Am 3. Oktober haben wir das 30-jährige Jubiläum der deutschen Einheit gefeiert. Zum ersten Mal mit deutlich mehr kritischen Nebensätzen. Naika Foroutan und Jana Hensel, die Eine anerkannte Migrationsforscherin, die Andere seit ihrem Debüt 2002 mit Zonenkinder eine Erklärerin der Ostdeutschen, legen jetzt ein Buch vor, in dem sie über die unbefriedigende Aufnahme der Ostdeutschen wie der Migranten sprechen. Die Gesellschaft der Anderen heißt es und ist gerade im Aufbau-Verlag erschienen.
Die Gesellschaft der Anderen – das ist jene, die entsteht, wenn Ostdeutsche und Migranten zusammengedacht werden. 25 Prozent Menschen mit ostdeutschen Biografien, 25 Prozent mit migrantischen Familienbiografien – zusammen bilden sie rund 50 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen. Zusammendenken kann man sie, denn beide Bevölkerungsgruppen sind verbunden durch eine Vermögensverteilung zu ihren Ungunsten, durch fehlende oder kaum gegebene Elitenrepräsentanz, damit auch durch fehlende Teilhabe an Demokratie und Diskurs. Das besitzt alles die Mehrheitsgesellschaft. Naika Foroutan ist als Leiterin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung eine ausgewiesene Aktivistin für ein angstfreies Andersseindürfen und die Schriftstellerin und Journalistin Jana Hensel eine, die den Osten vor einer Stigmatisierung als rechtsradikal und AfD-folgsam mit guten Gründen verteidigt. Ihr Buch ist ein über mehr als 350 Seiten geführter Dialog, was eine Bett-Lektüre ausschließt. Er beginnt mit dem Schock über den Anschlag von Hanau, wo am 19. Februar dieses Jahres ein 42-jähriger gebürtiger Deutscher acht Männer und eine Frau mit Migrationshintergrund aus rassistischen Motiven tötete.
Naika Foroutan widerlegt die Verdrängungsmechanismen der Mehrheitsgesellschaft: „Es war ein Fehler Rechtsextremismus und Rassismus all die Jahre nach Ostdeutschland zu verschieben, denn Hanau hat wieder einmal gezeigt, sie sind im ganzen Land verwurzelt. Nur wollte das bisher kaum jemand sehen.“
Objektiv benachteiligt
Immer versuchen beide Autorinnen nachzuweisen, dass die Gesellschaft der Anderen eine Notgemeinschaft jener Menschen ist, die der Privilegiensicherung der dominanten gesellschaftlichen Gruppen ausgesetzt sind. Leider entsteht unter Menschengruppen, die sich benachteiligt fühlen – und es objektiv sind –, selten eine Allianz. Zumindest für die Ostdeutschen blieb ihr eigenes Abgehängtsein oft ein Motiv, ihrerseits Migranten rassistisch zu diskriminieren.
Jana Hensel verteidigt dies nicht, legt aber Gründe dar, mit denen sie das Verhalten ihrer Ostdeutschen Landsleute zu erklären versucht: „Das sprichwörtliche Gefühl, Bürger 2. Klasse zu sein, ließ sich ja in Umfragen Jahr für Jahr aufs Neue und beinahe erwartbar abrufen. Hat sich die Mehrheitsgesellschaft eigentlich je mit diesem Befund ernsthaft befasst? Oder hat sie ihn nicht vielmehr zum Vorwand genommen, ihre Vorstellung von der Abweichung der Ostdeutschen immer wieder zu festigen?“
Daher rührt das im Westen gemachte Bild von den Ostdeutschen als AfD-Anhänger mit Neigung zum Rechtsradikalismus. Jana Hensel grenzt Vorurteile von Tatsachen ab. Vor diesem Bild des für rechtes Denken Anfälligen versuchen beide Autorinnen die Ostdeutschen zu bewahren. Der rassistisch motivierte Anschlag von Hanau ist dafür ein – wenngleich trauriges – Argument.
Wohin sie den Leser mitnehmen wollen, ist der Gedanke, dass die klassische westdeutsche Mehrheitsgesellschaft keine mehr ist, wenn sich als Gegenkraft eine Allianz der Anderen herstellt. Die Gesellschaft der Anderen, die ihr Buch als Perspektive entwirft, könnte die Allianz aus migrantischer wie aus ostdeutscher Perspektive sein. Mit Potential, die Risse in der deutschen Gesellschaft von heute zu überwinden, mit Blick auf eine andere Gesellschaft. Wenn sie am Schluss versuchen, ihre Analyse umzumünzen auf die gegenwärtige Politik, dann bleibt alles Geschriebene sympathisch, aber schrumpft auf das kleinere Format des politischen Alltags. Kein für die CDU infrage kommender Kanzlerkandidat kann wirklich etwas mit dem Osten anfangen. Gewünscht wird – oh je! – für Menschen mit Ost- und Personen mit Migrationshintergrund eine „Leitbildkommission zur Entwicklung von Teilhabe und Chancengleichheit in der pluralen Demokratie“. Aber vorher streiten wir über Identitäten und die richtige Quote. Es geht um die „entscheidenden“ Fragen: Betrifft es mich überhaupt und will ich vertreten werden, und wen ja, von wem?
Beiden Autorinnen, die mit klugen Argumenten aufwarten, Gegenrede an die Adresse der jeweiligen Mitautorin nicht scheuen, ist im analytischen Teil ihres Buches schwerlich zu widersprechen. Dennoch – so scheint mir – bleibt die Gesellschaft der Anderen eine ermutigende Hoffnung, von der die Wirklichkeit ziemlich weit entfernt ist. Wer weiß, vielleicht ist mit dem, was in diesem Buch gedacht und geschrieben ist, morgen zu rechnen. Aber noch laufen Migranten Gefahr, zumal wenn sie nicht weiß sind, überall im Land Diskriminierungen ausgesetzt zu sein und vermutlich wissen sie wenig über die Lebens- und Kulturgeschichte der Ostdeutschen und wollen es auch nicht wissen. So wird man schwerlich zur Solidarität miteinander finden. Noch bleibt beiden Bevölkerungsgruppen die rettende Mimikry, mit der sich viele von ihnen für die Gesellschaft der Anderen unsichtbar zu machen versuchen. Jana Hensel spricht für beide Autorinnen aus, was der Allianz im Wege steht: „Die Deutschen eint im Moment eine diffuse Unsicherheit, wer sie eigentlich sind.“
Info
Die Gesellschaft der Anderen Naika Foroutan, Jana Hensel Aufbau 2020, 356 S., 22 €
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