Gegen das Trommeln

EU Soll Europa eine Großmacht unter deutscher Führung werden? Demokratie und Integration wären die ersten Opfer
Ausgabe 21/2019

Am 23. Mai 2019 haben wir die Gründung der Bundesrepublik Deutschland vor 70 Jahren gefeiert. Nach der totalen Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland im Zweiten Weltkrieg und der folgenden Herrschaft der Besatzungsmächte trat an diesem Tag das Grundgesetz in Kraft. Auf Veranlassung der drei Westalliierten wurde das Gebiet der westlichen Besatzungszonen staatlich neu organisiert. Deutschland war damit in zwei Teile geteilt, die deutsche Frage für die nächsten 41 Jahre geregelt.

Diese beinhaltet im Kern die Frage, wie das vereinte Deutschland in eine europäische Friedens- und Sicherheitsordnung eingebunden werden kann. Sie enthält eine machtpolitische und eine ideologische Komponente. Heute, da Donald Trump die NATO infrage stellt, die integrative Kraft der Europäischen Union schwindet, nationalistische Tendenzen zunehmen und Deutschland eine neue Führungsrolle in Europa übernehmen soll, stellt sich die „deutsche Frage“ erneut. Die Geschichte bietet drei Antworten an: Mächtekonzert, Hegemonie oder Integration.

Bismarck irrte

Das Konzert der Mächte im 19. Jahrhundert schuf zunächst ein funktionierendes Sicherheitssystem nach den Napoleonischen Kriegen, grundiert durch ein „Gleichgewicht der Mächte“ auf der internationalen und der Stärkung restaurativer Kräfte auf gesellschaftspolitischer Ebene. Dieses System dämmte nicht zuletzt die Eskalation der italienischen und deutschen Einigungskriege ein. Die Gründung des Deutsches Reiches 1871 erfolgte durch drei Kriege Preußens gegen Dänemark 1864, Österreich 1866 und Frankreich 1870/71 mit „Eisen und Blut“, so Reichskanzler Bismarck. Sie führte zu einer nachhaltigen Veränderung des machtpolitischen Gleichgewichts in Europa. Darum versicherte Bismarck, das Deutsche Reich sei eine saturierte Macht und strebe keine weiteren Gebietszuwächse an. Er sollte sich irren. Das Mächtekonzert konnte nicht verhindern, dass Nationalismus, Militarismus und Weltmachtstreben in den Ersten Weltkrieg führten. Die permanente Konkurrenz der Großmächte im europäischen Gleichgewichtssystem und die Verfolgung demokratischer Kräfte im Innern konnten weder dauerhafte Stabilität noch Frieden garantieren.

Schließlich führte das Scheitern der Weimarer Republik Anfang 1933 in den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg und zu dem Versuch, ganz Europa zu beherrschen. Deutsche Hegemonie sollte es ermöglichen, Europa politisch, militärisch, wirtschaftlich und ideologisch zu dominieren und auszubeuten. Das Prinzip, nach Überlegenheit zu streben und demokratische Freiheit durch eine Diktatur zu ersetzen, begünstigte diesen Vorsatz.

Es war die Erfahrung zweier Weltkriege, die den französischen Schriftsteller Franςois Mauriac in den 1950er Jahren zu dem Bonmot veranlasste, er liebe Deutschland so sehr, dass er froh sei, wenn es zwei davon gebe. Die Zweistaatlichkeit war der politischen Großwetterlage, vorrangig dem Kalten Krieg zu verdanken. Dessen Konfrontationslinie verlief mitten durch Europa, mitten durch Deutschland. Dementsprechend waren die beiden deutschen Staaten fest in die jeweiligen Bündnissysteme mit ihren unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Zielmarken integriert. Die von den USA und der Sowjetunion angeführte globale Sicherheitsordnung wurde geprägt durch zwei konventionell und nuklear hochgerüstete Bündnisse und das Gleichgewicht des Schreckens. Es hielt, da man sich durch die angedrohte nukleare Vernichtung gegenseitig zur Vernunft zwang. Es gab ein alles überlagerndes Axiom: keine thermonukleare Konfrontation.

Das Ende dieses Großkonflikts 1989/90 hatte viele Ursachen, etwa den kooperativen Sicherheitsansatz der beiden Supermächte und die Visionen von einem „gemeinsamen Haus“ Europa und eine von Vancouver bis Wladiwostok reichende Friedens- und Sicherheitsordnung. Von besonderer Wichtigkeit für die Bereitschaft der vier Siegermächte von 1945, ihre Verantwortung für Deutschland als Ganzes sowie Berlin wieder in deutsche Hände zu legen, waren zwei Aspekte: das Vertrauenskapital, das die demokratisch gefestigte Bundesrepublik zuvor durch ihre zurückhaltende und integrative Politik angesammelt hatte und die 1990 im Zwei-Plus-Vier-Vertrag zwischen der BRD und der DDR sowie den alliierten Siegermächten von 1945 eingegangenen Verpflichtungen: keine Gebietsansprüche, Verzicht auf Herstellung, Verfügung über und Besitz von ABC-Waffen sowie auf das Führen von Angriffskriegen, und keine Stationierung von Bündnisstreitkräften der NATO auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Zur Rückversicherung gehörte auch der Verbleib der um die DDR aufgestockten Bundesrepublik in der westlichen Allianz. Das wiedervereinte Deutschland in der Mitte Europas sah sich von Freunden umgeben und fern jeglicher direkten Bedrohung.

Ein Vierteljahrhundert nach Ende dieser Phase hat ein neuer Zeitabschnitt begonnen, der eher durch eine Mischung von Koexistenz und Konfrontation bestimmt wird. Kollektive Verteidigung und antagonistische Sicherheit dominieren den europäischen Sicherheitsdiskurs, die Bereitschaft zu kooperativer Sicherheit ist spürbar geschwunden. Es häufen sich Forderungen, Deutschland solle „mehr internationale Verantwortung“ übernehmen. Diese beschränkte sich früher auf die Teilnahme an Interventionen, denen Berlin meist nachkam, manchmal freilich auch nicht, wie im Fall des US-Feldzuges gegen den Irak im Frühjahr 2003 oder der Libyen-Intervention maßgeblicher NATO-Mächte im Jahr 2011. Heute soll Deutschland sowohl interventionsfähig sein als auch einen größeren Beitrag zur kollektiven Verteidigung leisten.

Die Forderung nach einem auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöhten Verteidigungshaushalt wird besonders von der Trump-Administration mit Nachdruck erhoben. Dass Deutschland dann ebenso viel für Militär ausgeben würde wie Russland und zur stärksten konventionellen Militärmacht in Europa aufsteigen würde, spielt entweder keine Rolle oder ist sogar erwünscht. Dabei wird unterschlagen oder ausgeblendet, dass die Bundesrepublik bereits die wirtschaftlich stärkste Macht in Europa ist. Oder es wird gerade daraus abgeleitet, dass deshalb viel höhere Rüstungsausgaben sehr wohl möglich seien. Es wird argumentiert, dass sich die Partner ein militärisch stärkeres und selbstbewusster auftretendes Deutschland wünschten – Berlin müsse auf diese Erwartungshaltung eingehen.

Dieser Teil der außenpolitischen Eliten unterliegt offenkundig der Arroganz der Macht, indem er davon ausgeht, dass mächtigere Staaten – und dazu gehört zweifellos Deutschland – eine besondere Verantwortung für andere Staaten hätten und ihnen darum eine Führungsrolle zukomme. Zu fragen wäre doch zunächst, wen Deutschland führen soll? „Der Westen“ war ein Produkt des Kalten Krieges und existiert nicht mehr. Die EU wiederum funktioniert nach dem Prinzip der Gleichheit aller Mitgliedstaaten. Die jüngsten Beispiele, mit denen Berlin Führungswillen gezeigt hat – bei der Erosion der Währungsunion wie in der Flüchtlingskrise –, sind in Europa kaum euphorisch begrüßt worden. Die deutsche Bevölkerung ist ebenfalls skeptisch: Nach einer Umfrage der Körber-Stiftung spricht sich eine Mehrheit dafür aus, dass Deutschland in außenpolitischen Krisen Zurückhaltung übt.

Zu Recht hat Deutschland in der Regel darauf geachtet, dass es im internationalen Verbund agiert und nationale Alleingänge vermeidet. Das sollte auch in Zukunft gelten. Darum muss eine Renationalisierung in Europa ebenso verhindert werden wie jegliches Großmachtstreben. Nach einer Umfrage des Pew-Instituts vom März 2019 verbindet eine große Mehrheit der Befragten aus zehn Staaten mit der EU die Förderung von Frieden, Demokratie und Wohlstand. Ob das auch so bliebe, wenn sich die EU zu einer klassischen Großmacht entwickeln würde, darf bezweifelt werden. Danach mag es momentan zwar nicht aussehen. Gerade darum trommelt aber ein Teil der außenpolitischen Elite umso stärker für den Aufbau einer Militärmacht Europa, die europäische Interessen in der Welt angeblich wirksam vertreten kann. Und was passiert, wenn nach der nächsten Weltwirtschaftskrise nationalistische und illiberale Kräfte noch mehr Zulauf erhalten?

Ihr Völker der Welt

Spätestens dann könnte sich wieder die „deutsche Frage“ stellen. Die Antwort darauf sollte auf keinen Fall in einer hegemonialen Führungsrolle Deutschlands liegen, so wohlwollend sie auch ausgelegt würde. Zum einen würde sich Berlin überheben, zum anderen wären Gegenkräfte auf den Plan gerufen. Auch ein neues Gleichgewichtssystem wäre instabil, weil es wechselnde Allianzen und Rüstungswettläufe begünstigt. Die Antwort auf die „deutsche Frage“ liegt in der Integration in ein demokratisches, soziales und rechtsstaatliches Europa gemäß Artikel 20 des Grundgesetzes. Voraussetzung ist allerdings, dass sich dieses Europa nicht als globale Groß- und Militärmacht entwickelt, sondern als glaubwürdige Kraft, die sich für den inneren und äußeren Frieden einsetzt. Deutschland sollte in die damit verbundenen Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die – so Artikel 24 des Grundgesetzes – „eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern“.

Hans-Georg Ehrhart ist Senior Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

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