3:2 für das "Kapital"

Erneuerung und Konvention Das Mülheimer Festival "Stücke 07" kürt die Gruppe Rimini Protokoll

Festivals sind schwergängige Kulturtanker und je älter sie werden, desto enger schmiegt sich das Armierungseisen der Tradition an ihre inhaltliche Struktur. Substantielle Änderungen erscheinen da häufig als Substanzbedrohung. Seit mehr als dreißig Jahren gewährt das Mülheimer Stücke-Festival alljährlich einen Überblick über die Dramenauslese einer Saison. Lange Zeit blieb es das einzige deutsche Festival, das ausschließlich den Autoren gewidmet war. Inzwischen machen ihm aber die allgegenwärtigen Autorentage und Stückemärkte Konkurrenz und die belebt bekanntlich das Geschäft.

In diesem Jahr hat sich Mülheim mit seiner Preisvergabe offensichtlich den Mehltau der Tradition aus dem Fell geschüttelt. Der mit 15.000 Euro dotierte Mülheimer Theaterpreis ging an die Gruppe Rimini Protokoll für ihr Stück Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. Begründet wurde dies von der Jury unter anderem damit, dass die Diskursform des Abends das traditionelle Stückverständnis in Frage stellt. Für Mülheim ist dies eine Überraschung. Denn das Festival nennt sich zwar Stücke, setzte aber bisher vordringlich auf Texte. Damit trug man zwar der Renaissance des Autors Rechnung, nahm aber die Tendenz, dass immer mehr Dramatiker mit dokumentarischem Material experimentieren, nur beiläufig wahr.

Ein Beispiel war das Berliner Gastspiel von Schwarze Jungfrauen des Autorenduos Feridun Zaimoglu und Günter Senkel. Ein monologisches Stimmenkonzert junger muslimischer Frauen, das aus Interviews destilliert wurde und das als sarkastisch-pathetischer Kommentar zur westlichen Gesellschaft gelesen werden kann.

Rimini Protokoll gehen hier einen Schritt weiter. Karl Marx: Das Kapital, Erstes Kapitel wurde am Schauspielhaus Düsseldorf in Zusammenarbeit mit Laien, so genannten "Spezialisten des Alltags", entwickelt, deren Biographie nicht nur die Grundlage des Stücks bildet, sondern die auch selbst auf der Bühne stehen. Ein dokumentarischer Kurzschluss von Alltag und Theater, bei dem Callcenter-Agenten, DKP-Aktivisten, Spielsüchtige, Hochstapler, Marx-Wissenschaftler von der Rolle des Kapitals, sei es als Marxsches chef d´oeuvre oder als Geldsumme, in ihrem Leben berichten. Hier werden nicht nur Rolle und Funktion des Autors neu definiert; das Spiel mit der Authentizität stellt auch grundsätzliche Fragen an die Nachspielbarkeit des Stücks. Dass das nicht jedem behagte, zeigten schon die streitbaren Diskussionen der Auswahljury; und auch das Preisvotum fiel am Ende mit 3:2 denkbar knapp aus.

Als härtester Konkurrent in der Endausscheidung erwies sich die mit zwölf Auftritten zum Dauergast avancierte Elfriede Jelinek mit ihrem Schiller übermalenden RAF-Stück Ulrike Maria Stuart vom Thalia Theater Hamburg. Ein Königinnendrama um Ulrike und Gudrun, das als vielfach verspiegelter Textkorpus mit reichem Zitatenschatz daherkommt und die Mythisierung der RAF, die Hahnenkämpfe und Selbststilisierung aufs Korn nimmt. Ähnlich in der Verschränkung von geschichtlicher Erfahrung und Biographie, wenn auch platter, verfährt Mala Zementbaum von Armin Petras und Thomas Lawinky, dessen Parallelisierung von Stasivergangenheit und Holocaust jedoch höchst fragwürdig ist.

Eher konventionell gearbeitet sind dagegen die neuen Stücke von Lukas Bärfuss und Martin Heckmanns. Die Probe dekliniert am Beispiel des Provinzpolitikers Simon Korach die Frage des Vaterschaftstests durch: die Angst des Mannes vor verhunzter Genealogie und Identität. Es beginnt mit Korachs Sohn, dem ein Test das eigene Kind als Kuckucksei entlarvt. Es endet in Korach Unsicherheit, ob nicht sein eigener Sohn vielleicht ein Produkt eines Seitensprungs seiner Frau mit seinem größten politischen Gegner ist. Trotz des aktuellen Themas ein eher schwaches, überkonstruiertes Stück. Martin Heckmanns Wörter und Körper wiederum kommt in Anlehnung an Botho Strauß´ Groß und Klein als Stationen-Drama über den verschwindenden Zusammenhang von Wörtern und Konvention daher. Der Hauptfigur Lina geht dieser Konnex verloren; sie lädt sich bei einer Verwandten ohne Rücksicht ein, geht Einkaufen ohne Geld, vergrault den besten Kunden einer Werbeagentur und driftet durch ein Gesellschaftspanorama, das zugleich - nimmt man Wörter und Körper als Grundspannungsverhältnis der Bühne - eine Reflexion über das Theaters selbst ist.

Zeigen schon diese beiden Stück einen eher traditionellen dramaturgischen Zugriff, so galt dies umso mehr und in einem durchaus positiven Sinn für die beiden Mülheim-Newcomer Dirk Laucke und Darja Stocker. Die beiden Jungautoren, die sich mit ihren Erstlingswerken vorstellten, stehen pars pro toto für eine Rückkehr zu einem Drama mit Handlung, Figuren und sinnlich erfahrbaren Konflikten. Laucke und Stocker überraschen dabei mit erstaunlichem handwerklichen Können und eigenwilliger Sprachbehandlung. Vor allem Nachtblind der 23-jährigen Zürcher Autorin ist eine Entdeckung; in einer Produktion des Thalia Theater schildert das Stück die schwierige Zuneigung der pubertären Leyla zu dem gleichaltrigen Moe. Was zunächst wie freeclimbing im katastrophischen Familienmassiv klingt, entwickelt sich zu einem düster-fesselndes Poem über die Adoleszenz eines jungen Mädchen, das zwischen der Verlogenheit ihrer linksliberalen Eltern und der Gewalt ihrer Umwelt verzweifelt nach einer eigenen Identität sucht.

Auch wenn manche Autoren schon bessere Stücke vorstellten, letztlich erwies sich der aktuelle Jahrgang der Mülheimer Stücke als ertragreich und spannend. Schon vor der Juryentscheidung für Rimini Protokoll kündigte das Festival selbst bereits neue Beweglichkeit an. Die Mannschaft um Festivalleiter Udo Balzer-Reher ist umgezogen und hat jetzt im Theater Mülheim an der Ruhr Quartier bezogen. Die Nähe zum Theater Roberto Ciullis erweist sich offenbar als befruchtend, das belegen die Einbeziehung der Spielstätte am Raffelbergpark, die umgestaltete Eröffnungsveranstaltung oder das umfangreiche Beiprogramm mit einem Symposion zum Thema Angst und der Deutschen Erstaufführung von Lars Noréns 20. November mit Anne Tismer. Wandlungsprozesse, die demnächst auch auf das Beiprogramm der Kinderstücke ausgedehnt werden sollen und die zeigen, wie beweglich Kulturtanker auf ihre alten Tage doch noch sind.


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