An sich ist das Theater ein Betrieb, der die (Kunst-)Ware „Aufführung“ in hochspezialisierten arbeitsteiligen Prozessen herstellt. Der Warenausstoß ist hoch. Die Produkte werden auf den Märkten des Symbolischen gehandelt. Was allerdings passiert, wenn der Produktionsprozess selbst zum „Theater“ wird? Und wenn all dies nur ein Fake ist?
Aber der Reihe nach: Das Kölner Schauspiel kündigte eine Inszenierung von Iwan Gontscharows legendärem Roman Oblomow durch Regisseur Luk Perceval an. Titel: Oblomow revisited. Zur Erinnerung: Im Zentrum des Romans von 1859 steht der Gutsbesitzer Oblomow, der sich jeder produktiven Tätigkeit verweigert. Er hängt seinen philantropischen und sozialrevolutionären Gedanken nach, ohne einen Schritt zu ihrer Verwirklichung zu unternehmen. Oblomows Lethargie wird kurzzeitig von der Liebe zur tatkräftigen Olga gestört, die sich dann aber dem Unternehmer Stolz zuwendet, der mit seiner Ethik des Tätigseins zum bürgerlich-unternehmerischen Gegenbild des postfeudalen Oblomow wird. Man braucht nicht viel Fantasie, um die Parallelen zur Gegenwart zu entdecken: Vom Nichtstun im Lockdown über die Kritik an kapitalistischer Produktion wie an Prozessen der Selbstoptimierung und so weiter.
Luk Perceval hat zusammen mit der Autorin Nele Stuhler Gontscharows Oblomow für eine (digitale) Gegenwart adaptiert, die die Deutung des Romans nicht allein in einer Inszenierung, sondern in den Produktionsbedingungen des Theater selbst spiegelt. Und das begann so: Regisseur Luk Perceval verkündet, seine Oblomow-Proben teilweise zu streamen. Gleichzeitig sollen ein Blog und ein Instagram-Kanal bespielt werden. Der zweite Clou: Für die Hauptrolle kommt Luana Velis ans Schauspiel Köln, die ihre ersten Begegnungen mit den neuen Kolleg:innen ohne deren Wissen auf der Videoplattform Twitch streamt. Dritter Clou: Luana Velis schlittert in eine Krise, verlässt die Proben und kehrt bis zur Premiere nicht mehr zurück. Auf Twitch sieht man, wie sie in ihrer Wohnung herumlungert. Luana Velis stilisiert sich zur Rebellin, die vorgibt, das Nichtstun Oblomows als authentische Erfahrung erleben zu wollen. Daraufhin reist wiederum Luk Perceval wütend ab. All dies wird in bester Qualität gestreamt (Video: Krzysztof Honowski). Am Ende kehrt der Regisseur zurück und kündigt via Pressemeldung eine Premiere in ungewohnter Form an. Diese Vorgeschichte ist selbstverständlich nicht nur ein Fake, sondern zugleich Bestandteil der Produktion Oblomow revisited und geniales „Audience Development“ durch die Übertragung auf Twitch und dessen Live-Chat-Funktion.
Abgesicherte Existenzen
Der Theaterabend verkümmert dann allerdings eher zum ästhetischen Happening. Auf der Bühne des Depot 1 stehen ein Probensofa, ein paar Kerzenleuchter, ein ungenutzt bleibendes Harmonium sowie ein großer Screen, auf dem Luna Velis mit Federboa in ihrer Wohnung zu sehen ist (Bühne: Philipp Bussmann). Sie wird den ganzen Abend über stumm bleiben. Das Rest-Ensemble kommt mit Manuskripten auf die Bühne. Es wird viel darüber geklagt, was man hätte spielen können. Kristin Steffens Olga im roten Samtkleid schmettert kurz eine italienische Arie, Alexander Angeletta als Diener Sachar steigert sich in emphatische Wut hinein, während Justus Meier seine Rolle als Unternehmer Stolz gar nicht erst anspielt. Das Trio sinniert über die prinzipielle Unmöglichkeit des Nichtstuns auf der Bühne, während das Publikum zum Nichtstun verdammt sei. Das bedingungslose Grundeinkommen wird genauso andiskutiert wie der Zusammenhang von Arbeit und Anerkennung oder Ausbeutung und Totalausstieg aus produktiver wie reproduktiver Arbeit. Rhythmisiert werden die Szenen mittels Videoschnipseln aus der Vorgeschichte der Produktion – bis sich dann eine Bühnenwand öffnet und Luna Velis als stumme Oblomowa in ihrem nachgebauten Wohnzimmer hereingeschoben wird.
Dieser erste farcenhafte Bühnenteil wird ergänzt durch einen eingespielten Video-Dialog zwischen Velis und Regisseur Luk Perceval nach dessen angeblicher Rückkehr. Das Duo versichert sich des gegenseitigen Respekts, stimmt ein gemeinsames Lamento über den unerbittlichen Produktionsbetrieb Theater an und steigert sich in eine Sehnsucht nach rebellischem Tun – ganz so wie auch Oblomow sich in seine sozialrevolutionären Träume flüchtet. Der eine auf dem Sofa, die anderen im Schutzraum Theater. Und alle drei tun dies aus einer sozial abgesicherten Existenz heraus. Insofern kann man das Gesprächsvideo auch als Selbstkritik lesen. Oblomows postfeudales „Ich-möchte-lieber-nicht“ findet sein Äquivalent im folgenlosen Revoluzzergestus abgesicherter Mittelstands-Künstler:innen. Damit hätte der Abend enden können. Doch Luk Perceval schob noch ein düsteres und sich endlos dehnendes Video nach, das Luana Velis als Leuchtturmbesitzerin von Köln-Ehrenfeld zeigt, die mit angstvoll aufgerissenen Augen die Stufen ihres neuen Eigentums erklimmt, während ihre Ensemblekollegen sich live körperlich winden. Ein surreal-romantischer Traum zwischen Vergeblichkeit, Angst und Langeweile.
Oblomow revisited ist als Gesamtprojekt aus Probenprozess und Aufführung zu sehen, von dem nur Videos und Blog bleiben. Weitere Aufführungstermine sind nicht vorgesehen. Das macht eine Beurteilung der etwas zähen Premiere unter rein ästhetischen Gesichtspunkten nicht ganz fair. Oblomow revisited hat seine Verdienste eher als Experiment des digitalisierten Theaters, das dank Corona einen entscheidenden Schub erhielt. In Köln werden dabei Tendenzen zu einem Hybrid zwischen Happening, Bühne und Technologie sichtbar. Die Kommentarfunktion von Twitch ermöglichte zudem Formen der Partizipation und Teilhabe, die ein neues Publikum ansprechen könnten. 8.000 Zuschauer:innen sollen es in der Spitze gewesen sein. Nichtstun als Erfolgsstory.
Oblomow revisited Regie: Luk Perceval Schauspiel Köln
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