nicht als Dokumente in ein Archiv abgelegt, sondern sie werden reflektiert, durchlebt und am Leben erhalten.
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