Nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags vor 56 Jahren haben Kanzlerin Merkel und Präsident Macron in dieser Woche den Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration – den „Aachener Vertrag“ – unterschrieben. Von einem „Élysée-Vertrag 2.0“ ist die Rede – in Anlehnung an das weiterhin gültige Abkommen von 1963, welches gern als Grundlage der europäischen Integration verklärt wird.
Der erste Élysée-Vertrag kam seinerzeit zustande als Ersatz für gescheiterte Verhandlungen über eine Europäische Union der sechs Staaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG. Vereinbart wurde damals, dass sich die Regierungen in Paris und Bonn vor wichtigen außenpolitischen Entschlüssen konsultieren. In Verteidigungsfragen sollte es eine Annäherung bei Strategie und Taktik geben, man wollte mehr Personalaustausch zwischen den Streitkräften und kollektive Rüstungsvorhaben angehen. Der Élysée-Vertrag wurde 1988 geändert, indem man bilaterale Räte für Verteidigung und Sicherheit, Finanzen und Wirtschaft wie Kultur schuf. Er gilt bis heute als Symbol deutsch-französischer Aussöhnung, ebenso als Instrument europäischer Politik. Wozu braucht es also ein zweites Abkommen?
Vertiefung des Élysée-Vertrags
Zunächst einmal soll der Aachener Vertrag das bilaterale Verhältnis auf eine neue Ebene heben. Auch ist er mit 28 Artikeln viel länger. Diese befassen sich mit Projekten, die von einem Investitionsprogramm für die Grenzregionen über gemeinsame Investitionsfonds für Start-ups bis zu gemeinsamen Forschungsprogrammen reichen. Es geht gleichsam darum, die Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik enger zu verzahnen. Mit anderen Worten, dieser Vertrag ist inhaltlich weiter gefasst. Dementsprechend beschreibt ihn die Bundesregierung als Ergänzung und Vertiefung der Zusammenarbeit. Das vereinte Europa soll stärker in die Lage versetzt werden, gemeinsam und eigenständig zu handeln. Wenn diese Option im Vordergrund steht, wäre allerdings zu fragen, warum im Vertrag der Beistand Frankreichs für einen ständigen deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat festgeschrieben wird. Ist damit nicht das Ziel eines gemeinsamen europäischen Sitzes obsolet geworden? Im Unterschied zum Élysée-Vertrag enthält der Aachener Vertrag eine Beistandsklausel für den Fall „eines bewaffneten Angriffs“ auf das Hoheitsgebiet eines der Vertragspartner, wobei ausdrücklich an militärische Hilfe gedacht ist. Offen lässt der Vertragstext in diesem Zusammenhang die Rolle französischer Nuklearwaffen.
Nicht neu ist hingegen das Ziel, die Lücke bei den militärischen Fähigkeiten zu schließen und dafür mehr zu investieren. Beide Länder haben bereits begonnen, die Militärausgaben zu erhöhen. Die Zusammenarbeit der Streitkräfte soll mit Blick sowohl auf eine gemeinsame Sicherheitskultur als auch auf Militäreinsätze intensiviert werden. Paris darf hoffen, dass Berlin künftig der interventionsfreudigeren französischen Politik folgt. Nur setzt gemeinsames Intervenieren voraus, die sicherheitspolitischen Ziele und Strategien einander anzunähern. Worauf hingearbeitet werden soll.
Den Weg ebnen könnte etwa die einander versprochene engere Kooperation zwischen den Verteidigungsindustrien beider Länder. Diesem Vorhaben stehen freilich viele Widerstände entgegen, ausgelöst durch die Sorge um Arbeitsplätze, unterschiedliche Anforderungen an die Waffensysteme und nationale Sicherheitsvorbehalte. Innovativ erscheint das Vorhaben, bei Projekten auch einen gemeinsamen Ansatz für den Rüstungsexport zu entwickeln. Was heißt das konkret angesichts der Tatsache, dass beide Staaten, nach den USA und Russland, bereits zu den größten Großwaffen-Exporteuren gehören?
Damit all diese Vorhaben nicht bloß auf dem Papier stehen, soll der deutsch-französische Verteidigungs- und Sicherheitsrat aufgewertet werden und künftig auf höchster Ebene als Steuerungsorgan dafür sorgen, dass diese Projekte tatsächlich stattfinden. Der Aachener Vertrag ist insofern mehr als ein bloßes Symbol der deutsch-französischen Freundschaft. Diente der Élysée-Vertrag der Aussöhnung zweier Völker, die in 75 Jahren dreimal Krieg gegeneinander geführt hatten, so kann man den neuen Vertrag als Signal des Aufbruchs deuten. Fragt sich nur: Aufbruch wohin?
Führt er zu mehr Interventionismus in Afrika und Nahost oder gar weltweit? Schließlich hat Frankreich als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates einen anderen Status als Deutschland. Es leitet daraus weltpolitische Verantwortung ab. Dieses Selbstbild als globaler Akteur basiert nicht zuletzt darauf, dass es über Territorien auf der ganzen Welt verfügt. Deutschlands strategischer Schwerpunkt liegt in Osteuropa. Gleichwohl bestreitet die Bundeswehr in Mali eine gefährliche Militärmission. Weist der Aachener Vertrag darauf hin, dass es nicht die letzte in Afrika sein wird?
Atomwaffen als Garant
Ein weiterer Unterschied zwischen Paris und Berlin liegt darin, dass Frankreich über eine Konzeption nationaler strategischer Autonomie verfügt. Es will seine Fähigkeit behalten, allein zu handeln. Deutschland hat diesen Anspruch nicht. Es setzt auf multilaterale Strukturen. Für den Einsatz der Bundeswehr bedarf es der vorherigen Zustimmung des Bundestages. Hier besteht die Gefahr, dass nun konservative Abgeordnete ihren Versuch wiederholen, den Parlamentsvorbehalt aufzuweichen. Schließlich wäre zu beachten, dass Frankreich Nuklearmacht ist. Kernwaffen gelten dort als Garant nationaler Sicherheit und Unabhängigkeit. Deutschland hat darauf verzichtet, über Massenvernichtungswaffen zu verfügen, was so bleiben sollte.
Der Aachener Vertrag wirft also einige Fragen auf. Paris will traditionell ein „europäisches Europa“. Berlin sieht das mittlerweile angesichts der Erfahrungen mit Brexit, Trump und Putin ähnlich. Beide wollen ein Zeichen setzen für mehr Europa. Die entscheidende Frage ist aber: Soll diese sicherheitspolitisch autonomere EU als Großmacht im klassischen Sinne handeln oder als Friedensmacht, die auf friedlichen Wandel und die Stärke des Rechts setzt?
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