Reise zum See

Vielfalt Beim diesjährigen Klagenfurter Literaturwettbewerb wären noch ganz andere Preisträger drin gewesen

Dass Clemens Meyer ohne Preis von Klagenfurt nach Hause fahren musste, verstehe wer will. Dass Bodo Hell für sein versuchtes Weltheilungsverfahren, das in Sprüchen und Booooiiiings! eines selbsternannten Naturheilers und Maultrommelspielers stecken blieb, beim alljährlichen Klagenfurter Literaturwettbewerb den Preis der Jury (Telecom-Preis!) erhielt, verstehe wer will. Solche Urteile - mal auf diesen, mal auf einen anderen Teilnehmer bezogen - hat jeder auf der Zunge, der den 2006er Jahrgang des Wettlesens um den Bachmann-Preis am Wörthersee live erlebt oder am TV-Gerät gesehen hat. Und trotzdem war es ein guter Jahrgang. Man kann es an den Texten beweisen.

Nehmen wir zuerst den 1977 in Halle geborenen Clemens Meyer, der in Leipzig lebt. Wie in seinem Romandebüt vom Frühjahr Als wir träumten ging es auch bei seinem Klagenfurter Text in die Welt der Verlierer. Diesmal in den Knast. Aber dort sitzen nicht die Verbrecher aus verlorener Ehre, sondern die mit viel Ehre. Und so bekommt der Erzähler von seinem Knastbruder einen Auftrag mit, den der in seinem Hafturlaub erledigen soll. Er soll die Tochter des anderen besuchen und sich genau anschauen, wie groß sie jetzt ist und wie ihre Augen aussehen. Bei dem Versuch, den Auftrag zu erfüllen, macht ihm zuerst das Mädchen eindeutige Angebote, dann tritt ein Mann auf den Plan, der auch der Zuhälter sein kann, und gibt ihm ordentlich etwas auf die Nase. Davon erzählt er seinem Knastbruder nichts, sondern nur, dass alles bestens war.

Reise zum Fluss heißt Meyers Geschichte. Dass sie sich nicht nur im Milieu aufhält und dort einsammelt, liest sich sofort heraus. Klar - sie zeigt, dass Knastis auch zehnten Jahr hinter Gittern voller Romantik stecken. Aber es sind gar nicht die Knastis, die Literaturkundige und Juroren meist nicht persönlich kennen (vielleicht auch Meyer nicht), sondern es sind Meyers Figuren. Die, die viel verloren haben, haben eines nicht verloren: ihre Ehre! So war es schon in Als wir träumten, weshalb der Roman ja auch kein Leipzig- oder Ost-Rand-Roman ist, sondern ein romantischer Hoffnungsroman. Zwar fanden die Juroren unmittelbar nach Meyers Auftritt am ersten Lesetag kurz vor dem Mittag viele gute Worte für seine Erzählung, aber am Sonntag in der Endabstimmung wollten sie davon nichts mehr wissen. Außer der beharrlichen Ursula März, die Meyer nach Klagenfurt eingeladen hatte, hob sich für ihn kein Arm. Jetzt war der Text wohl doch zu romantisch und zu perfekt.

Wie das? Um das Handwerk des Schreibens und eine gewisse perfekte Handhabung desselben geht es doch wohl in Klagenfurt auch. Meyer hat am Literaturinstitut studiert und beherrscht von diesem Handwerk einiges. Er schneidet in seinem Erzählen die Chronologie immer wieder auf, greift vor, greift zurück, lässt Lücken, ist mal romantisch, mal unromantisch. Sein Erzähler hält sich nach zehn Knastjahren bitter-ironisch für einen prima Korbflechter und er kennt die neuen Preise für Zigaretten nicht. Als Meyer aus jeder Preisrunde rausfiel, drängte sich der Gedanke auf, die Juroren wollten partout nicht in seine Welt eintreten. Was sie davon zurückhielt - sie wissen es allein.

Nehmen wir als Nächsten den 1977 im westfälischen Dorsten geborenen Kevin Vennemann. Heute lebt er in Wien und Berlin. Er lässt einen Mann sprechen, einen Pflichttherapeuten, einen slowenischer Herkunft, der einem anderen gegenüber sitzt, der die Slowenen hasst - mithin ihn. Und der Hassende redet seinen Therapeuten in die Wehrlosigkeit. Was er da erzählt, hat sich so oder so ähnlich in Jörg-Haider-Kärnten und zu Teilen gar in Jörg-Haider-Klagenfurt zugetragen. Einen Mann wie den bramarbasierenden Pflügler gibt es. Einen Angriff von rechts auf die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht gab es. Vennemanns Text versucht die Tatsachen literarisch festzuhalten, mit ihnen die Innen- und vor allem Sprachwelt eines Hass-Menschen vorzuführen, dass man als Leser erschrickt und erkennen lernt.

Der Text liest sich wie eine Partitur des Hass des einen und der Ohnmacht des anderen und ist dabei ein Zeugnis braunen Geistes in Kärnten. Kein Doku-Text, sondern ein Versuch literarischen Gebrauchs des Fakts. Vielleicht der Text unter den 18 Preis-Bewerbern, der das größte literarische Risiko suchte und zugleich Gesinnung zeigte. Leider - von einigen wenigen Fürsprechern abgesehen - blieb auch er ohne Resonanz. Ob wegen seiner Gesinnung, bleibt ungeklärt. So viel Risiko war in Klagenfurts Texten in diesem Jahr nicht, dass man Vennemann auslassen durfte. Weil er doch auch Literatur zu bieten hatte, hätte man diesen ambitionierten Versuch ermutigen können. Statt dessen meinte ein Juror (sinngemäß): Der Auszug zeigt - ein gutes Buch wird das nicht! Nur Mit-Jurorin Ilma Rakusa aus der Schweiz widersprach diesem unzulässigen Orakel. Nicht alles war Mattigkeit als Folge anhaltender Hochdruckwetterlage und der Sehnsucht auf ein Bad im Wörthersee.

Jetzt kommen wir zu der 1970 in Wolfratshausen geborenen Claudia Klischat. Auch sie lebt in Leipzig. Sie erzählt ihre Geschichte Stillstand nah bei ihrem Protagonisten Fechter. Der hat die Abwärtsspirale seines Lebens gestoppt. Er hat jetzt eine kleine Wohnung. Nun braucht er nur noch Arbeit. Die Sekretärin in der Spedition nimmt zwar seine Bewerbung entgegen, aber Hoffnung macht sie Fechter keine. Der hat ja nicht einmal E-Mail oder wenigstens Telefon. Aber Fechter glaubt mehr an sich als Berger und Schwend, die sich im Suff fast aus dem Leben prügeln und nichts tun, als ihre arbeitslosen Tage abzuwarten. Diesem sozial genauen Erzähltext widerfuhr als einzige Ehre die Jury-Debatte, ob solcher Stoff beziehungsweise so ein Thema nicht beim Spiegel besser aufgehoben wäre.

Warum ist das aber doch Literatur? Beim Journalismus käme eine solche Binnensicht wie bei Klischats Protagonisten Fechter nicht vor. Und Klischats Bilder waren kein "szenischer Einstieg". Sie erzählt den Kampf zweier Männer am stillgelegten Glaswerk zu Beginn der Geschichte: "Der eine, ein großer, sehr dünner Mann, hatte eine Eisenstange in der Hand, der andere war unbewaffnet" und auch dass die Geschichte am Ende einen Zeitsprung um ein halbes Jahr nach vorn macht, widerspräche jedem Journalismus: "Die Sonne ... schien um die Uhrzeit auf das Glaswerk, das ein halbes Jahr später abgerissen werden würde, denn es war schon vor Jahren stillgelegt worden. Es stand still, geisterhaft still." Der Text liefert mehr als einen Diskussionsgrund für die Frage, was ist Literatur und was Journalismus. Zu mehr Ehren kam er leider nicht.

Drei von 18 Klagenfurt-Erzählungen, die eines belegen: Es war ein guter Jahrgang, weil er eine Vielfalt bot wie selten. Vielfältig waren die Themen, Stoffe und Sujets: Silvio Huonder entdeckte die Liebe in den Zeiten der Flüchtigkeit (Vaterschaft nach One-Night-Stand); Angelika Overath ließ einen Aquaristen zum Schöpfer einer Welt werden von der eine Fotoreporterin nur träumt; Andreas Merkel sah die Key-Account-Manager weinen, wenn sie allein im Auto sitzen; Thomas Melle erzählte nur äußerlich vom Ost-West-Konflikt bei einem Russisch-Kurs, dahinter aber das sexualisierte Leben junger Mädchen; Dirk von Petersdorf ließ die Lebensverwirrung erleben, die seinen Erzähler packt, als er Vater von Zwillingen wird; Paul Brodowsky ließ eine Fotografin sterben, die am Schluss immer weniger sah; Annette Mingels ließ die notdürftig harmonisierte Familie im Urlaub erst richtig in die Krise kommen und Norbert Scheuer fand in der Ländlichkeit der Eifel jenes Schweigen, das am Ende ein Mord werden kann - wenn das nicht Vielfalt ist! Und nicht nur das: Da kam Leben in den Blick, das dem der Leser auf der Spur ist. Als hätte man der Satz von Ingeborg Bachmann zum Motto des 30. Wettbewerbs erst nach dem Parlando der 18 Klagenfurtgeschichten ausgewählt: "Meine Geschichte und die Geschichten aller ... Kommt das zusammen?" Es kam zusammen. Mal mehr, mal weniger überzeugend.

Wer fragt warum, kann die Vermutung einer Antwort erhalten: In diesem Jahr waren die Karriere-Schriftsteller mit denen die Verlage ihr Schaulaufen zum Beginn der Herbstsaison gern in Klagenfurt beginnen, in der absoluten Minderheit. Was ein Karriere-Schriftsteller ist? Einer, der früh auf den Lektoratsschreibtisch eines größeren Verlags gekommen ist, von da ins Programm und mit einem zweiten Buch noch einmal ins übernächste Programm und von dort nach Klagenfurt zwecks weiterer Pflege des Autors als Marke. Die Viten der diesjährigen Teilnehmer, nicht nur dass sie sich in der Regel aus ein paar mehr Lebensjahren herschrieben, mäanderten: man schrieb nicht bereits seit dem Abitur, sondern machte mal Film, mal Radio, studierte auch schon mal Bühnenbild oder gründete eine Literaturzeitschrift oder war Web-Entwicklerin und Geschäftsführerin einer Agentur der Zentralen Intelligenz.

Letzteres passt auf die 1970 im bayerischen Deggendorf geborene Berlinerin Kathrin Passig, die in diesem Jahr Bachmann-Preis und Publikumspreis und in jedem Fall eine Entscheidung war, die mit der Jury versöhnte. Mit Sicherheit keine Schriftstellerin, die vom Literaturbetrieb jemals absorbiert werden könnte. Ihre Geschichte Sie befinden sich hier tanzte auf dem Eis. Wo befand sich ihr Ich-Erzähler? Er war eingeschneit im Riesengebirge und redete sich warm, um dem weißen Tod zu entkommen. Lauter intelligentes Zeug, aber nützen wird ihm seine Intelligenz im Schnee vermutlich nichts mehr. Ein Kunststück, dieser Text. Eine form- und stilsichere Groteske. So leicht und locker wie fallender Schnee.

Wie gesagt: Ende gut, fast alles gut. Als Anmerkung bleibt aber. Es war in diesem Jahrgang noch mehr drin: Clemens Meyer zum Beispiel, Kevin Vennemann und Claudia Klischat.


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