Die Krise als Krise ihrer Interpretation

Bühne Gerne heißt es, das Theater wäre nicht in der Lage, auf aktuelle Ereignisse zu reagieren. Elfriede Jelinek hat dieses Vorurteil nun widerlegt

Die Klagen über das Theater als langsames Medium sind Legion, selten einmal gelingt es ihm, thematisch aktuell zu reagieren. Die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek hat das Kunststück nun vollbracht. Ihre Wirtschaftskomödie Die Kontrakte des Kaufmanns, das die Skandale der österreichischen Gewerkschaftsbank Bawag und der Meinl-Bank thematisiert, ist vor Beginn der Finanzkrise entstanden. Das Schauspiel Köln und das koproduzierende Hamburger Thalia Theater haben nun beschlossen, die Uraufführung von der nächsten auf diese Spielzeit vorzuziehen.

Da die Autorin an ihrer sarkastischen Prophetie ständig weiterschreibt, erklärt Regisseur Nicolas Stemann, der in Köln gemeinsam mit den Schauspielern und dem Team auf der Bühne steht, seine Inszenierung kurzerhand zur „Textumsetzungsmaschine“. Das klingt nach Mechanik und Improvisation gleichermaßen, und so halten die Darsteller das Manuskript in der Hand, ein Display zählt dessen Seiten als Countdown herunter, die Zuschauer können den Raum nach Belieben verlassen und das Saallicht bleibt an. Ein Ehepaar (Therese Dürrenberger, Ralf Harster) als antiker Klagechor macht den Anfang: „Entblößt von allem hüten wir Kleinanleger die Stätte hier“. Philemon und Baucis im Zertifikate-Strudel, zwischen Gier und falscher Hoffnung, während Bühnenarbeiter ihnen die Einrichtung unterm Hintern wegräumen.

Bankmanager (Sebastian Rudolph, Daniel Lommatzsch) singen das Mantra der Rendite, drei Grazien des Finanzkapitals (Maria Schrader, Patrycia Ziolkowska, Franziska Hartmann) lassen die Sarkasmen von mündelsicheren Wertpapieren ohne Mündel wie Sekt perlen. Ein über 50 Seiten sich erstreckendes Triumphgeheul der Profiteure, das zwischen Anspielungen auf Euripides’ Herakles und Kalauern mäandert. Nervend, böse, monomanisch, ermüdend – und genauso monströs wie die Krise.

Die Aufführung schultert den Text zunächst mit dem Charme des Provisorischen, präsentiert ihn mal als Solo, mal als Chor, dann wieder vertont als Song. Mitunter löst sich der Abend zwischen Slapstick am Flipchart, dem Regisseur als Jelinek-Double und einem per Video übertragenen Knutsch-Happening der Darsteller auch fast völlig auf, lässt Jelineks Wortschwall zum weißen Rauschen verkümmern. Trotzdem verliert sich die Inszenierung nie in Beliebigkeit: Die Bühne versagt sich hier jede falsche Sicherheit und buchstabiert die Krise als Krise ihrer Interpretation durch.

Wenn Jelinek im zweiten Teil die „Engel der Gerechtigkeit“ aufmarschieren lässt, setzt auch Stemann auf die religiöse Symbolik. Schauspieler treten mit Lamm- und Wolfsmasken auf, Kirchenlieder werden mit Texten aus dem Stück unterlegt, Geldscheine ans Kreuz genagelt: Der Kapitalismus erscheint als neues Glaubenssystem, als dionysischer Kult mit Menschenopfer, der sich allmählich in eine eschatologische Vision („Die Zeit ist da“) hineinsteigert. Auf Katrin Nottrodts mit Mischpulten, Kleiderständern und einem Flügel möblierter Stufenbühne stürzen acht Metallstützen krachend zu Boden. Ein Tresor senkt sich als Gral herab und die Schauspieler streben dem Licht des Kapitals zu, während Ralf Harster das Nichts beschwört. Ein bewegender Abend, maßlos und fordernd, absurd und monströs. Kann man der Krise künstlerisch anders gerecht werden?

Die Kontrakte des Kaufmanns Schauspiel Köln, wieder am 24., 25. April, 8. und 10. Mai

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