Polen, schon wieder. Warum, so fragen sich viele, müssen sich die Brüsseler Gremien seit Jahr und Tag mit diesem Polen und seinen Extrawürsten beschäftigen? Die Antwort – man traut sich ja kaum, darauf hinzuweisen – ist einfach: weil Polinnen und Polen bei den Parlamentswahlen 2019 der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) mit 43,6 Prozent ihr Vertrauen ausgesprochen haben, nachdem die PiS schon 2015 fast 38 Prozent erlangen konnte und mittlerweile seit sechs Jahren regiert. Dazu kommt, dass die PiS-Granden – anders als die allermeisten in höchste Ämter gewählten Mandatare vieler EU-Länder – ihrer Linie weitgehend treu geblieben sind. Dieser in Polen erfolgreiche Kurs besteht in einer Mischung aus stockkatholisch, erzreaktionär und sozial paternalistisch – für die mehrheitlich liberale Blase, die zwischen Brüssel und Straßburg pendelt, ein Gräuel.
Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) gegen den Sejm in Warschau, diese Konfrontation beherrscht die Europäische Union. Seit die obersten EU-Richter am 27. Oktober 2021 ein Zwangsgeld in Höhe von einer Million Euro (pro Tag) über Polen verfügt haben, hängt nicht nur der Haussegen der Gemeinschaft schief, das tat er schon vorher, sondern ist das gemeinsame Haus in Gefahr. Grund für diesen drastischen Schritt ist die Weigerung Warschaus, einen EuGH-Spruch umzusetzen, der Polen bereits im Sommer aufgefordert hatte, seine Justizreform zu kassieren.
Wo steht der EuGH?
Dabei geht es nicht nur, aber zuerst um die sogenannte Disziplinarkammer, eine 2018 eingerichtete staatliche Institution, die Disziplinarverfahren gegen Richter einleiten kann. Brüssel sah darin die Unabhängigkeit der polnischen Justiz gefährdet; diese war allerdings von der Vorgängerregierung der liberalen Bürgerplattform (PO) bereits politisch eingefärbt worden. Noch rasch vor ihrer Abwahl 2015 hatte Ministerpräsidentin Ewa Kopacz, „Tusks getreue Nachfolgerin“ (FAZ), fünf neue Verfassungsrichter eingesetzt, obwohl deren Posten erst nach der Wahl frei wurden. Gegen diesen politischen Umgang mit dem Verfassungsgericht hatte Brüssel damals nichts einzuwenden. Von der PiS wurden die vorschnell berufenen Juristen jedoch nicht anerkannt, weshalb sie mit allen Mitteln versuchte, sie durch ihr genehme Rechtsprecher zu ersetzen.
Dem Druck des EuGH wich man in Warschau dann doch aus, als Anfang August Polens starker Mann, PiS-Chef Jarosław Kaczyński, zugestand, das Projekt Disziplinarkammer bis zum Jahresende 2021 auslaufen zu lassen. Seither wurde Katz und Maus gespielt, bis zum besagten 27. Oktober, an dem der Oberste Gerichtshof in Luxemburg dem Spiel ein Ende setzte.
Die 1952 als kleine Kammer zur Streitbeilegung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gegründete Instanz mauserte sich über die Jahre zu einem mächtigen Organ der EU. Mit jährlich Hunderten Vertragsverletzungsverfahren wachen seine drei Dutzend Richter über das Kernstück der Gemeinschaft: die vier Freiheiten, also den ungehinderten Verkehr von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräften (EU-deutsch: Arbeitnehmerfreizügigkeit). Der EuGH versteht sich als gnadenloser Hüter des ungehinderten Wettbewerbs, als Speerspitze der liberalen Wirtschaftsordnung, ob er diese nun von Staaten oder Gewerkschaften bedroht sieht. So kam er 2018 gut 200 österreichischen Großgrundbesitzern zu Hilfe, als diese gegen den ungarischen Staat klagten, der Strohmänner-Verträge für den illegalen Erwerb von Landbesitz für ungültig erklärte. Der EuGH gab den Großagrariern mit dem Argument recht, darin läge „eine mittelbare Diskriminierung des freien Kapitalverkehrs“. Oder das Gericht erklärte 2008 einen Streik finnischer Gewerkschafter kurzerhand für illegal, als die sich gegen die Umflaggung der Reederei auf den Billiglohnstandort Estland zur Wehr setzten.
Inzwischen befinden sich also Polen und seine Justiz im Visier der EU-Richter. Ihr Vorpreschen ist insofern bemerkenswert, als es auf dem noch nicht ausjudizierten „Rechtsstaatsmechanismus“ beruht. Dieser wurde am 1. Januar 2021 gegen den langjährigen Widerstand Polens und Ungarns beschlossen und gibt der EU weitgehende Sanktionsmöglichkeiten wie gekürzte Haushaltsmittel in die Hand; dies freilich nur dann, wenn EU-Gelder im Spiel sind. Gegen Sanktionsmöglichkeiten für den Fall, dass die Unabhängigkeit der Justiz gefährdet ist, klagten Ungarn und Polen. Ironischerweise mussten sie das vor dem EuGH tun. Man einigte sich mit der Kommission darauf, bis zum Ende dieses Verfahrens den Rechtsstaatsmechanismus nicht einzusetzen. Dass der EuGH nun doch darauf zurückgreift, zeigt, wie verworren die Lage in der EU ist.
Keine Frage, die Auseinandersetzung erreicht eine neue Dimension. Das Europaparlament hat Klage gegen die EU-Kommission wegen „Untätigkeit“ (was es alles gibt!) eingereicht, weil sich dort noch jemand an die Abmachung mit Polen und Ungarn erinnert und deren Einsprüche abwarten will. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hält seit Monaten Gelder aus dem 750 Milliarden Euro schweren Corona-Hilfsfonds für beide Staaten zurück, konkret 24 Milliarden für Polen und zwölf für Ungarn; ganz nach dem Motto: Gesundheit und der Kampf gegen Corona müssen warten können, bis Warschau und Budapest nach der Brüsseler Pfeife tanzen.
Als dann Anfang Oktober das polnische Oberste Gericht feststellte, dass der EuGH nicht grundsätzlich über dem polnischen Verfassungsrecht stehen würde, war der Crash nicht mehr aufzuhalten. Nationales vor EU-Recht, das hatten zwar ebenso – bereits im Mai 2020 – die Karlsruher Verfassungsrichter bei den Anleihekäufen der EZB dekretiert, aber damals wurde dieser Dissens nicht politisch angeheizt. Auch von Sanktionen gegen Deutschland war nichts zu vernehmen. Gegen Polen bringen sich indes sämtliche EU-Institutionen in Stellung. Und Warschau kontert. Eine Woche nach der Verkündung der Zwangsstrafe fand Premier Mateusz Morawiecki im Interview mit der Financial Times klare Worte gegen die „diskriminierende Behandlung“ und die „diktatähnliche Vorgangsweise“ der EU. Er drohte Brüssel: „Wenn sie den dritten Weltkrieg beginnen, werden wir unsere Rechte mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen.“
Von Kohle abhängig
Neben dem politischen Druck aus Brüssel kämpft Polen wie kein anderer EU-Staat mit den extrem steigenden Energiepreisen. Dabei kommt Warschau das EU-Emissionshandelssystem besonders teuer zu stehen. Die drei großen Energieunternehmen – Polska Grupa Energetyczna (PGE), Tauron und Enea – sind zu drei Viertel von der Kohle abhängig. Deren Preis ist in den vergangenen Monaten wegen des Kohlendioxid-Ablasshandels geradezu explodiert. Die Emissionsberechtigung für eine Tonne, die Anfang 2017 noch fünf Euro gekostet hat, hält zum 1. Oktober 2021 bei 62 Euro. Zudem sind die Zertifikate äußerst beliebte Spekulationspapiere an den Börsen. Hedgefonds wie Energy Capital Management treiben den Preis in die Höhe. Dass das ganze System nichts mit Klimaschutz zu tun hat, muss an anderer Stelle diskutiert werden. Hier geht es nur um die Auswirkungen für die „in der Kohle verankerte“ polnische Ökonomie.
Weil Energie durch die preislich nach oben schießenden CO₂-Zertifikate nicht mehr rentabel produziert werden kann, hat die Regierung den Energieriesen erlaubt, ihre defizitäre Kohleförderung in eine staatliche Gesellschaft auszulagern, mithin die Kosten dadurch dem Steuerzahler aufzubürden. Auch eine gänzliche Verstaatlichung des wichtigsten Energieträgers steht im Raum. Das würde jedoch Brüssel neuerlich auf den Plan rufen. Das europäische Emissionshandelssystem könnte somit für Polen indirekt zum entscheidenden – wirtschaftlichen – Faktor werden, das Land aus der EU zu treiben.
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