„Wir sind im Schlafmodus“

Im Gespräch Etgar Keret über das Warten auf den nächsten Alarm in Tel Aviv und fehlende Empathie für die Menschen in Gaza
Ausgabe 29/2014
„Wir finden immer Wege, uns selbst zu bemitleiden“, meint der Schriftsteller Etgar Keret
„Wir finden immer Wege, uns selbst zu bemitleiden“, meint der Schriftsteller Etgar Keret

FotoS: Jonas Opperskalski

Seit der Ermordung dreier israelischer und eines palästinensischen Jugendlichen Anfang Juli ist der Konflikt zwischen Israel und der den Gazastreifen regierenden Hamas erneut eskaliert. 800 Raketen sind seither auf israelische Städte abgefeuert worden. Die israelische Armee antwortete darauf mit heftigen Luftangriffen auf Gaza. Etgar Keret, neben David Grossman und Amos Oz einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Israels, ist in seiner Doppelrolle als Autor und als politischer Kommentator bekannt. Wir trafen ihn am vergangenen Sontag im Café Michal in Tel-Aviv.

Der Freitag: Im Fernsehen sieht man täglich Bilder von Menschen, die in Tel Aviv in Schutzräume flüchten. Wie geht es Ihnen in diesen Tagen?

Etgar Keret: Täglich mit einem Alarm aufzuwachen, ist nervenzehrend, besonders für jemanden, der so gestresst und ängstlich durchs Leben geht wie ich. Eigentlich sollte ich im Moment in der Slowakei sein, um aus meinen Texten zu lesen. Als ich fliegen sollte, bat mein Sohn mich zu bleiben, also habe ich abgesagt. Ihn greift das alles sehr stark an. Beim letzten Alarm fing ein Mädchen neben ihm hysterisch an zu zittern, das hat ihm Angst gemacht. Er ist acht Jahre alt. In vier Jahren hat er seine Bar Mizwa. Bisher hat er sich immer ein Iphone gewünscht. Gestern kam er zu mir und meinte, er wünsche sich jetzt etwas Anderes, nämlich, dass wir mit ihm an einen anderen Ort auswandern.

Was sagt man da als Vater?

Ich fragte, ob er irgendwo Bestimmtes hinwolle? Er meinte, dahin wo die Leute so friedlich wie möglich miteinander umgehen. Und mit Tieren. Ich sagte, okay, ich werde mal googeln, was für ein Ort das sein könnte. Neuseeland vielleicht?

Denken Sie wirklich darüber nach, Israel zu verlassen?

Zum Glück haben wir bis zu seiner Bar Mitzwa ja noch ein paar Jahre Bedenkzeit. Die Raketen im Dezember vor anderthalb Jahren waren die ersten, die mein Sohn miterlebt hat. Damals entdeckte er zum ersten Mal Hass in sich, und Rachegefühle. Meine Frau und ich sind heute vorsichtig mit dem, was er im Fernsehen sehen darf. Im Moment spricht er viel über die Leute in Gaza, er empfindet Mitleid, besonders mit Kindern in seinem Alter. Ich bin nicht sicher, woher er das hat, denn wenn man heute israelische Nachrichten sieht, bekommt man ein sehr einseitiges, verzerrtes Bild von dem Konflikt.

Gibt es kein Interesse an dem, was die Bevölkerung in Gaza erlebt?

Der Mangel an Empathie für Gaza ist innerhalb Israels heute so groß wie nie zuvor. Schuld daran ist diese Iron-Dome-Anlage. Durch die Raketenabwehr sind wir ja quasi unverwundbar. Wir finden aber immer Wege, uns selbst zu bemitleiden, sei es wegen der allgemeinen Angst, die hier gerade herrscht, wegen einer kurzfristig abgesagten Hochzeit, was auch immer. Wir müssten stattdessen anfangen, die Dinge ins Verhältnis zu setzen. In Gaza sind inzwischen weit über 100 Zivilisten gestorben, darunter viele Kinder. Das darf nicht an einem vorübergehen. Gleichzeitig erzählt man uns, Israel würde durch die Zerstörung weiterer Gebäude in Gaza ein sicherer Ort. Ich glaube unserer Armee, dass sie bei der Bombardierung so vorsichtig wie möglich vorgeht, aber die dahinterliegende Logik ist doch absurd! Wir kämpfen nicht ums Überleben.

Benjamin Netanjahu rechtfertigt den Beschuss damit, dass die Hamas die Bürger Gazas als Geiseln nimmt.

Stellen Sie sich zum Vergleich eine Bande von Kidnappern vor, die Geiseln genommen haben. Ist die Lösung da etwa, durch die Geiseln hindurch zu schießen? Und selbst wenn ein Hamas-Führer in einem dieser Häuser sitzt, bedeutet das, er verdient automatisch die Todesstrafe? Solche Fragen stellt hier gerade kaum jemand.

Woran liegt das?

Ich fürchte, das Leben von Palästinensern spielt in den Augen der Leute gerade schlichtweg keine große Rolle. Im Laufe meines Lebens habe ich viele Siege Israels miterlebt. Die Kehrseite ist immer absehbar. Auf jeden Sieg folgt ein weiteres Drama, auf jedes Drama ein weiterer Sieg. Wenn wir tatsächlich Sicherheit wollen, sind Kompromisse der einzige Weg. Wir können nicht immer nur Gewalt anwenden.

Sie sind Schriftsteller. Kann die Literatur dazu etwas beitragen?

Ich glaube, die Kritik zeitgenössischer Literaten wie Grossman, Oz oder auch meine eigene findet zurzeit wenig Nachhall außerhalb der Kreise, die sie sowieso befürworten. Als kürzlich bekannt wurde, dass die drei entführten israelischen Jugendlichen ermordet wurden, zitierte unser Premierminister den hebräischen Nationaldichter Chaim Nachman Bialik mit den Worten: „Für den Tod eines Kindes weiß selbst Satan keine angemessene Rache.“ Die Sache ist: Netanjahu hat in der Schule wohl nicht richtig aufgepasst. Bialik hat die Rache als solche immer verdammt.

Vor drei Jahren haben Sie Netanjahu interviewt. Wie haben Sie ihn damals erlebt?

Das Interview war Teil einer Reihe in der israelischen Tageszeitung Haaretz: Schriftsteller interviewen Politiker. Haaretz bot mir Netanjahu als Gesprächspartner an, sofern ich bereit wäre, noch am selben Tag nach Italien zu reisen. Nun müssen Sie wissen, dass die Netanjahu-Familie mich nicht ausstehen kann.

Womit haben Sie die Netanjahus gegen sich aufgebracht?

1993 schrieb ich ein Musical namens Entebbe, über die Geschichte der Flugzeugentführung, bei der Benjamin Netanjahus Bruder Yoni ums Leben kam. Das war lange, bevor Benjamin als Premier kandidierte. Im Stück wird Yoni von Kannibalen verspeist. Benjamin wird gesagt, der Tod seines Bruders sei nicht umsonst gewesen, dessen Heroismus werde ihn noch mal zum Premier Israels machen. Damals erschien das schlichtweg lächerlich.

Das Stück war eine Satire.

In dem Stück geht es um unseren Umgang mit Helden, darum, wie wir sie ausschlachten. Mein bester Freund starb in der Armee. Wir waren zusammen, ich verließ das Zimmer, er erschoss sich. Ich fand ihn. Auf seiner Beerdigung sprach ein hochrangiger Offizier, der ihn nicht kannte. Er sagte, mein Freund sei sehr mutig gewesen und alle auf dem Stützpunkt hätten ihn geliebt.

Das entsprach nicht der Wahrheit?

Mein Freund war ein Feigling! Alle außer mir hassten ihn. Er war ein großartiger Typ, aber ein Feigling. Das war das Motiv meines Stückes: Du stirbst, verlierst deine Identität, wirst Treibstoff für etwas ganz Anderes.

Wie hat Netanjahu auf Ihr Stück reagiert?

Es gewann beim alternativen Theaterfestival in Acco den ersten Preis und die Netanjahus gingen hart gegen das Festival vor. Ich war also überrascht über die Interview-Zusage. Ich bin damals direkt von der Uni nach Hause gefahren, um meine Tasche zu packen und zu fliegen. Meine Frau drückte mir noch einen Zettel in die Hand und bat mich, ihn Netanjahu zu überreichen.

Was stand darauf?

Ich bin Mutter eines Kindes und ermutige Sie, alles in Ihrer Macht Stehende zu tun, damit Israels Kinder in Frieden aufwachsen. Etwas in der Art. Ich fragte sie: „Was denkst du? Dass Netanjahu die Klagemauer ist, an der die Leute Wunschzettel hinterlassen? Ich stecke ihm diesen Zettel in den Arsch, und obwohl er sein Leben lang nichts für Frieden getan hat, wird er sich ganz plötzlich ändern? Ich werde wie ein Idiot aussehen!“ Meine Frau fing an zu weinen.

Da tat es Ihnen dann doch leid?

Im Flugzeug nach Italien dachte ich: „Was für ein Arsch bist du eigentlich? Das ist eine einzigartige Chance, und du weigerst dich, den Zettel zu überreichen, nur weil die Aktion zum Scheitern verurteilt ist?“ Ich hatte also eine Bringschuld gegenüber meiner Frau. Im Briefing baten mich die anderen Journalisten, nicht auf kritische Fragen zu insistieren. Ich willigte ein, wohl wissend, dass ich sie anlog. Im Interview sagte ich zu Netanjahu, dass es ein bisschen so aussehe, als würde Israel immer nur reagieren, und fragte ihn, was nun der eigentliche Plan sei, den Konflikt zu beenden.

Was hat Netanjahu Ihnen darauf geantwortet?

Dass dies ein unlösbarer Konflikt sei. Netanjahus Narrativ ist sehr klar: Israel wird existenziell bedroht. Wir sind als jüdischer Staat nicht anerkannt und von Feinden umringt. Syrien, Iran, Libanon, selbst der Irak könnte heute ein Feind werden. Der Grund ist, dass wir uns als Nichtmuslime nicht in die Region integrieren. Solange wir den Konflikt nur als Überlebensfrage behandeln, bleiben moralische Fragen außen vor.

Wenn Sie ihn heute noch einmal treffen könnten, was würden Sie ihn fragen?

Die Frage würde heute nicht viel anders lauten. Die Antwort vermutlich auch nicht. Wenn ich Netanjahu wäre, würde ich die Angriffe auf Gaza jetzt beenden, zumindest für ein paar Tage. In der jetzigen Situation haben wir dieses Privileg. Damit eine militante Organisation wie die Hamas überleben kann, braucht sie Krieg. Offensichtlich versucht sie gerade in der palästinensischen Gesellschaft ihr Gesicht zu wahren. Wenn der Kampf jetzt plötzlich vorbei wäre, würde die Hamas dastehen wie Idioten.

In diesem Moment werden wir von den Sirenen unterbrochen, die immer dort aufheulen, wo Israel von Raketen angegriffen wird. Die Besucher des Café Michal drängen sich in die hinterste Ecke des Cafés. Keret erhebt sich sichtlich unwillig. Zwischen dem Alarmsignal und der ersten Detonation vergeht knapp eine halbe Minute. Wir hören, wie die Iron-Dome-Anlage mindestens zwei Raketen in der Luft abfängt. Die Explosion muss unweit über uns stattgefunden haben – sie ist extrem laut und lässt die verglaste Fassade erbeben. Eine Frau kniet in sich gekehrt an der Wand. In der Zwischenzeit telefonieren Keret und ich mit Freunden und Familie, Keret zeigt mir eine App auf seinem Smartphone, die über Uhrzeit, Detonationsort und Größe der Raketen informiert. Nach ein paar Minuten kehren wir zu unserem Platz zurück, bestellen Cappuccino, alles erscheint unwirklich normal.

Etgar Keret: Situationen wie die eben erinnern mich an meine Zeit in der Armee. Das Wichtigste ist, dass du zeitig nach Hause kommst, den Kindern Süßigkeiten mitbringst, ruhig bleibst. Wie ein Laptop im Schlafmodus. Manchmal erwische ich mich dabei, wie ich mir sage, dass etwas passieren wird. Nach dem Alarm wartet man auf den nächsten Alarm, als würde man nur darauf warten, von der Realität abgeholt zu werden. (Keret zeigt mir auf seinem Smartphone seine Facebook-Seite). Sehen Sie mal, hier, normalerweise bekomme ich nicht mehr als 200 Likes für meine Facebook-Posts. Vor ein paar Tagen habe ich die Geschichte Pastrami gepostet, sie ist der letzte Teil meines neuen Buchs The Seven Good Years. In Pastrami geht es um posttraumatische Erfahrungen und die Raketenangriffe 2012. Dafür habe ich 1.500 Likes gekriegt. Das ist es, was die Leute von mir hören wollen.

Der Schriftsteller Nir Baram hat die Zwei-Staaten-Vision kürzlich als Lebenslüge der israelischen Linken bezeichnet.

Historisch gesehen hatten wir diese Vision mit Oslo ja fast erreicht. Aber auch ich glaube, ein palästinensischer Staat ist keine echte Lösung. Er ist mehr wie ein Geschenk, das ein Elternteil seinem Kind macht. Nur dass das Kind nett fragen muss. Das Narrativ, das nach der zweiten Intifada die moralische Grundlage für die Besatzung lieferte, war: Der Feind ist stark. Heute ist er schwach. Und getrennt, Ramallah und Gaza sind wie zwei unterschiedliche Planeten. Die Wahlen, der Aufstieg von Politikern wie Naftali Bennett, all das hat gezeigt, dass wir so bald nicht zu einer Einigung kommen.

Vor unserem Gespräch haben Sie gesagt, dass Ihnen die Rolle des politischen Kommentators widerstrebt.

Es gibt wenig Dinge, die ich so sehr hasse, wie Meinungsstücke zu schreiben. Mit Argumenten und Anschuldigungen ins Feld zu ziehen, fühlt sich für mich an, als würde ich mit Kriegsgerät in einen Gebetstempel einziehen. Ich tue das nur aus Mangel an anderen Fähigkeiten. Ich bezweifle, dass meine Kommentare viel ändern. Das ist wie in einer Selbsthilfegruppe: Man verschafft Leuten in der gleichen Situation ein bisschen Klarheit. Für mich ist Literatur ein sicherer Hafen, doch in Zeiten wie diesen schreibe ich nichts Fiktionales.

Etgar Keret wurde 1967 in Ramat Gan nahe Tel Aviv geboren. Er zählt zu den bekanntesten israelischen Schriftstellern. Zusammen mit dem palästinensischen Autor Samir El-Youssef schrieb er 2006 den Band Alles Gaza. Geteilte Geschichten. Kommendes Jahr erscheint sein autobiografisches Buch The Seven Good Years in deutscher Übersetzung im Fischer Verlag. Keret lebt mit Frau und Sohn in Tel Aviv

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