BRD ausdünnen!

Ausstellungen Unsere Museen müssen dringend Platz für die Kunst der DDR schaffen
Ausgabe 24/2020

In den Corona-Wochen war die Wohnung plötzlich ein Reich. Mir fast ein wenig zu spießig, der Blick nach schief liegenden Tagesdecken. Und am Küchentisch bei den verlängerten Frühstücksgesprächen der Blick auf Harenbergs Kunst-Kalender. In der Zeit bis zur ersten Telefonkonferenz. Der Kunst-Kalender, den ich seit zehn, zwölf Jahren auf dem Küchentisch zu stehen habe, gab den Anstoß. Sechs Mal die Woche ein neues Blatt, mit Text über einen Künstler und sein Werk auf der Rückseite, rund 300-mal im Jahr. Wenn in der Ausgabe für dieses Jahr fünf oder sechs dabei sind, die aus der Ex-DDR stammen, sind das viele. Ich habe keine Strichliste geführt, aber durchgeschaut. Zuletzt, eine Woche nach seinem Sechzigsten, war Neo Rauch vertreten.

Als Hauptakteur der Neuen Leipziger Schule ist Neo Rauch sicher am wenigsten ein Künstler aus der DDR, schon weil er sein Frühwerk aus der Diplomzeit offiziell gar nicht gelten lässt. Ich meine die Generation davor: zwischen Harald Metzkes (Jahrgang 1929), Heidrun Hegewald (Jahrgang 1936), Sighard Gille (1941) und den Künstlern der Neuen Leipziger Schule ab Neo Rauch (Jahrgang 1960) und jünger. Ich meine die, die 1990 mit der Wiedervereinigung noch einmal durchstarten wollten. Fünf oder sechs Ost-Künstler in Harenbergs Kunst-Kalender im dreißigsten Jahr der deutschen Einheit – ist das wahr? Ja, ist es. Und sicher nicht einmal böse Absicht, Schikane oder fortgesetzte Demontage. Nein. Die Kalender-Redakteure kennen sie nicht, ihre digitalen Bildarchive führen sie nicht. Was soll anderes herauskommen als ein schiefes Ost-West-Bild, in dem der Westen noch dreißig Jahre danach der Sieger ist. Sieger im Kalender. Nein, nicht nur da.

Wir gehen dem Jubiläum der deutschen Einheit entgegen. Wie weit haben wir es mit ihr gebracht? Zum Beispiel in den deutschen Kunstmuseen. Ob’s da die Wende an den Wänden gegeben hat? Nö. Die Dauerausstellungen sehen von Kiel bis Konstanz nicht sehr vereinigt aus. Man hat nicht viel Ost-Kunst, die man hängen könnte: keine Bilder von Metzkes, Ebersbach I (Hartwig) und Ebersbach II (Wolfram), Gille, Hachulla, Ziegler, Friedel, Grimmling ... Wahrscheinlich deshalb geht mir seit Tagen ein Begriff durch den Kopf, den mir ein Essay der US-amerikanischen Kunsthistorikerin und Kuratorin Julia Pelta Feldman zugespielt hat: entsammeln. Es ginge – nach ihrem Vorschlag – um Verkäufe (oder andere Formen der Rückübereignung) von Bildern aus öffentlichen Sammlungen, um von dem Erlös Werke von marginalisierten Künstlern zu erwerben. Das Ganze unter der Überschrift „Restitution von Bedeutsamkeit“. – Ob der Vorschlag realisierbar ist, weiß ich so schnell nicht, aber der Anstoß zu einem wichtigen, zwingend notwendigen Gedankenspiel ist er allemal. Die Vordenkerin bringt ihre Erfahrungen aus Museen in den USA ein und versteht unter marginalisierten Gruppen vor allem Frauen, Schwarze und Vertreter indigener Minderheiten. Ich verstehe mit meinem deutsch-deutschen Erfahrungshintergrund unter marginalisierten Gruppen auch ostdeutsche Künstler und Künstlerinnen. Mein Gedankenmodell hieße: Entsammeln mit dem Ziel der Restitution von Bedeutsamkeit für ostdeutsche Künstler.

Kiefer, Uecker, Lüpertz usw.

Solange die großen westdeutschen Museen ihre Räume in der Abteilung Gegenwart reserviert haben für ihre Baselitzens, Richters I (Gerhard) und Richters II (Daniel), Immendorffs, Kiefers, Ueckers, Lüpertzens usw., so lange gibt es keinen Platz. Uns antworten die DirektorInnen westdeutscher Kunsthallen und -tempel der Wahrheit gemäß: Die Kunst aus dem deutschen Osten kann bei uns nur einziehen, wenn die Wände den Platz hergeben. Da muss erst die Mauer fallen, um den Saal zu vergrößern. Aber, Vorsicht, wäre die Mauer gefallen und Platz vorhanden, würden sie sagen: Wir haben keine Bilder von „drüben“. Also zum nachholenden Sammeln: Entsammeln! Verkauft die Dubletten, Varianten und Schwachbilder und dann wie weiland der westdeutsche Sammler Peter Ludwig auf in die Ateliers ostdeutscher Künstler und kaufen. Ludwig tat es vor fünfzig Jahren und ist lange tot.

Zugegeben, die Sache ist kompliziert: Erst gibt es keinen Platz, dann gibt es keine Bilder. Und noch etwas gibt es nicht: Kenntnis von der Materie. Alfred Weidinger, Ex-Chef des Leipziger Museums, sprach es 2017 aus: Seine fünf Kuratoren haben alle eine West-Biografie. Im Osten Deutschlands – von Schwerin über Potsdam, Halle, Leipzig, Cottbus bis nach Dresden – hat’s in den letzten fünf Jahren ein paar redliche Versuche gegeben, die Künstler aus der untergegangenen DDR auszustellen. Aber über die alte deutsch-deutsche Teilungslinie ist wohl nur einmal etwas im großen Stil hinausgegangen. Als im Vorjahr im Kunstpalast Düsseldorf dreißig Jahre nach dem Mauerfall Kunst in der DDR (Utopie und Untergang) gezeigt wurde. In diesem Schneckengang kommen ostdeutsche Künstlerinnen und Künstler nie zu Bedeutsamkeit. Bedeutsamkeit ist ein kostbares Gut. Mit dieser Währung wird der Platz an den Wänden bezahlt. Wer keine ausreichende Bedeutsamkeit besitzt, für den gibt’s keinen Platz an den Wänden. Die Katze beißt sich in den Schwanz.

Warum ich nicht mit fliegenden Fahnen zum Thema „Entsammeln“ überlaufe, liegt an einer persönlichen Erfahrung, nämlich dieser: Ich hatte in den 1980er Jahren begonnen, ein wenig Kunst zu sammeln – privat, aufs Wohnzimmer begrenzt. Dazu gehörte auch ein Bild des Leipzigers Lutz Friedel. Ich wollte ein zweites, ein bestimmtes, sehr schönes. Die Kunsthalle in Rostock besaß es. Das Bild mit dem Titel Schmetterlingsfänger. Als Friedel 1984 die DDR mit Ausreisevisum in Richtung Frankfurt am Main verlassen hatte, verschwand das Bild aus der ständigen Sammlung. Ich fasste mir ein Herz und meldete mich beim Direktor der Kunsthalle an und fragte, ob ich das Friedel-Bild privat kaufen könne, jetzt, wo er es ja wohl nicht mehr ausstellen werde. Seine Antwort war deutlich: Er dürfe unter keinen Umständen Werke aus dem Museumsbesitz verkaufen. – Recht hat er gehabt, die DDR gibt es nicht mehr und Friedel ist inzwischen ein Maler des wiedervereinigten Deutschland. Von ihm Bilder zu besitzen, sieht aktuell manches öffentliche Museum mit wachsendem Stolz, auch die Rostocker Kunsthalle, wo es inzwischen wieder gezeigt worden ist. So gesehen war es gut, dass es Mitte der 1980er Jahre nicht „entsammelt“ wurde. – Mein Beispiel widerlegt nicht den Gedanken, zum Zwecke der Restitution von Bedeutung über „Entsammeln“ nachzudenken. Manchmal bestätigen erst Ausnahmen die Regel. Man wird abwägen müssen.

Wie zwingend aber die Restitution von Bedeutung für ostdeutsche Künstler und Künstlerinnen ansteht, zeigt das Beispiel des Leipziger Malers Sighard Gille: geboren in der sächsischen Provinz, von Bernhard Heisig an die Leipziger Kunsthochschule geholt, dort Professor geworden und bis zur Emeritierung 2007 Leiter einer der beiden Malklassen.

Ein Traum von Koexistenz

Zu seinem Fünfundsiebzigsten widmete ihm das Museum der bildenden Künste in Leipzig eine große Retrospektive. Er ist der Maler des Wandbildes vom Gewandhaus in Leipzig, Abend für Abend in Leipzig im Licht der Scheinwerfer ein Schaufenster moderner Malerei. Seine Bild-Plastik-Installation Gesellschaft mit Wächter wurde 1982 wegen des Wächters nicht zur DDR-Kunstausstellung zugelassen, im selben Jahr Nationalpreis 3. Klasse für das Deckengemälde im Gewandhaus. Er war weder Staats- noch Untergrundkünstler in der DDR. Er war (und ist) nur einfach mit seiner ruhelosen Farb- und Formlust ein großer deutscher Maler, mal unter den Farbexplosionen mehr figürlich, mal mehr abstrakt. Mehr Bedeutung geht für einen ostdeutschen Maler seiner Generation kaum. Trotzdem setzte eine große deutsche Wochenzeitung ein großes Porträt über ihn unter den Titel Der Schattenmaler. Als könne Gille etwas dafür, dass er im Schatten von Baselitz, Immendorff, Lüpertz & Co. steht und malt! Dafür können eher andere etwas, die als DirektorInnen, KuratorInnen und KritikerInnen Kunst befördern oder eben nicht befördern.

In der Corona-Zeit konnte es sein, dass ich taggeträumt habe. Nicht nur vom Ende aller Corona-Beschränkungen, auch von ständigen Ausstellungen, in denen Werke west- und ostdeutscher Künstler friedlich nebeneinanderhängen, weil sie eine ähnliche Biografie, eine ähnliche Bildstilistik haben oder einen scharfen Kontrast entstehen lassen. Aber dazu darf es nicht überall die (oft durch Schenkungen entstandenen) Baselitz- und Richter- und Immendorff-Säle geben, die wie im Grimm’schen Märchen von Hase und Igel noch dreißig Jahre danach sagen: Ick bün all hier!

Michael Hametner schrieb im Freitag zuletzt über den Streit um den Dichter Jörg Bernig

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