Graz träumt

Festival Der Steirische Herbst will provozieren, Funken fliegen lassen und erfindet sich neu als politisches Kunstereignis
Ausgabe 39/2018

Die Revolution der Pflanzen beginnt in einem gemütlich und in warmen Farben strahlenden Saal voller seltsamer Dinge. Manche sind so unscheinbar, dass man sie fast übersieht: Das alte, holzfurnierte Radio zum Beispiel, neben dem ein Kopfhörer liegt. Setzt man ihn auf, hört man eine Toncollage aus Aufnahmen von Applaus, den das jeweilige Publikum im Laufe der Geschichte unterschiedlichen Diktatoren gespendet hat. Oder man gelangt am anderen Ende des Saals durch ein Labyrinth aus Plakatstellwänden zu einer Vitrine, in der vier Häufchen zermahlener Pflastersteine liegen. Ein Video zeigt, wie eine mechanische Presse sie einem Belastungstest unterzieht, bis sie zu Pulver zerfallen.

Nein, der kommende Aufstand der Pflanzen wird eher über Datenströme und Bioenergetik erfolgen als über den plumpen Wurf von aus dem Straßenbelag gelösten Steinquadern. Er beginnt mit einem leisen Murmeln und mit dunklen Informationen, die über verborgene Wurzelnetzwerke hin- und hergeschickt werden. Das ungarische Künstlerduo Igor und Ivan Buharov sieht diese Spezies mit okkultem Wissen und religiösen Praktiken im Bunde, deren Kehlkopfgesänge aus den Hörmuscheln antiker Bakelit-Telefone dringen, wenn man hineinhorcht, und deren Symbole auf Röhrenfernsehern flackern, die in antiken TV-Möbeln verstaut sind.

Die poetisch-surrealistische Installation Stimmen des unsterblichen Absichtsfeldes nimmt den gesamten Festsaal im Volkshaus Graz in Anspruch, dem Hauptquartier der Kommunistischen Partei Österreichs, die in dieser Stadt immerhin mit 20 Prozent Stimmenanteil im Parlament vertreten ist. Es ist ein ehemaliger Industriebau, den die Widerstandskämpferin und Architektin Margarete Schütte-Lihotzky in den 1950er Jahren für die KPÖ umgebaut hat. Der Tanzsaal im ersten Stock ist das Schmuckstück des Gebäudes, das das Volk im Namen trägt. Wo, wenn nicht hier, soll es endlich seine Stimme finden, um sich zu erheben – Menschen, Pflanzen, egal?

Zwischen Johann und Arnie

Volksfronten, so lautet der provokante wie programmatische Titel des Festivals Steirischer Herbst, das vergangene Woche unter der Leitung der neuen Intendantin Ekaterina Degot in Graz eröffnet und sich damit zugleich als hochpolitisches Kunstereignis neu erfunden hat. Ob es sich bei besagtem „Volk“ um eine ethnische, historische oder politische Kategorie handelt, bleibt Auslegungssache und hat wohl nicht zuletzt mit der eigenen politischen Verortung zu tun.

Ekaterina Degot will den stadtweiten Parcours aus Installationen und Performances als organisches Ganzes begriffen sehen. Wo die Volksfronten Widersprüche und Kontraste hervorbringen, besteht laut Degot die Chance für die Kunst, Funken zu schlagen, über Unterschiede zu reflektieren und dadurch nach neuen Ähnlichkeiten zu suchen. „Nur indem wir hierüber nachdenken“, so die Intendantin, „finden wir irgendwann hoffentlich zu einem gemeinsamen Handeln.“

Den vermeintlichen Konsens, in welche Richtung dieses Handeln zu führen habe, bricht der Auftritt der slowenischen Band Laibach in satirischer Zuspitzung schon wieder auf: „Österreich 2018. Fakten: In Österreich sind Faschisten an der Macht“, heißt es im Prolog, der vor dem Konzert über eine Leinwand läuft. Um die Zensur zu bedienen, habe die Intendantin beschlossen, die Gruppe Laibach einzuladen, „die vom verstorbenen, beliebten Führer“ der FPÖ, dem „Nazi-Sympathisanten, fremdenfeindlichen Rassisten und Landeshauptmann Jörg Haider sehr geschätzt wurde“. Laibach, seit mittlerweile fast 40 Jahren für ihr vieldeutiges Spiel mit faschistischer Ästhetik bekannt, heben dann mit ihrer Interpretation des in Österreich gedrehten Musicals The Sound of Music (dessen deutscher Titel Meine Lieder – Meine Träume lautet) die Heimatliebe überaffirmativ in neue Sphären. Ein Kinderchor und ein Streichsextett unterstützen sie dabei mit süßlichen Harmonien.

Überhaupt hat sich die Heimat längst zur Horrorkulisse gewandelt. Das Grauen kriecht aus den Dämonischen Leinwänden, die das Wiener Duo kozek hörlonski gemeinsam mit dem Medienkünstler Alexander Martinz im Kloster der Minoriten zeigt. Zombies weiden sich vor desinteressierten Zuschauern an blutigem Gedärm, zünftige Wirtsstuben sind nicht weniger unheimlich als verfluchte Schlösser, Motive aus der Stummfilmzeit paaren sich mit moderner Architektur. In den Collagen von Ines Doujak verschmelzen unschuldig dreinblickende Mädchen mit Seesternen oder Blutegeln und stellen an ihren Gliedmaßen grauenhafte Hautkrankheiten zur Schau wie die Bettler, die am Hauptbahnhof auf zerrissenen Pappkartons sitzen. In den Fotografien von Martin Behr und Martin Osterider nimmt der Horror dann alltägliche Gestalt an: Beide dokumentieren seit 15 Jahren die Durchgänge, Klingelschilder oder Vorgärten der Triestersiedlung in Graz, einem Viertel öffentlichen Wohnungsbaus, in dem sie beide aufgewachsen sind. Oder ist das doch eher die soziale Utopie vom Wohnen fürs Volk? Wo liegt dessen städtische Heimat zwischen Verdrängung und Verfall?

Verblüffend ist, wie dicht sich das Programm der Newcomer-Intendantin, die in Russland geboren ist, mit den Gegebenheiten vor Ort verwebt, wie lokale und universelle Bedeutungen einander durchdringen, mal leise und flüchtig, mal steinern und monumental wie an der Schlossbergstiege, eine auch „Kriegssteig“ genannte, mitten in der Stadt in Fels gehauene Treppe, die vor allem russische Kriegsgefangene bauten und auf der Roman Osminkin sein Stück Putsch (nach D.A. Prigov) inszeniert. Zwei Lautsprecher schreien sich an, während auf den Stufen über dem Schlossplatz Parolen auf Pappschildern ausgegeben werden: „Es ist Zeit!“ – „Revolution!“ Das Publikum stimmt ein, genauso, wie es bei der Eröffnung mit dem amerikanischen Bread & Puppet Theater zusammen auf den Spuren Adolf Hitlers wandelt, der einst auf demselben Weg in die Stadt einzog.

Ist man als Zuschauer jetzt selber Kunst, oder ein Echo dieser sehr speziellen Grazer Lebenswirklichkeit zwischen Straßenbahn und Zebrastreifen, Mohrenapotheke und „Gummi Neger“, zwischen Erzherzog Johann und Arnold Schwarzenegger, Ölofen- und Rasenmäher-Ausstellung, Erotikshow im Dirndl und „Handy um die Ecke“? Ein wenig fühlt man sich beim Steirischen Herbst wirklich, „als ob man in den Träumen eines anderen verloren ginge“, wie die Kuratorin Katalin Erdödi das Werk von Igor und Ivan Buharov beschreibt. Die Kunst driftet in die Welt des Alltags hinüber, oder umgekehrt? Und ist das dann Glückseligkeit, Synthese oder schon wieder Horror?

Wie alle Bahnhofsvorplätze ist auch der Grazer Europaplatz ein Durchgangsort, eine Übergangszone, wie Ekaterina Degot sagt. Genau hier, zwischen schwarzen Abgaswolken, ratternden Busmotoren und glasüberdachten Rolltreppen, hält sie vor 800 Zuhörerinnen und Zuhörern ihre Eröffnungsrede. Wahrlich kein feierlicher Rahmen, ganz anders als in der Vergangenheit, als die üppige Helmut-List-Halle zur Eröffnungsfeier hergerichtet wurde. Wie aber soll man das verehrte Premierenpublikum an so einem Ort ansprechen? „Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wo die Straßenbahnhaltestelle ist?“, fragt Ekaterina Degot daher im Gestus der Fremden. Und schließt daran an: „Gestatten Sie eine Frage: Horten Sie Nazi-Devotionalien in Ihrer Wohnung?“ Die Passanten sind das wahre Publikum eines Festivals, das den öffentlichen Raum zu seiner Bühne macht.

Auf dem Hauptplatz von Graz hat der japanische Künstler Yoshinori Niwa einen schwarzen Altkleider-Container aufgestellt, in den jeder, der mag, ehemalige Nazi-Orden, Fotos oder Bücher werfen kann: „Alles, was ein Hakenkreuz hat, findet hier seinen Platz“, heißt es auf dem Container in heiterem Duktus. Einer der Vorübergehenden, ein junger Österreicher, sagt, er könne sich an der Aktion leider nicht beteiligen – schließlich sammle er solche Dinge „zur Erinnerung“ selbst. Das gemeinsame Handeln besteht hoffentlich nicht im kollektiven Verstummen.

Info

Das Festival Steirischer Herbst läuft noch bis 14. Oktober

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